Kapitel 2

Karma

205. – Gott führt den Menschen, während der Mensch sich selbst nur irreführt, die höhere Natur überwacht das Straucheln seiner niederen Sterblichkeit; dies ist die Verwicklung und Widersprüchlichkeit, aus welcher wir in die Selbst-Einheit entkommen müssen, der allein ein klares Wissen und fehlerloses Wirken möglich ist.

206. – Dass du mit Geschöpfen Mitleid hast, ist gut, sofern du nicht Sklave deines Mitleids bist. Sei niemandes Sklave, außer Gottes – nicht einmal Seiner strahlendsten Engel.

207. – Glückseligkeit ist Gottes Ziel für die Menschheit; gewinne dies höchste Gut erst für dich selbst, damit du es ganz und gar an deine Mitgeschöpfe austeilen kannst.

208. – Wer nur für sich selbst erwirbt, erwirbt schlecht, möge er es auch Himmel oder Tugend nennen.

209. – In meiner Unwissenheit dachte ich, Zorn könne edel sein und Rache großartig; doch wenn ich jetzt Achilles in seiner epischen Raserei betrachte, so sehe ich ein ganz stattliches Baby in einer ganz stattlichen Wut, und es freut und belustigt mich.

210. – Macht ist edel, wenn sie den Zorn überragt; Zerstörung ist großartig, entwürdigt sich aber, wenn sie der Rache entspringt. Lass ab von diesen Dingen, denn sie gehören zu einer niederen Menschheit.

211. – Dichter machen viel Aufhebens vom Tod und von äußerem Trübsal; aber die einzigen Tragödien sind der Seele Versäumnisse, und das einzige Epos ist des Menschen glorreicher Aufstieg zur Gottheit.

212. – Die Tragödien des Herzens und des Körpers sind das Weinen von Kindern über ihre kleinen Sorgen und zerbrochenen Spielzeuge. Lächle bei dir selber, aber tröste die Kinder; nimm auch, wenn du kannst, an ihrem Spiel teil.

213. – „Da ist immer etwas Abnormes und Exzentrisches an genialen Menschen.“ Und warum nicht? Ist doch Genie selbst eine abnorme Geburt und außerhalb der normalen menschlichen Mittellage.

214. – Genie ist der erste Versuch der Natur, den gefangenen Gott aus ihrer menschlichen Gussform zu befreien; die Gussform hat bei diesem Vorgang zu leiden. Es ist erstaunlich, dass die Risse so wenig und unbedeutend sind.

215. – Die Natur gerät manchmal in Wut über ihren eigenen Widerstand, und dann beschädigt sie das Gehirn, um die Inspiration zu befreien; denn bei diesem Bemühen ist das Gleichgewicht des durchschnittlichen materiellen Gehirns ihr Hauptgegner. Setze dich über die Verrücktheit von solchen hinweg und ziehe Nutzen aus ihrer Inspiration.

216. – Wer kann Kali ertragen, wenn sie mit ihrer wilden Kraft und brennenden Gottheit in das Gefüge braust? Nur der Mensch, den Krishna schon besitzt.

217. – Hasse den Unterdrücker nicht; denn ist er stark, so mehrt dein Hass die Gewalt seines Widerstandes; ist er schwach, so war dein Hass überflüssig.

218. – Hass ist ein Schwert der Macht, aber stets ein zweischneidiges. Es ist wie die Kritya der alten Magier, die, entging ihr die Beute, sich wütend auf den Entsender zurückstürzte, um ihn zu verschlingen.

219. – Liebe Gott in deinem Gegner, auch wenn du ihn schlägst; so wird keinem die Hölle zuteil.

220. – Die Menschen reden von Feinden, wo aber sind sie? Ich sehe nur die Kämpfer auf der einen oder anderen Seite in der großen Arena des Weltalls.

221. – Der Heilige und der Engel sind nicht die einzigen Gottheiten; bewundere auch den Titanen und den Giganten.

222. – Die alten Schriften nennen die Titanen die älteren Götter. Das sind sie noch, und zudem ist kein Gott völlig göttlich, wenn er in sich nicht auch einen Titanen birgt.

223. – Wenn ich nicht Rama sein kann, so möchte ich Ravana sein; denn er ist die dunkle Seite von Vishnu.

224. – Opfere, opfere, opfere immer, aber um Gottes und der Menschheit willen, nicht um des Opfers willen.

225. – Eigennutz tötet die Seele, zerstöre ihn. Aber gib acht, dass dein Altruismus nicht die Seele anderer tötet.

226. – Im Allgemeinen ist Altruismus nur die sublimste Form von Eigennutz.

227. – Wer nicht töten will, wenn Gott es ihm gebietet, richtet in der Welt unabsehbare Verheerung an.

228. – Nimm Rücksicht auf menschliches Leben, solange du kannst; mehr Rücksicht aber nimm auf das Leben der Menschheit.

229. – Die Menschen töten aus unbezähmbarer Wut, aus Hass oder Rache; sie haben jetzt oder danach den Rückprall zu erleiden; oder sie töten kaltblütig aus Eigennutz; Gott wird ihnen nicht verzeihen. Wenn du tötest, so lass deine Seele erst den Tod als Wirklichkeit erkannt und Gott im Erschlagenen, im Schlag und im Schlagenden gesehen haben.

230. – Mut und Liebe sind die einzigen unentbehrlichen Tugenden; auch wenn alle anderen verdunkelt oder am Einschlafen sind, werden diese beiden die Seele am Leben erhalten.

231. – Gemeinheit und Eigennutz sind die einzigen Sünden, die ich schwer zu verzeihen finde; doch allein sie sind fast allgemein üblich. Darum dürfen wir auch diese in anderen nicht hassen, sondern müssen sie in uns selbst zunichte machen.

232. – Eine edle Gesinnung und Großzügigkeit sind der Seele ätherisches Firmament; ohne sie erblickt man ein Insekt in einem Kerker.

233. – Lass deine Tugenden nicht solche sein, die die Menschen loben und belohnen, sondern solche, die zu deiner Vervollkommnung beitragen und die Gott in deiner Natur von dir verlangt.

234. – Altruismus, Pflicht, Familie, Heimatland, Menschheit sind die Gefängnisse der Seele, wenn sie nicht ihre Werkzeuge sind.

235. – Unser Land ist Gott, die Mutter; sage nichts Schlechtes über sie, es sei denn, du kannst es mit Liebe und Zärtlichkeit tun.

236. – Menschen sind um ihres eigenen Vorteils willen treulos gegen ihr Heimatland, und dennoch wähnen sie weiterhin ein Recht zu haben, sich voll Abscheu vom Muttermord abzuwenden.

237. – Zerbrich die Formen der Vergangenheit, aber bewahre ihre Gewinne und ihren Geist; sonst hast du keine Zukunft.

238. – Revolutionen schlagen die Vergangenheit in Stücke und werfen sie in einen Tiegel; doch was dabei herauskommt, ist der alte Äson mit einem neuen Gesicht.

239. – Die Welt hat nur ein halbes Dutzend erfolgreiche Revolutionen gehabt, und selbst von diesen sahen die meisten sehr nach Fehlschlägen aus; doch durch große und edle Fehlschläge schreitet die Menschheit voran.

240. – Atheismus ist ein notwendiger Protest gegen die Verruchtheit der Kirchen und die Enge ihrer Glaubensbekenntnisse. Gott benutzt ihn als Stein, um diese besudelten Kartenhäuser umzuwerfen.

241. – Wie viel Hass und Stumpfsinn wissen die Menschen hübsch zu verpacken und mit der Aufschrift „Religion“ zu versehen!

242. – Gott führt am besten, wenn Er am schlimmsten in Versuchung führt, liebt ganz und gar, wenn Er grausam straft, hilft vollendet, wenn Er gewaltsam entgegentritt.

243. – Nähme Gott nicht die Last auf sich, die Menschen zu versuchen, so ginge die Welt recht bald ins Verderben.

244. – Lass dich innen ruhig in Versuchung führen, damit du in dem Kampf erschöpfest, was in dir nach unten zieht.

245. – Überlässt du es Gott dich zu läutern, so wird Er das Schlechte in dir subjektiv erschöpfen; bestehst du aber darauf, dich selbst zu führen, dann wirst du in viel äußere Sünde und Leid verfallen.

246. – Nenne nicht alles schlecht, was die Menschen schlecht nennen, sondern verwirf nur, was Gott verworfen hat; nenne nicht alles gut, was die Menschen gut nennen, sondern nimm nur an, was Gott angenommen hat.

247. – Die Menschen in der Welt haben zwei Lichter: Pflicht und Prinzipien; wer aber zu Gott übergegangen ist, ist über beide hinaus und hat sie durch Gottes Willen ersetzt. Schmähen dich die Menschen deswegen, so kümmere dich nicht darum, O göttliches Werkzeug, sondern gehe deinen Weg wie der Wind oder die Sonne, fördernd und zerstörend.

248. – Nicht Lob von den Menschen zu sammeln, hat Gott dich Sein eigen gemacht, sondern furchtlos nach Seinem Geheiß zu tun.

249. – Nimm die Welt als Gottes Theater; sei die Maske des Schauspielers und lass Ihn durch dich wirken. Zollen die Menschen dir Beifall oder pfeifen sie dich aus, so wisse, auch sie sind Masken und lass einzig Gott im Innern dein Kritiker und Publikum sein.

250. – Ist Krishna allein auf der einen Seite und die bewaffnete und organisierte Welt mit ihren Heerscharen, Granaten und Leitsprüchen auf der anderen, so ziehe dennoch deine göttliche Abgeschiedenheit vor. Mache dir nichts daraus, ob die Welt über deinen Körper hinwegschreitet, ihre Granaten dich in Stücke reißen und ihre Kavallerie deine Glieder am Wegrand zu formlosem Brei zertrampelt; denn das Mental war immer ein Scheinbild und der Körper ein Kadaver. Der aus seinen Gehäusen befreite Geist stürmt voran und triumphiert.

251. – Denkst du, Niederlage wäre dein Ende, so gehe nicht in den Kampf, auch wenn du der Stärkere bist. Denn das Schicksal lässt sich von keinem kaufen, und die Macht ist nicht an ihre Besitzer gebunden. Doch ist Niederlage nicht das Ende, sondern nur eine Pforte oder ein Anfang.

252. – Ich bin gescheitert, sagst du. Sage liebe, Gott kreist auf Sein Ziel zu.

253. – An der Welt gescheitert, machst du kehrt, um dich Gottes zu bemächtigen. Wenn die Welt stärker ist als du, hältst du dann Gott für schwächer? Wende dich lieber an Ihn, um Sein Geheiß zu empfangen und die Kraft, es zu erfüllen.

254. – Solange eine Sache auf ihrer Seite auch nur eine einzige Seele mit unerschütterlichem Glauben hat, kann sie nicht zugrunde gehen.

255. – Die Vernunft gibt mir keinen Grund zu diesem Glauben, wendest du ein. Narr! Täte sie es, so wäre von dir kein Glaube nötig oder gefordert.

256. – Glaube im Herzen ist die dunkle und oft verzerrte Spiegelung verborgenen Wissens. Der Gläubige wird oft mehr von Zweifeln geplagt als der eingefleischteste Skeptiker. Er beharrt, weil etwas Unterbewusstes in ihm weiß. Dies duldet sowohl seinen blinden Glauben wie seine dämmrigen Zweifel und drängt der Enthüllung dessen zu, was es kennt.

257. – Die Welt denkt, sie bewege sich im Lichte der Vernunft, tatsächlich aber wird sie von ihren Glauben und Instinkten getrieben.

258. – Die Vernunft passt sich dem Glauben an oder findet eine Rechtfertigung für die Instinkte, doch empfängt sie den Antrieb unterbewusst; und so meinen die Menschen, sie handeln vernünftig.

259. – Die einzige Aufgabe der Vernunft ist es, Wahrnehmungen zu ordnen und zu kritisieren. In sich selbst hat sie keinerlei Mittel zu positiver Schlussfolgerung noch irgendwelche Befehlsgewalt zum Handeln. Behauptet sie hervorzubringen oder zu veranlassen, so maskiert sie andere Wirkensgewalten.

260. – Bis Weisheit zu dir kommt, benutze Vernunft für ihre von Gott gegebenen Zwecke, und Glauben und Instinkte für die ihren. Warum solltest du deine Wesensteile sich bekriegen lassen?

261. – Erkenne und handle immer im Lichte deiner wachsenden Wahrnehmungen, aber nicht nur jener des erörternden Gehirns. Gott spricht zum Herzen, wenn das Gehirn Ihn nicht verstehen kann.

262. – Sagt dir dein Herz „Auf diese Weise und mit solchen Mitteln und zu der und der Zeit wird es geschehen“, so schenke ihm kein Glauben. Gibt es dir aber die Reinheit und Weite von Gottes Geheiß, so höre auf es.

263. – Hast du das Geheiß empfangen, so kümmere dich nur darum, es zu erfüllen. Das Übrige ist Gottes Wille und Anordnung, von den Menschen Zufall, Glück und Schicksal genannt.

264. – Hast du ein großes Ziel, doch kleine Mittel, so handle trotzdem; denn nur durch Handeln können sie dir wachsen.

265. – Kümmere dich nicht um Zeit und Erfolg. Tue das deinige, sei es zum Scheitern, sei es zum Gelingen.

266. – In dreierlei Form mag das Geheiß kommen: als Wille und Glaube in deiner Natur, als das Ideal, auf das Herz und Gehirn sich einigen, und als die Stimme von Ihm selbst oder Seinen Engeln.

267. – Es gibt Zeiten, wo Handeln unklug oder unmöglich ist; dann übe Tapasya in physischer Einsamkeit oder an Zufluchtsstätten deiner Seele und warte ein göttliches Wort oder irgendeine göttliche Kundgebung ab.

268. – Gehe nicht zu eifrig auf alle Stimmen ein, denn es lauern Geister darauf, dich zu täuschen; erst lass dein Herz rein sein, und nachher höre.

269. – Zuzeiten scheint Gott unnachgiebig auf Seiten der Vergangenheit zu stehen; dann sitzt, was war und ist, fest wie auf einem Thron und hüllt sich in ein unumstößliches „Ich werde sein“. Dann beharre, obwohl du den Meister von allem zu bekämpfen scheinst; denn dies ist Seine härteste Prüfung.

270. – Alles ist nicht erledigt, wenn eine Sache nach menschlichem Ermessen hoffnungslos verloren ist; erst dann ist alles aus, wenn die Seele ihre Bemühung aufgibt.

271. – Wer hohe spirituelle Grade erlangen will, muss endlose Proben und Prüfungen bestehen. Die meisten aber sind nur darauf bedacht, den Prüfer zu bestechen.

272. – Kämpfe, solange deine Hände frei sind, mit Händen und Stimme und Gehirn und aller Art Waffen. Bist du in des Feindes Kerker gekettet und zum Schweigen geknebelt? So kämpfe mit deiner schweigenden allbestürmenden Seele und deiner weitreichenden Willenskraft, und wenn du tot bist, dann kämpfe weiter mit der weltumgreifenden Kraft, die von Gott in dir ausging.

273. – Du hältst den Asketen in seiner Höhle oder auf seinem Berggipfel für einen Stein und Nichtstuer? Was weißt du denn? Vielleicht erfüllt er die Welt mit den mächtigen Strömen seines Willens und verändert sie durch den Druck seines Seelenzustandes.

274. – Was der Befreite auf seiner Seele Berggipfeln sieht, das zu verkünden und zu vollbringen tauchen in der stofflichen Welt Propheten und Helden auf.

275. – Die Theosophen haben mit ihren Sachverhalten zwar unrecht, recht aber im Kern. Hat die Französische Revolution stattgefunden, so darum, weil eine Seele auf dem indischen Schnee von Gott als Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit träumte.

276. – Alle Rede und Tat kommt vorbereitet aus dem ewigen Schweigen.

277. – In den Tiefen des Ozeans rührt sich nichts, doch oben ereignet sich das freudige Tosen und Toben seiner Jagd auf die Ufer zu; so verhält es sich mit der befreiten Seele inmitten gewaltigsten Wirkens. Die Seele handelt nicht; sie atmet einfach überwältigendes Wirken aus sich heraus.

278. – O Krieger und Held Gottes, wo gäbe es Kummer, Scham oder Leid für dich? Ist doch dein Leben eine Glorie, dein Werk eine Weihung, Sieg deine Verklärung, Niederlage dein Triumph.

279. – Erleiden deine niederen Wesensteile immer noch die Erschütterung von Sünde und Kummer? Oben jedoch, von dir gesehen oder ungesehen, sitzt deine Seele königlich, ruhig, sieghaft und frei. Glaube, über kurz oder lang hat die Mutter ihr Werk vollbracht und deines Wesens eigenste Erde in Freude und Reinheit gewandelt!

280. – Ist in dir das Herz verstört, machst du lange Zeit keinen Fortschritt, verzagt und klagt deine Stärke, so sei stets des ewigen Wortes unseres Geliebten und Meisters eingedenk: „Ich werde dich von aller Sünde und allem Übel befreien; sei nicht betrübt.“

281. – Reinheit ist in deiner Seele; Taten aber – wo ist ihre Reinheit oder Unreinheit?

282. – O Tod, unser maskierter Freund und Eröffner von Gelegenheiten, wenn du die Pforte auftun willst, so zögere nicht, es uns vorher zu sagen, denn wir gehören nicht zu denen, die sich vom eisernen Knarren erschüttern lassen.

283. – Der Tod ist manchmal ein unverschämter Diener; tauscht er einem jedoch dies Erdenkleid gegen jenes hellere Gewand, dann kann man ihm seinen Unfug und seine Frechheiten verzeihen.

284. – Wer soll dich töten, O unsterbliche Seele? Wer soll dich quälen, O immerfreudiger Gott?

285. – Möchten Wesensteile von dir sich in Niedergeschlagenheit und Schwäche verlieben, dann denke: „Ich bin Bacchus und Ares und Apollo; ich bin der reine und unbesiegbare Agni; ich bin der immer mächtig brennende Surya.“

286. – Scheue nicht vor dem dionysischen Jubel und Verzücken in dir zurück, aber gib acht, dass du kein Strohhalm auf diesen Wogen bist.

287. – Du musst lernen, alle Götter in dir zu ertragen und nie vor ihrem Ansturm zu taumeln oder unter ihrer Last zusammenbrechen.

288. – Die Menschheit ist der Kraft und Freude müde geworden und hat Leid und Schwäche Tugend genannt, ist des Wissens überdrüssig geworden und hat Unwissen Heiligkeit genannt, ist der Liebe satt geworden und hat Herzlosigkeit Aufgeklärtheit und Weisheit genannt.

289. – Es gibt viele Arten von Nachsichtigkeit. Ich sah einen Feigling dem, der ihn schlug, die Wange hinhalten; ich sah einen körperlichen Schwächling, der von einem starken und aufgeblähten Raufbold geprügelt wurde, den Angreifer ruhig und fest anblicken; ich sah Gott in einer Verkörperung voll Liebe jenen zulächeln, die ihn steinigten. Das erste war lächerlich, das zweite schrecklich, das dritte göttlich und heilig.

290. – Es ist edel, denen zu verzeihen, die dir übel mitspielen, dagegen nicht so edel, anderen angetanes Unrecht zu vergeben. Dennoch verzeihe auch dies – notfalls aber räche in aller Ruhe.

291. – Wenn Asiaten metzeln, ist es eine Gräueltat; wenn es Europäer tun, ein militärisches Erfordernis. Wisse den Unterschied zu würdigen und sinne über die Tugenden dieser Welt nach.

292. – Beobachte die allzu entrüsteten Gerechten. Bald findest du heraus, dass sie genau den Verstoß sich zuschulden kommen lassen oder rechtfertigen, den sie so heftig gerügt haben.

293. – „Es gibt bei den Menschen sehr wenig wirkliche Heuchelei.“ Das stimmt zwar, doch gibt es eine ganze Menge Diplomatie und noch mehr Selbstbetrug. Von letzterem gibt es drei Sorten: den bewussten, den unterbewussten und den halbbewussten; der dritte aber ist der gefährlichste.

294. – Lass dich weder von Tugendbekundungen der Menschen täuschen noch von ihren offenen oder geheimen Lastern anekeln. Dies sind die notwendigen Vermischungen während einer langen Übergangsperiode der Menschheit.

295. – Lass dich von den Unehrlichkeiten der Welt nicht abstoßen; die Welt ist eine verwundete und giftige Schlange, die sich einer ihr bestimmten Häutung und Vollendung entgegen windet. Warte ab, denn es ist eine göttliche Wette; aus dieser Niederträchtigkeit wird strahlend und triumphierend Gott hervorgehen.

296. – Warum schauderst du vor einer Maske zurück? Hinter ihrem widerlichen, grotesken oder schrecklichen Anschein lacht Krishna über deinen törichten Ärger, deine noch törichtere Verachtung oder Empörung und deinen aller-törichtesten Schrecken.

297. – Ertappst du dich dabei, einen anderen zu verachten, dann blicke auf dein eigenes Herz und lache über deine Torheit.

298. – Vermeide eitles Diskutieren; doch tausche zwanglos Ansichten aus. Musst du aber diskutieren, so lerne von deinem Gegner; denn hörst du nicht mit dem Ohr und dem urteilenden Verstand zu, sondern mit dem Licht der Seele, dann kannst du sogar von einem Narren viel Weisheit sammeln.

299. – Wandle alles in Honig; dies ist das Gesetz göttlichen Lebens.

300. – Persönlicher Streit sollte stets vermieden werden; vor der öffentlichen Auseinandersetzung aber scheue dich nicht; doch anerkenne auch da die Stärke deines Gegners und mache sie dir zu eigen.

301. – Hörst du eine Meinung, die dir missfällt, so untersuche sie und finde heraus, was Wahres an ihr ist.

302. – Die mittelalterlichen Asketen hassten die Frauen und dachten, Gott habe sie zur Verlockung der Mönche geschaffen. Es mag erlaubt sein, sowohl von Gott als auch von den Frauen eine bessere Meinung zu haben.

303. – Hat eine Frau dich verführt, ist es dann ihr Fehler oder deiner? Sei kein Narr und Selbstbetrüger.

304. – Es gibt zwei Arten, der Falle einer Frau zu entgehen; die erste ist, alle Frauen zu meiden, die andere, alle Wesen zu lieben.

305. – Askese ist zweifellos recht heilsam, eine Höhle sehr friedlich und die Berggipfel höchst angenehm; trotzdem handle in der Welt, wie Gott es für dich gewollt hat.

306. – Dreimal hat Gott über Shankara gelacht; zuerst, als er zurückkehrte, den Leichnam seiner Mutter zu verbrennen, dann, als er die Isha-Upanishad kommentierte, und schließlich, als er in Indien herumstürmte, Untätigkeit zu predigen.

307. – Die Menschen strengen sich nur an, um Erfolg zu haben, und begünstigt sie das Glück mit Misslingen, so daher, weil Weisheit und Kraft der Natur deren intellektuelle Klugheit überwältigen. Gott allein weiß, wie und wann weise zu straucheln und wirksam zu scheitern.

308. – Misstraue dem Mann, der nie gescheitert ist und nie gelitten hat; schließe dich ihm nicht an, kämpfe nicht unter seiner Fahne.

309. – Zwei sind untauglich für Größe und Freiheit; der Mensch, der nie eines anderen Knecht gewesen ist, und das Volk, das nie das Joch von Fremden getragen hat.

310. – Bestimme nicht, wann und wie das Ideal sich erfüllen soll. Arbeite, und überlasse das Wann und Wie dem allwissenden Gott.

311. – Arbeite, als müsste das Ideal schnell und zu deiner Lebenszeit erfüllt werden; beharre, als wüsstest du, dass es erst durch weitere tausend Jahre des Mühens erkauft werde. Was du nicht vor dem fünften Jahrtausend zu erwarten wagst, mag mit dem morgigen Tagesanbruch erblühen, und was du jetzt erhoffst und begehrst, mag dir für deine hundertste Wiederkunft bestimmt sein.

312. – Jeder von uns hat noch eine Millionen Leben auf Erden zu erfüllen. Warum also diese Eile, dieser Lärm und diese Ungeduld?

313. – Schreite tüchtig aus, denn dein Ziel ist fern; raste nicht unnötig, denn am Ende deiner Reise erwartet dich dein Meister.

314. – Ich bin der kindischen Ungeduld müde, die schreit und lästert und das Ideal leugnet, weil die Goldenen Berge nicht in unserem kurzen Tag oder ein paar augenblicklichen Jahrhunderten zu erreichen sind.

315. – Richte deine Seele ohne Begierde auf das Ziel und beharre dabei mit der göttlichen Kraft in dir; dann wird sich das Ziel selbst die Mittel schaffen, ja zu seinem eigenen Mittel werden. Denn das Ziel ist Brahman und bereits vollendet; sieh es immer als Brahman, sieh es immer in deiner Seele als bereits vollendet.

316. – Plane nicht mit dem Verstand, sondern lass deine göttliche Schau die Pläne für dich anordnen. Bietet sich dir ein Mittel als Sache an, die es zu tun gilt, so mache es zum vorläufigen Zweck; was aber das Ziel betrifft, so verwirklicht es sich in der Welt selbst und ist in deiner Seele bereits verwirklicht.

317. – Die Menschen sehen Ereignisse als etwas Unerfülltes, das es zu erstreben und zu bewirken gilt. Dies ist falsches Sehen; Ereignisse werden nicht bewirkt, sie entwickeln sich. Das Ergebnis ist Brahman, seit alters vollendet, sich jetzt offenbarend.

318. – Wie das Licht eines Sterns die Erde Hunderte von Jahren nach dessen Verschwinden erreicht, so offenbart sich das in Brahman schon zu Beginn vollendete Ereignis jetzt in unserer stofflichen Erfahrung.

319. – Regierungen, Gesellschaften, Könige, Polizisten, Richter, Institutionen, Kirchen, Gesetze, Zollbehörden und Armeen sind zeitweilige Notwendigkeiten, uns für ein paar Gruppen von Jahrhunderten auferlegt, weil Gott Sein Antlitz vor uns verborgen hat. Erscheint es uns wieder in seiner Wahrheit und Schönheit, dann werden sie in diesem Licht verschwinden.

320. – Anarchie ist der wahre göttliche Zustand des Menschen, am Ende wie am Anfang; zwischendrin aber würde sie uns stracks zum Teufel und seinem Reich führen.

321. – Das kommunistische Gesellschaftsprinzip steht grundsätzlich ebenso hoch über dem individualistischen wie Brüderlichkeit über Neid und gegenseitigem Gemetzel; aber alle in Europa ersonnenen praktischen Systeme von Sozialismus sind ein Joch, eine Tyrannei und ein Kerker.

322. – Setzt sich Kommunismus je wieder erfolgreich auf Erden durch, so muss es auf einer Grundlage seelischer Brüderlichkeit und des Todes der Ichsucht sein. Erzwungene Vereinigung und mechanisches Genossentum würde in einem weltweiten Fiasko enden.

323. – Verwirklichter Vedanta ist die einzige brauchbare Grundlage für eine kommunistische Gesellschaft. Dies ist das vom Christentum Islam und Puranischen Hinduismus erträumte Reich der Heiligen.

324. – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ riefen die französischen Revolutionäre aus; tatsächlich aber ist nur Freiheit mit einem Zuschuss von Gleichheit ausgeübt worden. Was die Brüderlichkeit betrifft, so ist nur eine Brüderlichkeit von Kain begründet worden – und von Barabbas. Manchmal nennt sie sich Trust oder Kartell und gelegentlich Europäisches Konzert.

325. – „Da Freiheit gescheitert ist“, ruft das fortgeschrittene Denken Europas aus, „lasst uns Freiheit plus Gleichheit versuchen oder, da die beiden recht schwer zu paaren sind, Gleichheit statt Freiheit. Brüderlichkeit ist sowieso unmöglich, darum ersetzen wir sie durch industriellen Zusammenschluss.“ Auch diesmal, denke ich, wird Gott sich nicht täuschen lassen.

326. – Indien hatte drei Festungen gemeinschaftlichen Lebens: die Dorfgemeinde, die Großfamilie und die Orden der Sannyasins; mit dem Vormarsch eigensüchtiger Vorstellungen von Gemeinschaftsleben sind sie alle zerbrochen oder am Zerbrechen; ist es aber nicht schließlich nur das Zerbrechen von unvollkommenen Formen auf dem Weg zu einem größeren und göttlicheren Kommunismus?

327. – Der Einzelne kann nicht vollkommen sein, bis er alles, was er jetzt sein Ich nennt, dem göttlichen Wesen überantwortet hat. Ebenso wird es nie eine vollkommene Gemeinschaft geben, bis die Menschheit alles, was sie hat, Gott schenkt.

328. – Nichts ist gering in Gottes Augen; lass auch in deinen nichts gering sein. Er wendet ebenso viel Arbeit göttlicher Energie an die Bildung einer Muschel wie an den Aufbau eines Reiches. Für dich selbst ist es größer, ein guter Schuster zu sein als ein prunkvoller und unfähiger König.

239. – Unvollkommenes Vermögen und Ergebnis in dem dir bestimmten Werk ist besser als künstliche Tüchtigkeit und geborgte Vollendung.

330. – Nicht das Ergebnis ist der Zweck des Handelns, sondern Gottes ewige Wonne im Werden, Sehen und Tun.

331. – Gottes Welt rückt Schritt um Schritt voran, indem sie das Kleinere bewältigt, bevor sie das Größere ernsthaft in Angriff nimmt. Gewährleiste erst die freie Nation, willst du je die Welt dazu bringen, eine einzige Nation zu sein.

332. – Eine Nation entsteht nicht durch gemeinsames Blut, gemeinsame Sprache oder gemeinsame Religion; dies sind nur wichtige Hilfen und mächtige Vorteile. Wo immer aber menschliche Gemeinschaften, durch keine Familienbande verpflichtet, geeint sind im gleichen Gefühl und Streben, ein gemeinsames Erbe ihrer Vorfahren zu verteidigen oder eine gemeinsame Zukunft für ihre Nachkommen zu gewährleisten, da ist eine Nation bereits vorhanden.

333. – Die Nation ist ein über die Stufe der Familie hinausführender Schritt des vorwärts strebenden Gottes; darum muss das Hängen an Sippe und Stamm nachlassen oder verschwinden, bevor eine Nation entstehen kann.

334. – Familie, Nation, Menschheit sind die drei Schritte Vishnus von vereinzelter zu gemeinschaftlicher Einheit. Der erste ist getan; um die Vollendung des zweiten mühen wir uns noch; nach dem dritten greifen wir aus, und Pionierarbeit daran ist bereits im Gange.

335. – Bei der gegenwärtigen Sittlichkeit des Menschengeschlechts ist eine zuverlässige und dauerhafte menschliche Einheit noch nicht möglich; aber es gibt keinen Grund, warum nicht eine vorläufige Annäherung der Lohn für unentwegte Sehnsucht und unermüdliche Anstrengung sein sollte. Durch ständige Annäherungen, unvollständige Umsetzungen und vorläufige Erfolge schreitet die Natur voran.

336. – Nachahmung ist manchmal ein gutes Übungsschiff, aber es wird nie die Admiralsflagge führen.

337. – Hänge dich lieber auf, als zu der Horde erfolgreicher Nachahmer zu gehören.

338. – Verwickelt ist der Weg der Werke in der Welt. Als Rama, der Avatar, den Affenkönig Vali umbrachte, oder Krishna, der Gott selbst war, seinen tyrannischen Onkel Kansa tötete, wer soll da sagen, ob sie gut oder schlecht handelten? Dies aber fühlen wir: sie handelten göttlich.

339. – Reaktionäre Gewalten vervollkommnen und beschleunigen den Fortschritt, indem sie die Kraft in ihm steigern und läutern. Dies kann die Menge der Schwachen nicht erkennen, die am Erreichen ihres Hafens verzweifelt, wenn das Schiff hilflos vor dem Sturmwind flieht – aber es flieht auf den hinter Regen und Wogen verborgenen Hafen zu, den Gott für es vorgesehen hat.

340. – Demokratie war der Protest der menschlichen Seele gegen die verbündete Gewaltherrschaft von Autokrat, Priester und Adligem; Sozialismus ist der Protest der menschlichen Seele gegen die Gewaltherrschaft einer plutokratischen Demokratie; Anarchismus wird wohl der Protest der menschlichen Seele gegen die Tyrannei eines bürokratischen Sozialismus sein. Ein stürmischer und eifriger Marsch von Illusion zu Illusion und von Scheitern zu Scheitern ist das Bild des europäischen Fortschritts.

341. – In Europa ist Demokratie die Herrschaft des Kabinettsministers, des korrupten Abgeordneten oder des selbstsüchtigen Kapitalisten, kaschiert von der gelegentlichen Hoheitsbezeugung eines schwankenden Volkswillens; Sozialismus in Europa wird wohl die Herrschaft des Beamten und des Polizisten sein, kaschiert von der theoretischen Hoheit eines abstrakten Staates. Es ist verstiegen, herausfinden zu wollen, welches System das bessere sei; es wäre schwer zu entscheiden, welches das schlechtere ist.

342. – Der Vorteil der Demokratie ist die Sicherheit des Lebens, der Freiheit und der Güter des Individuums vor den Launen des tyrannischen Einen oder der selbstsüchtigen Wenigen; das Schlechte an ihr ist der Niedergang von Größe in der Menschheit.

343. – Dies irrende Geschlecht von menschlichen Wesen träumt immer davon, die Lebensumstände durch die Maschinerie von Regierung und Gesellschaft zu perfektionieren; aber nur durch die Vervollkommnung der Seele im Innern können die äußeren Lebensumstände vervollkommnet werden. Was du im Innern bist, das wirst du außen genießen; keine Maschinerie kann dich vom Gesetz deines Wesens befreien.

344. – Sei stets auf der Hut vor deiner menschlichen Neigung, die Wirklichkeit anzufeinden oder zu übersehen, während du gerade ihren äußeren Anschein oder ihr Wahrzeichen anbetest. Nicht menschliche Arglist, sondern menschliche Fehlbarkeit ist des Bösen Gelegenheit.

345. – Ehre die Tracht des Asketen, aber schaue auch auf den Träger, dass nicht Heuchelei die heiligen Orte besetze und innere Heiligkeit zur Legende werde.

346. – Die Vielen erstreben Kompetenz oder Reichtum, die Wenigen umfangen die Armut als Braut; du aber, erstrebe und umfange einzig Gott. Lass Ihn für dich einen Königspalast oder eine Bettelschale wählen.

347. – Was ist Laster, wenn nicht eine knechtende Gewohnheit, und Tugend, wenn nicht eine menschliche Meinung? Sieh Gott und tue Seinen Willen; beschreite, welchen Pfad auch immer Er für deine Fahrten bahnt.

348. – In den Kämpfen der Welt ergreife nicht die Partei der Reichen wegen ihres Reichtums noch die der Armen wegen ihrer Armut, noch die des Königs wegen seiner Macht und Hoheit, noch die des Volkes wegen seiner Hoffnung und Inbrunst, sondern stehe immer auf Gottes Seite. Es sei denn, Er hätte dir befohlen, gegen Ihn zu streiten! Dann tue dies mit ganzem Herzen und all deiner Kraft und Begeisterung.

349. – Wie kann ich wissen, was Gott von mir will? Ich muss alle Ichsucht aus mir austreiben, sie aus jedem Schlupfwinkel und Bau verjagen und meine geläuterte und nackte Seele in Seinen unendlichen Werken baden; dann wird Er selbst mir Seinen Willen enthüllen.

350. – Allein die Seele, die nackt und ohne Scham ist, kann rein und unschuldig sein, so wie Adam im Urgarten der Menschheit.

351. – Prahle nicht mit deinem Reichtum noch suche der Menschen Lob für deine Armut und Selbstverleugnung; beides ist grobe oder feine Nahrung für die Ichsucht.

352. – Altruismus ist gut für den Menschen, doch weniger gut, wenn sie eine Form höchsten Selbstgenusses annimmt und davon lebt, dass sie die Eigensucht anderer hätschelt.

353. – Durch Altruismus kannst du deine Seele retten, aber gib acht, dass du dabei nicht die Seele deines Nächsten zugrunde richtest.

354. – Selbstverleugnung ist ein mächtiges Mittel zur Läuterung; es ist weder Selbstzweck noch ein endgültiges Lebensgesetz. Nicht dich zu kasteien, sondern Gott in der Welt zu beglücken sei dein Ziel.

355. – Das von Sünde und Laster begangene Böse ist leicht zu erkennen, aber das geübte Auge sieht auch das Böse, das selbstgerechte und mit sich selbst beschäftigte Tugend bewirkt hat.

356. – Der Brahmane herrschte einst mit Buch und Ritual, danach der Kshatriya mit Schwert und Schild; jetzt regiert uns der Vaishya mit Maschine und Dollar, und der Sudra, der befreite Knecht, dringt vor mit seiner Lehre von dem Reich der verbündeten Arbeiterschaft. Aber weder der Priester noch der König, noch der Händler, noch der Arbeiter ist der wahre Herrscher der Menschheit; die Tyrannei von Handwerkszeug und Ackergerät wird ebenso scheitern wie all die vorausgegangenen Tyranneien. Erst wenn der Egoismus stirbt und Gott im Menschen über seine eigene menschliche Allgemeinheit herrscht, kann diese Erde eine glückliche und zufriedene Rasse von Wesen tragen.

357. – Die Menschen laufen hinter dem Vergnügen her und ziehen jene heiße Braut fieberhaft an ihre gequälte Brust; derweil steht eine göttliche und makellose Seligkeit hinter ihnen und wartet darauf, erblickt, gefordert und genommen zu werden.

358. – Die Menschen jagen hinter kleinlichen Erfolgen und armseligen Meisterschaften her, von denen sie in Erschöpfung und Schwäche zurückfallen; derweil wartet die ganze unendliche Kraft Gottes im Weltall vergebens darauf, sich ihnen zur Verfügung zu stellen.

359. – Die Menschen buddeln nach kleinen Erkenntnisstücken und gruppieren sie in beschränkte und kurzlebige Gedankensysteme; derweil lacht über ihren Köpfen all die unendliche Weisheit und schüttelt weit die Glorie ihrer schillernden Schwingen aus.

360. – Die Menschen suchen mühselig das begrenzte, aus mentalen Eindrücken bestehende kleine Wesen zu befriedigen und zu vervollständigen, das sie um ein erbärmliches und kriechendes Ego herum angelegt haben; derweil bleibt der raumlosen und zeitlosen Seele ihre freudige und strahlende Offenbarung versagt.

361. – O Seele Indiens, verberge dich nicht länger bei den verdunkelten Pandits des Kaliyuga in Küche und Kapelle, verhülle dich nicht mehr mit dem seelenlosen Ritus, dem veralteten Gesetz und dem ungesegneten Opfergeld, sondern suche in deinem Wesen, verlange von Gott und gewinne mit dem ewigen Veda dein wahres Brahmanen- und Kshatriyatum wieder; erneuere die verborgene Wahrheit des vedischen Opfers und kehre zur Erfüllung eines älteren und machtvolleren Vedanta zurück.

362. – Beschränke dein Opfer nicht darauf, irdische Güter aufzugeben oder dir irgendwelche Wünsche und Sehnsüchte zu versagen, sondern lass jeden Gedanken, jedes Werk und jeden Genuss eine Darbringung an Gott in dir sein. Lass deine Schritte in deinem Herrn wandeln, deinen Schlaf und dein Wachen ein Opfer an Krishna sein.

363. – Dies ist nicht nach meinem Shastra oder meiner Wissenschaft, sagen die Männer von Recht und Regel, die Formalisten. Narr! Ist Gott denn nur ein Buch, dass es nichts Wahres und Gutes geben soll, außer was geschrieben steht?

364. – Woran soll ich mich halten, an das Wort, das Gott zu mir spricht: „Dies ist Mein Wille, O mein Knecht“, oder an die Regeln, welche Menschen geschrieben haben, die tot sind? Nein, wenn ich jemand fürchten und gehorchen soll, so will ich lieber Gott fürchten und gehorchen als Bücherseiten oder dem Stirngerunzel eines Pandits.

365. – „Du könntest dich irren“, wirst du sagen, „vielleicht ist es gar nicht Gottes Stimme, die dich führt?“ Dennoch weiß ich, dass Er nicht einmal jene preisgibt, die Ihm nur unwissend vertraut haben; dennoch habe ich gefunden, dass Er weise und liebend lenkt, auch wenn Er völlig irrezuführen scheint; dennoch würde ich lieber in die Schlinge des lebendigen Gottes fallen als vom Glauben an toten Formelkram gerettet werden.

366. – Handle lieber nach dem Shastra als aus Eigenwillen und Begehren, so wirst du stärker im Kontrollieren des Räubers in dir; doch handle lieber nach Gott als nach dem Shastra, so wirst du Sein Höchstes erlangen, das weit über Regel und Beschränkung steht.

367. – Das Gesetz ist für die Gebundenen und die, deren Augen versiegelt sind – richten sie sich nicht danach, so straucheln sie; du aber, der du frei bist in Krishna oder sein lebendiges Licht gesehen hast, wandle an der Hand deines Freundes und im Leuchten des ewigen Veda.

368. – Der Vedanta ist Gottes Lampe, dich aus dieser Nacht der Gefangenschaft und Ichsucht hinauszuführen; wenn aber das Licht des Veda in deiner Seele gedämmert hat, brauchst du nicht einmal jene göttliche Lampe, denn du kannst frei und sicher in einem hohen und ewigen Sonnenschein gehen.

369. – Was nützt es, nur zu wissen? Ich sage dir: „Handle und sei“, denn dazu sandte dich Gott in diesen menschlichen Körper.

370. – Was nützt es, nur zu sein? Ich sage dir: „Werde,“ denn dazu wurdest du als Mensch in diese Welt der Materie hineingesetzt.

371. – Der Weg der Werke ist in gewissem Sinne die schwierigste Seite von Gottes dreifältiger Straße; ist er aber nicht auch, wenigstens in dieser stofflichen Welt, der leichteste, weiteste und entzückendste? Denn in jedem Augenblick stoßen wir mit Gott, dem Arbeiter, zusammen und wachsen in Sein Wesen durch tausend göttliche Berührungen.

372. – Dies ist das Wunderbare am Weg der Werke, dass sogar Feindschaft gegen Gott zu einem Mittel der Erlösung gemacht werden kann. Manchmal zieht und bindet uns Gott am schnellsten an Sich, indem er mit uns ringt als unser grimmiger, unüberwindbarer und unversöhnlicher Widersacher.

373. – Soll ich den Tod annehmen, oder soll ich mit ihm ringen und siegen? Das sei, wie Gott in mir entscheidet. Denn ob ich lebe oder sterbe, ich bin immer.

374. – Was ist das denn, was du Tod nennst? Kann Gott sterben? O du, der den Tod fürchtet, zu dir ist das Leben gekommen, mit einem Totenkopf spielend und eine Schreckensmaske tragend.

375. – Es gibt ein Mittel, körperliche Unsterblichkeit zu erlangen, so dass Tod in unserer Wahl und nicht mehr unter dem Zwang der Natur steht. Wem aber läge daran, einen Mantel hundert Jahre lang zu tragen oder in einer engen und unveränderlichen Wohnung eine lange Ewigkeit zu hausen?

376. – Furcht und Angst sind entstellte Formen des Willens. Was du fürchtest und bebrütest, indem du diesen Ton im Mental immer wieder anschlägst, dem hilfst du zu geschehen; denn stößt auch dein Wille, soweit er sich über die Oberfläche des Wachseins erhebt, es zurück, so ist es doch gerade das, was dein Mental darunter beständig will, und das unterbewusste Mental ist mächtiger, weiter und besser ausgerüstet, etwas zustande zu bringen, als deine wache Kraft und dein Verstand. Der spirituellen Geist aber ist stärker als beide zusammen; vor der Furcht und der Hoffnung nimm deine Zuflucht in der großartigen Ruhe und sorglosen Meisterschaft des spirituellen Geistes.

377. – Gott schuf die unendliche Welt durch Selbsterkenntnis, die in ihren Werken selbstvollziehende Willenskraft ist. Er benutzte Unwissenheit, um Seine Unendlichkeit zu beschränken; aber Furcht, Überdruss, Niedergeschlagenheit, Selbstzweifel und Einverständnis mit Schwäche sind die Werkzeuge, mit denen Er das Geschaffene zerstört. Werden diese gegen das gerichtet, was in dir böse oder schlimm und schädlich ist, so ist es recht; greifen sie aber die Quellen deines Lebens und deiner Stärke an, so packe und vertreibe sie, oder du stirbst.

378. – Die Menschheit hat zwei machtvolle Waffen benutzt, um ihre eigenen Kräfte und Freuden zu zerstören: falsches Schwelgen und falsche Enthaltsamkeit.

379. – Es ist unser Fehler gewesen und ist es immer, als Heilmittel uns von den Übeln des Heidentums zur Askese zu flüchten, und von den Übeln der Askese zum Heidentum zurück. Wir pendeln immerfort zwischen zwei falschen Gegensätzen.

380. – Es ist gut, beim Spielen nicht zu ausgelassen heiter und im Leben und bei der Arbeit nicht zu grimmig ernst zu sein. Wir suchen in beidem sowohl heitere Freiheit als auch ernste Ordnung.

381. – Fast vierzig Jahre lang glaubte ich ihnen, als sie sagten, ich sei von schwacher Konstitution; ich litt beständig an leichteren oder schwereren Krankheiten und missverstand diesen Fluch als eine mir von der Natur auferlegte Bürde. Als ich auf die Hilfe von Arzneimitteln verzichtete, begannen jene wie enttäuschte Schmarotzer von mir abzulassen. Dann erst begriff ich, was für eine mächtige Kraft die natürliche Gesundheit in mir ist, und wie viel mächtiger noch der das Mental übersteigende Wille und Glaube, den Gott als die göttliche Stütze für unser Leben in diesem Körper gemeint hat.

382. – Maschinerie ist für die moderne Menschheit nötig wegen unserer unheilbaren Barbarei. Wenn wir uns in eine verwirrende Vielfalt von Bequemlichkeiten und Vorrichtungen einschließen müssen, so haben wir wohl oder übel ohne die Kunst und ihre Verfahren auszukommen; denn Einfachheit und Freiheit aufgeben heißt Schönheit aufgeben. Die Üppigkeit unserer Vorfahren war reich und sogar prachtvoll, aber nie überladen.

383. – Ich kann den barbarischen Komfort und das überladene Gepränge des europäischen Lebens nicht Zivilisation nennen. Menschen, die in ihrer Seele nicht frei sind und in ihrer Ausstattung nicht edel ausgewogen, sind nicht zivilisiert.

384. – In modernen Zeiten und unter europäischem Einfluss ist Kunst ein Auswuchs des Lebens oder ein überflüssiger Lakai geworden; sie hätte sein Hauptverwalter und unerlässlicher Ordner sein sollen.

385. – Krankheit wird unnötig verlängert und endet öfter als unvermeidlich mit dem Tod, weil das Mental des Patienten bei der Beschwerde seines Körpers verweilt und sie damit unterstützt.

386. – Die medizinische Wissenschaft ist eher ein Fluch als ein Segen für die Menschheit gewesen. Sie hat zwar die Macht von Epidemien gebrochen und eine wunderbare Chirurgie entwickelt, aber auch die natürliche Gesundheit des Menschen geschwächt und individuelle Krankheiten vermehrt; sie hat in Mental und Körper Furcht und Abhängigkeit eingepflanzt und unserer Gesundheit beigebracht, nicht auf natürlichem Wohlsein zu beruhen, sondern sich auf eine wackelige und widerwärtige Krücke zu stützen, die aus dem Tier- und Pflanzenreich zusammengesetzt ist.

387. – Der Arzt zielt mit der Medizin auf eine Krankheit; manchmal trifft sie, manchmal nicht. Die Fehlschüsse lässt man außer Betracht, die Treffer werden gesammelt, berechnet und in ein wissenschaftliches System gebracht.

388. – Wir lachen über den Wilden wegen seines Glaubens an den Medizinmann; warum aber wären die Zivilisierten weniger abergläubisch, die an die Ärzte glauben? Der Wilde findet, dass er oft von einer bestimmten Krankheit genest, wenn eine gewisse Beschwörung wiederholt wird: er glaubt. Der zivilisierte Patient findet, dass er oft von einer bestimmten Krankheit genest, wenn er nach einem gewissen Rezept etwas einnimmt: er glaubt. Wo ist da der Unterschied?

389. – Der vom Fieber befallene nordindische Hirte setzt sich für eine Stunde oder mehr in die kalte Strömung eines Flusses und erhebt sich gesund und frei. Täte der zivilisierte Mensch dasselbe, so ginge er zugrunde, nicht weil dieselbe Medizin naturgemäß den einen töten und den anderen heilen würde, sondern weil unser Mental dem Körper verderblich falsche Gewohnheiten beigebracht hat.

390. – Was heilt, ist nicht so sehr die Medizin als der Glaube des Patienten an Arzt und Medizin. Beide sind ein plumper Ersatz für den natürlichen Glauben an das eigene Vermögen, den sie zerstört haben.

391. – Die gesündesten Zeitalter der Menschheit waren jene, in denen es am wenigsten stoffliche Heilmittel gab.

392. – Die robusteste und gesündeste auf der Erde noch übrig gebliebene Rasse sind die afrikanischen Eingeborenen; wie lange aber können sie noch so bleiben, nachdem ihr physisches Bewusstsein von den mentalen Abirrungen der Zivilisierten angesteckt worden ist?

393. – Wir sollten die göttliche Gesundheit in uns benutzen, um Krankheiten zu heilen und zu verhüten; aber Galen und Hippokrates und ihre Zunft haben uns stattdessen ein Arsenal von Arzneien und ein barbarisches Latain-Hokuspokus als körperliches Evangelium gegeben.

394. – Die medizinische Wissenschaft meint es gut und ihre Praktiker sind oft wohlwollende und nicht selten aufopfernde Leute; wann aber hatte das gute Meinen je Unwissende am Schaden anrichten gehindert?

395. – Wären alle Arzneien tatsächlich und aus sich selbst wirksam und alle medizinischen Theorien einwandfrei, könnte das uns über den Verlust der natürlichen Gesundheit und Vitalität hinwegtrösten? Der Upasbaum ist einwandfrei in allen Teilen, aber er ist doch ein Upasbaum.

396. – Der spirituelle Geist in uns ist der einzige allwirksame Arzt, und sich ihm zu unterwerfen ist für den Körper das einzig wahre Allheilmittel.

397. – Gott im Innern ist unendlicher und selbstvollbringender Wille. Kannst du Ihm deine Leiden überlassen, unberührt von Todesfurcht, und zwar nicht als Experiment, sondern völlig ruhig und voller Glauben? Du wirst finden, dass Er schließlich das Können von Millionen Ärzten übertrifft.

398. – Gesundheit, von zwanzigtausend Maßregeln beschützt, ist des Arztes Evangelium; aber es ist nicht Gottes Evangelium für den Körper, und auch nicht das der Natur.

399. – Der Mensch war einst von Natur aus gesund und könnte in jenen Urzustand zurückkehren, wenn man ihn ließe; aber die Medizinische Wissenschaft verfolgt unseren Körper mit einem unzählbaren Rudel von Arzneien und bestürmt unsere Vorstellungsgabe mit räuberischen Mikrobenhorden.

400. – Ich würde lieber sterben und damit fertig sein als mich mein Leben lang gegen eine geisterhafte Mikrobenbelagerung verteidigen. Ist das barbarisch und unaufgeklärt, so nehme ich gerne meine kimmerische Finsternis an.

401. – Chirurgen retten und heilen durch Schneiden und Verstümmeln. Warum nicht lieber versuchen, die unmittelbaren allmächtigen Heilmittel der Natur zu entdecken?

402. – Selbstheilung wird lange brauchen, um die Medizin abzulösen, weil Furcht, Mangel an Selbstvertrauen und unnatürliche Abhängigkeit von Mitteln, welche die Medizinische Wissenschaft unserem Mental und Körper beigebracht hat, uns zur zweiten Natur geworden sind.

403. – Medizin ist für unseren kränklichen Körper nur deshalb nötig, weil er die Kunst gelernt hat, nicht ohne Medizin auszukommen. Aber auch so sieht man oft, dass der Augenblick, den die Natur für die Genesung wählt, gerade jener ist, wo das Leben von den Ärzten als hoffnungslos aufgegeben wird.

404. – Verlust des Vertrauens an die Heilkraft im Innern war unser körperlicher Fall aus dem Paradies. Medizinische Wissenschaft und schlechtes Erbe sind die beiden Engel Gottes, die am Tor stehen, um uns Rückkehr und Eintritt zu verwehren.

405. – Medizinische Wissenschaft ist für den menschlichen Körper wie eine Großmacht, die ein kleineres Land durch ihren Schutz entkräftet, oder wie ein wohlmeinender Räuber, der sein Opfer niederschlägt und ihm Wunden beibringt, um dann sein Leben der Heilung und dem Dienst am zerschmetterten Körper zu weihen.

406. – Arzneien heilen den Körper oft, wenn sie ihn nicht bloß plagen oder vergiften, sofern ihr physischer Angriff auf die Krankheit von der Kraft des spirituellen Geistes unterstützt wird; gelingt es, diese Kraft frei wirken zu lassen, so sind Arzneien alsbald überflüssig.