Kapitel 2
Unser unmittelbar vor uns liegende Ziel
Worte Sri Aurobindos
Das Leben des menschlichen Geschöpfes ist so, wie es für gewöhnlich gelebt wird, zusammengesetzt aus einer Masse halbgefestigter, halbfließender, recht unvollkommen beherrschter Gedanken, Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Begehren, Vergnügungen und Taten. Diese sind zumeist gewohnheitsmäßig und wiederholen sich. Teils haben sie nur dynamischen Charakter und entfalten sich aus sich selbst, wobei alles um ein oberflächliches Ego zentriert ist. Die Summe der Abläufe dieser Aktivitäten führt schließlich zu einem inneren Wachstum, das zum Teil in diesem Leben sichtbar wird und sich hier auswirkt, zum Teil nur eine Saat für ein weiteres Fortschreiten in späteren Lebensabläufen ist. Der ganze Sinn und die Bedeutung der menschlichen Existenz liegt darin, dass das bewusste Wesen in uns wächst, sich ausweitet, sich immer besser zum Ausdruck bringt und harmonischer entfaltet. Der Mensch, das mentale Wesen, ist deshalb in den materiellen Körper eingetreten, damit er auf diese bedeutungsvolle Weise sein Bewusstsein durch Denken, Wollen, Fühlen, Begehren, Handeln und durch seine Erfahrung entwickelt; diese Evolution führt ihn am Ende dahin, dass er sein höchstes göttliches Selbst entdeckt. Alles Übrige muss entweder zu diesem Ziele verhelfen und ist ihm untergeordnet, oder es ist nur beiläufig und von nebensächlicher Bedeutung. Nur das ist für den Menschen wichtig, was die Evolution seiner Natur fördert und unterstützt und wodurch er sein Selbst und seinen Geist zum Wachsen bringt oder immer mehr entfaltet und entdeckt.
Unser Yoga hat keinen geringeren Zweck im Auge, als dass wir dieses erhabene Ziel unseres irdischen Daseins beschleunigt erreichen. Sein Verfahren lässt die gewöhnliche zögernde Methode des langsamen, verworrenen Wachsens durch die Evolution der Natur hinter sich. Denn die natürliche Evolution vollzieht sich bestenfalls als ein unsicheres Wachsen in der Verborgenheit, teils durch den Druck der Umwelt, teils durch eine tastende Erziehung und ein dürftig erleuchtetes absichtsvolles Bemühen. Dabei werden die günstigen Möglichkeiten zum Fortschritt nur in einer teilweise erleuchteten, teilweise halbautomatischen Weise unter vielen Irrtümern, Fehlern und Rückfällen verwendet. Ein großer Teil dieser Entwicklung besteht aus scheinbaren Zufälligkeiten, Nebenumständen und Wechselfällen, obgleich diese ein geheimes göttliches Eingreifen und Lenken verbergen. Im Yoga ersetzen wir diesen konfusen Krebsgang durch eine rasche, bewusste vom Selbst geleitete Evolution, die geplant ist und uns, soweit das sein kann, auf einer geraden Linie zu dem Ziel hinbringt, das wir uns gesetzt haben.
In gewissem Sinne mag es vielleicht irrig sein, wenn man beim Vorwärtsschreiten, das sehr wohl ein unendliches sein kann, von einem irgendwo gelegenen Ziele spricht. Wir können jedoch ein unmittelbar vor uns liegendes Ziel, einen Daseinszweck ins Auge fassen, der höher liegt als das, was wir bisher verwirklicht haben und wonach die Seele im Menschen streben kann. Da liegt vor ihm die Möglichkeit einer neuen Geburt; er kann so auf eine höhere und weitere Ebene des Seins emporsteigen, und diese kann in ihn herabkommen, um seine Organe und Funktionen umzuwandeln. Ein geweitetes erleuchtetes Bewusstsein ist erreichbar, das aus ihm einen befreiten Geist und eine vollendete Kraft machen kann. Wenn sich das über die Grenzen des individuellen Menschen hinaus ausbreitet, kann es sogar eine Menschheit von göttlicher Art zustande bringen oder auch eine neue, eine supramentale und darum suprahumane Menschenart. Diese neue Geburt machen wir zu unserem Ziel: Im Hineinwachsen in ein göttliches Bewusstsein liegt die ganze Bedeutung unseres Yoga, – eine integrale Verwandlung in das Göttliche nicht nur der Seele sondern aller Teile unseres Wesens.

Worte Sri Aurobindos
Unser Leben wird in seiner erfüllten Antwort
Oben die grenzenlosen verschwiegenen Seligkeiten finden,
Unten das Wunder der göttlichen Umarmung.
