Kapitel 2
Kunst und Yoga
Ist es für einen Yogi möglich, ein Künstler zu werden, oder kann ein Künstler ein Yogi sein? Welche Beziehung besteht zwischen Kunst und Yoga?
Die zwei sind nicht so entgegengesetzt, wie man glaubt. Es gibt nichts, was einen Yogi davon abhält, ein Künstler zu sein, oder einen Künstler, ein Yogi zu sein. Wenn du aber im Yoga bist, findet ein tiefgreifender Wandel im Wert der Dinge statt, in der Kunst wie in allem anderen. Du beginnst, die Kunst von einem ganz anderen Standpunkt aus zu betrachten. Sie ist für dich nicht mehr die eine höchste, ganz in Anspruch nehmende Angelegenheit, kein Selbstzweck mehr. Kunst ist ein Mittel, kein Ziel. Sie ist ein Ausdrucksmittel. Und der Künstler glaubt dann nicht mehr, dass sich die ganze Welt um das drehe, was er tut, oder dass sein Werk das Bedeutendste sei, das jemals geschaffen wurde. Seine Persönlichkeit zählt nicht länger. Er ist ein Vermittler, ein Kanal, seine Kunst ein Mittel, um seine Beziehungen zum Göttlichen auszudrücken. Er benutzt sie zu diesem Zweck, so wie er jedes andere Mittel hätte benutzen können, das Teil der Anlagen seiner Natur wäre.
Empfindet ein Künstler denn überhaupt irgendeinen schöpferischen Impuls, wenn er einmal mit dem Yoga beginnt?
Warum sollte er den Impuls nicht haben? Er kann seine Beziehung zum Göttlichen mit den Mitteln seiner Kunst ausdrücken, genauso wie er es mit allen anderen täte. Wenn du willst, dass Kunst die wahre und höchste Kunst sei, muss sie der Ausdruck einer göttlichen Welt sein, die in diese materielle Welt herabgebracht wurde. Alle wahren Künstler haben ein Gefühl dieser Art, ein Empfinden dafür, dass sie Mittler zwischen einer höheren Welt und diesem physischen Dasein sind. Wenn du es in diesem Lichte betrachtest, unterscheidet sich Kunst kaum vom Yoga. Meist hat der Künstler jedoch nur ein unbestimmtes Gefühl. Er besitzt nicht das Wissen. Dennoch kannte ich einige, die es besaßen. Sie arbeiteten bewusst mit dem Wissen an ihrer Kunst. In ihrem Schaffen stellten sie nicht ihre Persönlichkeit als den bedeutendsten Faktor in den Vordergrund, vielmehr betrachteten sie ihr Werk als eine Darbringung an das Göttliche. Sie versuchten dadurch ihre Beziehung zum Göttlichen auszudrücken.
Dies war die erklärte Funktion der Kunst im Mittelalter. Die „primitiven“ Maler, die Erbauer der Kathedralen im mittelalterlichen Europa hatten keine andere Kunstauffassung. In Indien entsprang die ganze Architektur, Skulptur und Malerei dieser Quelle und wurde durch dieses Ideal inspiriert. Die Gesänge Mirabais und die Musik Thyagarajas, die dichterische Literatur, die von den Verehrern, Heiligen und Rishis entwickelt wurde, zählt zu den bedeutendsten künstlerischen Besitztümern der Welt.
Verbessert sich denn aber das Werk eines Künstlers, wenn er Yoga praktiziert?
Die Disziplin der Kunst hat das gleiche zentrale Prinzip wie die Disziplin des Yoga. In beiden ist es das Ziel, immer bewusster zu werden. In beiden musst du lernen, etwas zu sehen und zu fühlen, das jenseits der alltäglichen Schau und Empfindung liegt, nach innen zu gehen und von dort tiefere Dinge nach außen zu bringen. Maler müssen eine Disziplin zum Wachstum des Bewusstseins ihrer Augen befolgen, die an sich fast ein Yoga ist. Wenn sie wahre Künstler sind und versuchen, hinter die Erscheinungen zu schauen und ihre Kunst zum Ausdruck der inneren Welt zu benutzen, wachsen sie durch diese Konzentration im Bewusstsein, das sich nicht von dem Bewusstsein unterscheidet, das durch Yoga vermittelt wird. Warum sollte daher yogisches Bewusstsein keine Hilfe beim künstlerischen Schaffen sein? Ich kannte einige Leute, die sehr wenig Übung und Geschicklichkeit besaßen und die doch durch Yoga eine bemerkenswerte Fähigkeit im Schreiben und Malen erlangten. Ich kann dir zwei Beispiele nennen. Das eine war ein Mädchen, das überhaupt keine Bildung besaß. Sie war Tänzerin und tanzte einigermaßen gut. Nachdem sie mit dem Yoga begonnen hatte, tanzte sie nur für Freunde, aber ihr Tanzen erreichte eine Ausdruckstiefe und Schönheit, die vorher nicht dagewesen war. Und obwohl sie ungebildet war, begann sie wunderbare Dinge zu schreiben, denn sie hatte Visionen und drückte sie in der schönsten Sprache aus. Es gab in ihrem Yoga jedoch ein Auf und Ab, und so schrieb sie wunderschön, wenn sie sich in einem guten Zustand befand, war sonst aber ziemlich langweilig, dumm und unschöpferisch. Der zweite Fall ist der eines Jungen, der Kunst studiert hatte, allerdings nur ein wenig. Als Sohn eines Diplomaten war er für die diplomatische Laufbahn ausgebildet worden, aber er lebte in Luxus, und seine Studien gingen nicht weit. Doch sobald er mit Yoga begann, fing er an, inspirierte Zeichnungen anzufertigen, die den Ausdruck eines inneren Wissens trugen und symbolischen Charakter besaßen. Schließlich wurde er ein großer Künstler.
Warum haben Künstler im Allgemeinen einen unbeständigen Lebenswandel und einen losen Charakter?
Wenn sie das haben, dann deshalb, weil sie gewöhnlich auf der vitalen Ebene leben und der vitale Teil in ihnen äußerst feinfühlig auf die Kräfte jener Welt reagiert und von ihr alle Arten von Eindrücken und Impulsen empfängt, über die sie keine kontrollierende Macht besitzen. Und oftmals sind sie auch sehr frei in ihrem Mental und glauben nicht an die kleinlichen sozialen Konventionen und Moralvorstellungen, die das Leben normaler Leute beherrschen. Sie fühlen sich nicht durch die gewohnheitsmäßigen Verhaltensregeln gebunden und haben noch kein inneres Gesetz gefunden, das sie ersetzen würde. Da es nichts gibt, was die Regungen ihres Begierden-Wesens kontrollieren könnte, führen sie leicht ein Leben der Freiheit oder Zügellosigkeit. Das geschieht jedoch nicht bei allen. Ich lebte zehn Jahre lang unter Künstlern und fand, dass viele von ihnen bürgerlich bis ins Innerste waren. Sie waren verheiratet und etabliert, gute Väter, gute Ehegatten, und sie lebten nach den strengsten moralischen Ideen über das, was man tun und lassen sollte.
Es gibt einen Fall, in dem der Yoga den schöpferischen Impuls des Künstlers beenden kann. Wenn sich der Ursprung seiner Kunst in der vitalen Welt befindet, wird er seine Inspiration verlieren, sobald er zu einem Yogi wird, oder vielmehr wird ihn die Quelle, aus der seine Inspiration gewöhnlich kam, nicht mehr inspirieren, denn dann erscheint die vitale Welt in ihrem wahren Licht. Sie nimmt ihren wahren Wert an, und jener Wert ist sehr relativ. Die meisten von denen, die sich Künstler nennen, beziehen ihre Inspiration nur aus der vitalen Welt, und sie enthält keine hohe oder große Bedeutung. Wenn sich jedoch ein wahrer Künstler, einer, der seine schöpferische Quelle in einer höheren Welt sucht, dem Yoga zuwendet, wird er bemerken, dass seine Inspiration direkter und machtvoller und sein Ausdruck klarer und tiefer werden. Bei jenen, die wirklichen Wert haben, wird die Macht des Yoga den Wert vergrößern, aber bei jemandem, der nur einen falschen Anschein von Kunst hat, wird auch jener Anschein von Kunst verschwinden oder aber seinen Reiz verlieren. Die erste einfache Wahrheit, auf welche die sich öffnende Schau bei jemandem trifft, der es ernst mit dem Yoga meint, ist diejenige, dass das, was er tut, etwas sehr Relatives ist im Vergleich mit der universalen Manifestation, der universalen Bewegung. Ein Künstler ist jedoch im Allgemeinen eitel und betrachtet sich als höchst wichtige Persönlichkeit, als eine Art Halbgott in der menschlichen Welt. Viele Künstler sagen, dass sie nicht in der Lage wären, ihr künstlerisches Werk zu vollbringen, wenn sie nicht daran glauben würden, dass ihr Tun höchste Bedeutung habe. Ich kannte jedoch einige, deren Inspiration aus einer höheren Welt kam und die dennoch nicht glaubten, dass das, was sie taten, eine solch gewaltige Bedeutung besäße. Das steht dem Geist wahrer Kunst näher. Wenn ein Mensch wirklich dazu geführt wird, sich in der Kunst auszudrücken, dann ist das der Weg, den das Göttliche gewählt hat, um sich in ihm zu manifestieren, und dann wird seine Kunst durch Yoga gewinnen und nicht verlieren. Aber da besteht die ganze Frage darin: Ist der Künstler vom Göttlichen ernannt oder selbsternannt?
Wenn aber jemand Yoga praktiziert, kann er sich zu solchen Höhen aufschwingen wie Shakespeare oder Shelley? Es hat kein solches Beispiel gegeben.
Warum nicht? Das Mahabharata und Ramayana sind sicherlich keinem von Shakespeare oder irgendeinem anderen Dichter geschaffenen Werk unterlegen, und man sagt, dass sie das Werk von Männern waren, die Rishis waren und yogische Tapasya betrieben hatten. Die Gita, die wie die Upanishaden gleichzeitig zu den größten literarischen und den größten spirituellen Werken zählt, wurde nicht von jemandem geschrieben, der keine Yoga-Erfahrung besaß. Und wo liegt die Minderwertigkeit gegenüber deinem Milton und Shelley bei den berühmten Gedichten, die, sei es in Indien, Persien oder sonstwo, von Menschen geschrieben wurden, die als Heilige, Sufis, Fromme bekannt waren? Und kennst du denn alle Yogis und ihr Werk? Kannst du sagen, wer unter den Dichtern und Schöpfern in bewusster Fühlung mit dem Göttlichen war und wer nicht? Es gibt einige, die offiziell keine Yogis sind. Sie sind keine Gurus und haben keine Schüler. Die Welt weiß nicht, was sie tun. Sie streben nicht nach Ruhm und ziehen die Aufmerksamkeit der Menschen nicht auf sich, aber sie haben das höhere Bewusstsein, sind mit einer Göttlichen Macht in Berührung, und wenn sie schöpferisch sind, so schaffen sie von dort aus. Die besten Gemälde in Indien und vieles von der besten Bildhauerei und Architektur wurden von buddhistischen Mönchen hergestellt, die ihr Leben in spiritueller Kontemplation und Übung verbrachten. Sie vollbrachten höchste künstlerische Werke, aber sie achteten nicht darauf, der Nachwelt ihre Namen zu überliefern. Der Hauptgrund, warum Yogis im Allgemeinen nicht durch ihre Kunst bekannt sind, ist, dass sie ihren Kunst-Ausdruck nicht als den wichtigsten Teil ihres Lebens betrachten und nicht so viel Zeit und Energie darauf verwenden wie ein reiner Künstler. Und das, was sie tun, erreicht nicht immer die Öffentlichkeit. Wie viele gibt es, die große Dinge vollbrachten und sie nicht für die Welt veröffentlichten!
Haben Yogis größere Dramen als Shakespeare geschrieben?
Drama ist nicht die höchste der Künste. Jemand hat gesagt, dass Drama größer als jede andere Kunst und dass Kunst größer als das Leben sei. Ganz so verhält es sich jedoch nicht. Der Fehler des Künstlers besteht darin, dass künstlerische Produktion etwas ist, das aus sich und für sich besteht, unabhängig von der übrigen Welt. Kunst, wie sie von diesen Künstlern verstanden wird, ist wie ein Pilz auf dem weiten Grund des Lebens, etwas Zufälliges und Äußerliches, nicht etwas dem Leben Vertrautes. Sie erreicht und berührt nicht die tiefen und bleibenden Realitäten, sie wird nicht zu einem innerlichen und unabtrennbaren Teil des Daseins. Wahre Kunst soll das Schöne ausdrücken, jedoch in enger Verbindung mit der universalen Bewegung. Die größten Nationen und die kultiviertesten Völker haben Kunst immer als einen Teil des Lebens betrachtet und sie dem Leben dienstbar gemacht. Kunst war so in Japan in seinen besten Momenten. Sie war so in allen herausragenden Momenten der Kunstgeschichte. Die meisten Künstler sind jedoch wie Parasiten, die am Rande des Lebens wachsen. Sie wissen scheinbar nicht, dass Kunst der Ausdruck des Göttlichen im Leben und durch das Leben sein sollte. In allem, überall, in allen Beziehungen muss die Wahrheit in ihrem allumfassenden Rhythmus in den Vordergrund gebracht werden, und jede Lebensregung sollte ein Ausdruck von Schönheit und Harmonie sein. Geschicklichkeit ist nicht Kunst; Talent ist nicht Kunst. Kunst ist eine lebendige Harmonie und Schönheit, die in allen Daseinsregungen ausgedrückt werden muss. Diese Manifestation von Schönheit und Harmonie ist Teil der Göttlichen Verwirklichung auf Erden, vielleicht sogar ihr größter Teil.
Vom supramentalen Standpunkt aus sind nämlich Schönheit und Harmonie ebenso wichtig wie jeder andere Ausdruck des Göttlichen. Sie sollten jedoch nicht isoliert, außerhalb aller übrigen Beziehungen, errichtet und aus dem Gesamten herausgenommen sein. Sie sollten mit dem Ausdruck des Lebens als Ganzem eins sein. Die Leute haben die Angewohnheit zu sagen: „Oh, er ist Künstler!“, als ob ein Künstler kein Mensch unter anderen Menschen sein sollte, sondern vielmehr ein außergewöhnliches Wesen sein müsse, das zu einer Klasse für sich gehöre, und als ob auch seine Kunst etwas Außergewöhnliches und Abgesondertes sein müsse, das nicht mit den anderen alltäglichen Dingen der Welt verwechselt werden dürfe. Die Maxime „Kunst um der Kunst willen“ versucht denselben Irrtum als eine Wahrheit einzuprägen und zu betonen. Es ist derselbe Fehler, wie wenn Menschen mitten in ihren Salons ein gerahmtes Bild aufhängen, das weder mit der Einrichtung noch mit den Wänden etwas zu tun hat, sondern nur deshalb dort hängt, weil es ein „Kunstobjekt“ ist.
Wahre Kunst ist ein Ganzes und Gesamtes, sie ist eins und aus einem Guss mit dem Leben. Du siehst etwas von dieser intimen Ganzheit im alten Griechenland und im alten Ägypten, denn dort wurden Bilder, Statuen und alle Kunstgegenstände als Teil des baulichen Planes eines Gebäudes hergestellt und angeordnet, jedes Detail als Teil des Gesamten. So verhält es sich auch in Japan, zumindest war es bis vor kurzem so, vor dem Eindringen eines utilitaristischen und praktischen Modernismus. Ein japanisches Haus ist ein wundervolles künstlerisches Ganzes. Immer befindet sich dort das rechte Ding am rechten Ort, nichts ist falsch platziert, nichts zuviel und nichts zuwenig. Alles ist gerade so, wie es sein sollte, und das Haus selbst verschmilzt herrlich mit der es umgebenden Natur. Auch in Indien waren Malerei, Skulptur und Architektur eine einzige integrale Schönheit, eine einzige Regung der Anbetung des Göttlichen.
Seit damals hat in diesem Sinne eine große Degeneration in der Welt stattgefunden. Seit der Zeit Victorias und seit dem zweiten Kaiserreich in Frankreich sind wir in eine Periode der Dekadenz eingetreten. Es hat sich die Gewohnheit eingebürgert, in Räumen Bilder aufzuhängen, die keine Bedeutung für die umgebenden Gegenstände besitzen. Jedes Bild, jeder Kunstgegenstand konnte nun überall hingestellt werden, und es würde kaum einen Unterschied machen. Kunst ist nun dazu bestimmt, Geschicklichkeit, Klugheit und Talent zu zeigen und nicht, einen integralen Ausdruck von Harmonie und Schönheit in einem Heim zu verkörpern.
Kürzlich gab es jedoch eine Revolte gegen diesen Abstieg im bürgerlichen Geschmack. Die Reaktion war so heftig, dass sie wie ein völliges Abirren aussah, und Kunst schien ins Absurde zu versinken. Langsam tauchte jedoch etwas aus dem Chaos auf, etwas Rationaleres, Logischeres, Zusammenhängenderes, dem man wieder den Namen „Kunst“ geben kann, eine erneuerte und vielleicht – oder hoffen wir es – eine regenerierte Kunst.
Kunst ist in ihrer grundlegenden Wahrheit nichts Geringeres als der Aspekt der Schönheit der Göttlichen Manifestation. Vielleicht wird man, wenn man es von diesem Standpunkt aus betrachtet, sehr wenig wahre Künstler finden. Dennoch gibt es einige, und diese können sehr wohl als Yogis angesehen werden. Denn wie ein Yogi versenkt sich ein Künstler in tiefe Kontemplation, um seine Inspiration zu erwarten und zu empfangen. Um etwas wahrhaft Schönes zu schaffen, muss er es zuerst innerlich sehen, es in seinem inneren Bewusstsein als Gesamtes realisieren. Nur wenn er es so innerlich gefunden, erblickt und festgehalten hat, kann er es äußerlich ausführen. Er ist seiner größeren inneren Schau entsprechend schöpferisch. Auch dies ist eine Art yogischer Disziplin, denn durch sie tritt er mit den inneren Welten in enge Verbindung. Ein Mann wie Leonardo da Vinci war ein Yogi und nichts anderes. Und er war, wenn nicht der größte, so doch einer der größten Maler – wenngleich seine Kunst nicht beim Malen aufhörte.