Kapitel 2

Die involvierte und evolvierende Gottheit

Die Involution eines überbewussten Geistes in die nichtbewusste Materie ist der geheime Grund für diese sichtbare und augenscheinliche Welt. Das Schlüsselwort des Erdenrätsels ist die schrittweise Evolution einer verborgenen grenzenlosen Bewusstheit und Macht aus der scheinbar trägen, jedoch unbändig getriebenen Kraft der empfindungslosen Natur. Das Erdenleben ist die auserwählte Heimstatt einer mächtigen Gottheit, deren Wille seit Äonen darauf gerichtet ist, es aus einem finsteren Gefängnis in ein prächtiges Schloss und einen hoch zum Himmel strebenden Tempel zu verwandeln.

Die Natur dieser Gottheit in der Welt ist zwar dem Mental ein Rätsel, für unser sich ausweitendes Bewusstsein aber wird sie zu einer einleuchtenden und unausweichlichen Gegenwart. Sind wir erst frei, werden wir in die Unwandelbarkeit eines ewigen Daseins eintreten, das sich in diese offenbarende Vielfalt bedeutungsvoller, wandelbarer Formen kleidet. Sind wir erst erleuchtet, werden wir des unteilbaren Lichts eines unendlichen Bewusstseins gewahr, das hier in vielgestaltigen Gruppierungen und Einzelheiten der Erkenntnis hervorbricht. Sind wir erst geläutert im Gebrauch der Macht, werden wir an der grenzenlosen Bewegung einer allgewaltigen Kraft teilhaben, die ihre Wunder in selbstauferlegten Schranken vollbringt. Sind wir erst fest in sorgloser Seligkeit verankert, werden uns der Friede und die Ekstase eines unermesslichen Entzückens gehören, eines Entzückens, das auf ewig die unterschiedlichsten Wogen und Rhythmen, die ständig wachsenden, nach außen wie nach innen drängenden Intensitäten seiner Seligkeit hervorbringt, einer schöpferischen und sich übertragenden Seligkeit, die sowohl die Welt als auch das Selbst besitzt. Da wir im Inneren Seelen dieses Geistes sind, wird dies die Natur unserer vierfachen Erfahrung sein, wenn die evolvierende Gottheit hier unverhüllt in Erscheinung treten wird.

Wäre diese vollständige Manifestation bereits zu Beginn Wirklichkeit gewesen, gäbe es kein irdisches Problem, keine Wachstumsschmerzen, kein vereiteltes Suchen des Mentals, des Willens, des Lebens und des Körpers nach Wissen, Kraft, Freude und unsterblicher Dauer. Doch diese Gottheit – ob nun in unserem Inneren oder außerhalb in Gegenständen, Kräften und Geschöpfen – nahm ihren Anfang in einer Involution in die Nichtbewusstheit der Natur und begann mit der Manifestation ihrer scheinbaren Gegensätze. Der Geist in der Materie hat sich dafür entschieden, seine Macht, sein Licht, seine Unendlichkeit und seine Seligkeit aus einer unermesslichen kosmischen Nichtbewusstheit, Trägheit und Empfindungslosigkeit heraus zu entfalten, einer anfänglichen Verkleidung, die an Nichtsein grenzt, und sie allmählich wie aus einem widerstrebenden und nur langsam nachgebenden Material herauszuarbeiten.

Die Bedeutung der irdischen Evolution liegt in dieser allmählichen Befreiung eines latenten, der Natur innewohnenden Geistes. Der Kernpunkt ihres Geheimnisses ist das beschwerliche in Erscheinung Treten, das zögernde Werden eines göttlichen Etwas oder Jemand, das oder der bereits in der physischen Natur involviert ist. Der Geist ist mit all seinen potenziellen Kräften in einer ersten geformten Grundlage seiner eigenen formbaren, zugleich aber auch widerstrebenden Substanz zugegen. Seine größeren, später und mit Bedacht in Erscheinung tretenden Ausdrucksweisen – Leben, Mental, Intuition, Seele, Supramental und das Licht der Gottheit – sind bereits vorhanden, wenn auch in das anfängliche Vermögen und die zuerst offenbarten Eigenschaften der Materie eingeschlossen und darin bis zur Unkenntlichkeit verdichtet.

Ehe irgendeine Art von Evolution vor sich gehen konnte, musste notwendigerweise diese Involution der zu offenbarenden Göttlichen Gesamtheit stattgefunden haben. Sonst wäre keine geordnete und sinnvolle Evolution erfolgt, sondern eine sukzessive Schöpfung unvorhersehbarer Dinge, die weder im Vorausgegangenen enthalten noch dessen unausweichliche Konsequenzen oder Nachfolger (entsprechend einer bestimmten Reihenfolge) hätten sein können.

Diese Welt ist keine von einem unerklärlichen Zufall regierte Scheinordnung. Ebensowenig ist sie ein imposanter Mechanismus, den eine von einem Glücksfall zum anderen stolpernde unbewusste Kraft oder mechanische Notwendigkeit auf wundersame Weise ausgeklügelt hat. Sie ist nicht einmal eine von einem außerhalb seiner Schöpfung stehenden und darum notwendig begrenzten Schöpfer nach seiner Laune oder Willkür errichtete Struktur. Jede dieser möglichen Theorien kann eine Seite oder Ansicht der Dinge erklären, doch nur einer größeren Wahrheit wird es gelingen, alle Seiten des Rätsels zusammenzufügen und sie als Gesamtheit zu erhellen.

Wenn alles tatsächlich das Ergebnis eines kosmischen Zufalls wäre, bestünde keinerlei Notwendigkeit zu einem weiteren Schritt nach vorn. Nichts dem Mental Überlegenes bräuchte in der materiellen Welt zu erscheinen, so wie ja dann auch schon für das Mental keine Notwendigkeit bestanden hätte, aus dem blinden und sinnlosen materiellen Wirbel aufzutauchen. Das Bewusstsein wäre eine zufällige Begleiterscheinung, eine sonderbare sinnestäuschende Reflexion oder ein bloßer Spuk der Materie.

Wenn sich andererseits alles auf das Wirken einer mechanischen Kraft zurückführen ließe, hätte als ein Teil der riesigen knirschenden Maschinerie ebensowenig das Mental zu erscheinen brauchen. Nichts hätte diese feinere und noch weniger kompetente, diese ungeschickte mechanische Vorrichtung erforderlich gemacht. Kein anfälliges denkendes Gehirn wäre vonnöten gewesen, sich zusätzlich zu den völlig ausreichenden Zahnrädern, Federn und Kolben der ursprünglich fehlerfreien Maschine abzumühen. In noch höherem Maße wäre es überflüssig und eine edle Unverschämtheit, zu dieser bereits genügend schmerzhaft-genialen Komplikation noch ein Supramental hinzuzufügen. Dabei könnte es sich um nichts anderes handeln als den ungerechtfertigten Anspruch des vergänglichen Bewusstseins, über die größere nichtbewusste Kraft zu verfügen, die sein Schöpfer ist.

Wenn schließlich ein experimentierender, außerweltlicher und deshalb in seiner Macht begrenzter Schöpfer der Erfinder des leidvollen Lebens der Tiere, des unbeholfenen Mentals der Menschen und dieses riesigen, so gut wie ungenutzten und unnützen Weltalls wäre, gäbe es keinen Grund, weshalb er sich nicht mit der einzigartigen Genialität seiner Arbeit zufriedengegeben und mit einer mentalen Intelligenz in seinen Geschöpfen begnügt hätte. Selbst wenn er allmächtig und im Besitz absoluter Weisheit wäre, könnte er durchaus an dieser Stelle haltmachen. Ginge er nämlich weiter, so liefe sein Geschöpf Gefahr, dem Rang seines Schöpfers zu nahe zu rücken.

Wenn es aber wahr ist, dass ein unendlicher Geist, eine ewige Göttliche Gegenwart, Bewusstheit, Kraft und Seligkeit hier involviert und verborgen ist und langsam hervortritt, ist es unausweichlich, dass ihre Mächte – oder die verschiedenen Grade ihrer einen Macht – ebenfalls eine um die andere hervortreten, bis die ganze Herrlichkeit manifestiert und ein göttliches Faktum verkörpert, dynamisch und sichtbar ist.

Alle mentalen Vorstellungen über die Natur der Dinge sind nur die unschlüssigen Überlegungen einer unzulänglichen logischen Vernunft, die mit ihren beschränkten Mitteln und ihrer selbstzufriedenen Ignoranz die theoretischen Wahrscheinlichkeiten einer universalen Ordnung abzuwägen versucht, die doch all ihren Spekulationen und Entdeckungen zum Trotz ein für sie undurchschaubares Rätsel bleiben muss. Der wahre Zeuge und Entdecker ist unser wachsendes Bewusstsein, denn dieses Bewusstsein ist selbst ein Zeichen und Vermögen der evolvierenden Gottheit, und seine Entfaltung aus der anscheinenden Nichtbewusstheit des materiellen Universums ist das eine grundlegende, bleibende, fortschreitende und wegweisende Ereignis der langen Geschichte der Erde.

Nur wenn dieses sich entfaltende Bewusstsein in seine eigene volle, göttliche Macht hineinwachsen kann, werden wir zu unmittelbarem Wissen über uns selbst und über die Welt gelangen statt zu versuchen, Zipfel und Endchen einer unzureichenden Form der Erkenntnis zu erhaschen. Diese volle Macht des Bewusstseins ist das Supramental oder die Gnosis – „Supramental“, weil wir, um es zu erreichen, einen Standort jenseits des Mentals einnehmen und von dort aus auf es einwirken müssen, so wie das Mental selbst über das Leben und die nichtbewusste Materie hinausging und von oben her auf beide einzuwirken begann, und „Gnosis“, weil sie im ewigen Besitz der Wahrheit und ihrer eigentlichen Natur und Beschaffenheit nach die dynamische Substanz der Erkenntnis ist.

Die wahre Erkenntnis der Dinge ist unserem Verstand versagt, da er nicht das höchste und wesentliche Vermögen unseres Geistes ist, sondern bloß ein Notbehelf, ein vorläufiges Instrument für den Umgang mit dem äußeren Anschein der Dinge und ihren phänomenalen Prozessen. Die wahre Erkenntnis stellt sich erst ein, wenn unser Bewusstsein über seine gegenwärtige, für den Menschen normale Reichweite hinausgelangen kann: Erst dann wird es seines Selbsts und der in der Welt wirkenden Macht unmittelbar gewahr und beginnt, zumindest über eine anfängliche Erkenntnis durch Identität zu verfügen. Dies aber ist die einzige wahre Erkenntnis. Von da an sieht und erkennt es nicht länger vermittels der mit äußeren Daten umhertastenden Vernunft, sondern durch eine unaufhaltsam wachsende und immer strahlender werdende Erfahrung, die das Selbst und das All mit ihrem Licht erfüllt. Schließlich wird unser Bewusstsein zu einem bewussten Teil der sich in der Welt offenbarenden Gottheit. Sein Wille wird zu einer Macht für die bewusste Evolution dessen, was in der materiellen Welt bislang noch nicht manifest wurde.