Kapitel 2
Überleben nach dem Tode und Reinkarnation
Diese Auffassung der Person und Persönlichkeit, wenn sie akzeptiert wird, muss gleichzeitig unsere gängigen Ideen über die Unsterblichkeit der Seele modifizieren; denn normalerweise, wenn wir auf der unvergänglichen Existenz der Seele bestehen, ist das, was gemeint ist, das Überleben einer bestimmten, sich nicht verändernden Persönlichkeit nach dem Tod, die immer und in alle Ewigkeit die gleiche war und sein wird. Es ist dieses sehr unvollkommene und oberflächliche „Ich“ des Augenblicks, von der Natur offensichtlich als eine vorübergehende Form betrachtet und nicht wert erhalten zu werden, für die wir dieses erstaunliche Recht des Überlebens und der Unsterblichkeit fordern. Doch ist die Forderung extravagant und kann nicht anerkannt werden; das „Ich“ des Augenblicks kann das Überleben nur dann verdienen, wenn es zustimmt sich zu wandeln, nicht länger es selbst zu sein, sondern etwas anderes, Größeres, Besseres, leuchtender im Wissen, mehr nach dem Bildnis der ewigen Schönheit geformt, mehr und mehr zur Gottheit des geheimen Spirits hin fortschreitend. Es ist jener geheime Spirit oder die Gottheit des Selbstes in uns, die unvergänglich ist, da sie ungeboren und ewig ist. Die seelische Wesenheit in uns, ihr Stellvertreter, das spirituelle Individuum in uns, ist die Person, die wir sind; doch das „Ich“ dieses Augenblicks, das „Ich“ dieses Lebens, ist nur eine Formierung, eine zeitweilige Persönlichkeit dieser inneren Person: sie ist ein Schritt der vielen Schritte unserer evolutionären Wandlung, und dient ihrem wahren Zweck nur dann, wenn wir darüber hinausgelangen zu einem weiteren Schritt, der näher zu einer höheren Stufe des Bewusstseins und Wesens hinführt. Es ist die innere Person, die den Tod überlebt, so wie sie vor der Geburt existiert; denn dieses fortwährende Überleben ist eine Wiedergeburt der Ewigkeit unseres zeitlosen Spirits in den Begriffen der Zeit.
SRI AUROBINDO (19:820)

Du solltest einen weit verbreiteten Irrtum hinsichtlich der Reinkarnation vermeiden. Die allgemeine Vorstellung ist, dass Titus Balbus als John Smith wiedergeboren wird, als ein Mensch mit der gleichen Persönlichkeit, dem gleichen Charakter und den gleichen Fähigkeiten, die er in einem früheren Leben besaß, mit dem einzigen Unterschied, dass er Mantel und Hosen trägt statt einer Toga, und dass er Cockney-Englisch spricht statt des volkstümlichen Lateins. Das ist nicht der Fall. Es hätte nicht den geringsten Sinn, die gleiche Persönlichkeit oder den gleichen Charakter Millionen Male vom Anbeginn der Zeit bis an ihr Ende zu wiederholen. Die Seele tritt um der Erfahrung willen in die Geburt ein, um des Wachstums und der Entwicklung willen, bis sie das Göttliche in die Materie bringen kann. Es ist das zentrale Wesen, das sich inkarniert, nicht die äußere Persönlichkeit – die Persönlichkeit ist lediglich eine Form, die sich das zentrale Wesen in diesem einen Leben für seine Erfahrungen schafft. In einer anderen Geburt wird es sich eine andere Persönlichkeit schaffen, andere Fähigkeiten, ein Leben, das anders verläuft. Angenommen, Virgil würde wiedergeboren, dann könnte er sich durchaus in einem oder zwei weiteren Leben wieder der Poesie zuwenden, doch würde er vermutlich nicht wieder ein Epos schreiben, sondern eher eine leichte, doch elegante und schöne Lyrik, derart, wie er sie in Rom schreiben wollte, aber nicht dazu kam. In einem weiteren Leben würde er vielleicht überhaupt kein Dichter sein, sondern ein Philosoph oder ein Yogi, der die höchste Wahrheit zu erreichen und auszudrücken sucht, denn auch dies war ein unverwirklichter Zug seines Bewusstseins in jenem Leben. Und vielleicht ist er zuvor ein Krieger oder Herrscher gewesen und hatte Taten wie Aeneas oder Augustus vollbracht, die er später dann besungen hat. Und so weiter – auf die eine oder andere Weise entfaltet das zentrale Wesen einen neuen Charakter, eine neue Persönlichkeit, es wächst und entwickelt sich und geht durch alle Arten der Erderfahrung.
In dem Maße wie das sich entfaltende Wesen sich weiterentwickelt und reicher und komplizierter wird, sammelt es gleichsam Persönlichkeiten an. Manchmal verbergen sie sich hinter den aktiven Elementen und bringen etwas Farbe in diese, einen charakteristischen Zug, hie und da eine Fähigkeit –, oder aber sie befinden sich im Vordergrund, und es entsteht eine vielschichtige Persönlichkeit, ein vielseitiger Charakter oder ein vielseitiges, ja gleichsam universales Talent. Wenn aber eine frühere Persönlichkeit, eine frühere Fähigkeit voll in Erscheinung tritt, dann nicht deshalb, um das zu wiederholen, was bereits getan wurde, sondern um die gleiche Fähigkeit in neue Formen und Umrisse zu gießen und zu einer neuen Harmonie des Wesens zu verschmelzen, die nicht die Wiederholung dessen sein wird, was vorher war. Daher darfst du nicht erwarten, das zu sein, was der Krieger und Dichter waren. Einige der äußeren kennzeichnenden Eigenschaften mögen wiederkehren, jedoch in sehr veränderter Form und neuer Zusammenstellung. Die Energien werden in eine andere Richtung gelenkt, um das zu vollbringen, was vorher nicht vollbracht wurde.
Noch etwas anderes. Nicht die Persönlichkeit, sondern der Charakter ist bei der Wiedergeburt von vordringlicher Wichtigkeit – das seelische Wesen ist es, das hinter der Evolution der menschlichen Natur steht und sich mit ihr entfaltet. Die Seele, sobald sie sich vom Körper löst und das Mental und Vital auf dem Weg zu ihrem Ruheplatz zurücklässt, bewahrt den Kern der Erfahrung – nicht die physischen Ereignisse, nicht die vitalen Bewegungen, nicht den mentalen Aufbau, nicht die Fähigkeiten des Charakters, sondern etwas Wesentliches, das sie aus ihnen bezieht, etwas, das man das göttliche Element nennen könnte, um dessentwillen das übrige bestand. Und das ist die immerwährende Hinzufügung, durch die man dem Göttlichen entgegenwächst. Daher hat man auch meist keine Erinnerung an die äußeren Ereignisse und Umstände des vergangenen Lebens, die zwar in einer Art keimhaften Erinnerung vorhanden sind, gewöhnlich aber nicht in Erscheinung treten – für eine derartige Erinnerung hätte eine kraftvolle Entwicklung auf ein ununterbrochenes Fortbestehen des Mentals, Vitals und selbst des feinen Physischen stattfinden müssen. Das, was das göttliche Element in der harmonischen Geistigkeit und weitherzigen Vitalität des Dichters war, und das sich in ihnen ausdrückte, wird erhalten bleiben und in einer neuen Harmonie des Charakters einen neuen Ausdruck finden; oder aber es wird, wenn sich das Leben dem Göttlichen zuwendet, als eine Fähigkeit für die Verwirklichung oder die Arbeit, die für das Göttliche zu geschehen hat, in Erscheinung treten.
SRI AUROBINDO (22:451)
