Kapitel 1

Der Mensch und das Supramental

Der Mensch ist ein Übergangswesen, er ist nicht endgültig; denn in ihm und weit über ihm erheben sich die leuchtenden Stufen, die zu einer göttlichen Übermenschheit führen.

Der Schritt vom Menschen zum Übermenschen ist der nächste auf uns zukommende Durchbruch in der terrestrischen Evolution. Darin liegt unser Schicksal und der Schlüssel zur Befreiung unserer emporstrebenden, aber heimgesuchten und begrenzten menschlichen Existenz. Er ist unumgänglich, da er sowohl der Absicht des inneren Geistes als auch der Logik des Vorgehens der Natur entspricht.

Das Erscheinen einer menschlichen Möglichkeit in einer materiellen und nur von Tieren bewohnten Welt war der erste Schimmer eines kommenden göttlichen Lichts, die erste ferne Andeutung einer Gottheit, die aus der Materie geboren werden sollte. Das Erscheinen des Übermenschen in der Welt der Menschen wird die Erfüllung dieses fernen, leuchtenden Versprechens sein.

Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Übermenschen wird der Unterschied zwischen dem Mental und einem Bewusstsein sein, das so weit über das denkende Mental hinausgeht wie dieses über das Bewusstsein der Pflanze und des Tiers. Der entscheidende Wesenszug des Menschen ist das Mental, der des Übermenschen wird das Supramental oder die göttliche Gnosis sein.

Der Mensch ist ein in einem prekären und unvollkommenen Leben und in einem bloß unvollkommen bewussten Körper eingekerkertes, verfinstertes und geknebeltes Mental. Der Übermensch wird ein supramentaler Geist sein, der einen bewussten und von spirituellen Kräften formbaren Körper einhüllen und frei verwenden wird. Dieser Körper wird als eine feste Grundlage und als ein geeignetes, leuchtendes Instrument für das göttliche Spiel und das göttliche Werk des Geistes in der Materie dienen.

Selbst frei und in seinem reinen, unbeeinträchtigten Element ist das Mental nicht die höchste Möglichkeit des Bewusstseins; denn das Mental ist nicht im Besitz der Wahrheit, es ist bloß ein unbedeutendes Gefäß oder Werkzeug und hier ein unwissender Sucher, der begierig eine Unmenge von Unwahrheiten und Halbwahrheiten pflückt, um mit dieser unbefriedigenden Nahrung seinen Hunger zu stillen. Jenseits des Mentals gibt es eine supramentale oder gnostische Bewusstseinsmacht, die im ewigen Besitz der Wahrheit ist; alle ihre Impulse, Gefühle, Wahrnehmungen und Resultate sind erfüllt und erleuchtet von der innersten Wirklichkeit aller Dinge und bringen nichts anderes zum Ausdruck.

Das Supramental oder die Gnosis ist von Natur aus zugleich und in ein und derselben Bewegung eine unendliche Weisheit und ein unendlicher Wille. In seinem Ursprung ist es das dynamische Bewusstsein des göttlichen Wissenden und Schöpfers.

Wenn im Verlauf der Entfaltung einer immer größeren Kraft des einen Seins so etwas wie eine Abordnung dieser Macht in unsere begrenzte menschliche Natur herabkommen wird, dann, und nur dann, kann der Mensch über sich selbst hinauswachsen und göttlich erkennen und göttlich handeln und schöpferisch tätig sein; dann endlich wird er zu einem bewussten Teil des Ewigen werden. Der Übermensch wird nicht als ein veredeltes mentales Wesen zur Welt kommen, sondern als eine supramentale Macht, die in das neue Leben eines transformierten irdischen Körpers hinabstieg. Ein gnostisches Übermenschentum ist der nächste, entscheidende und triumphale Sieg, den der in die irdische Natur hinabgestiegene Geist erringen wird.

Die Scheibe einer verborgenen Sonne der Macht, der Freude und der Erkenntnis taucht aus dem materiellen Bewusstsein auf, in dem unser Mental sich wie ein Galeerensklave oder wie ein verwirrter und machtloser Weltschöpfer abmüht. Das Supramental wird der geformte Leib dieses strahlenden Morgenglanzes sein.

Der Übermensch ist nicht der Mensch, der seinen eigenen natürlichen Höhepunkt erreicht hat, nicht ein höherer Grad menschlicher Größe, Erkenntnis, Macht oder Intelligenz, menschlichen Willens oder menschlichen Charakters, menschlicher Genialität, Dynamik, Heiligkeit, Liebe, Reinheit oder Vollkommenheit. Das Supramental ist etwas jenseits des mentalen Menschen und seiner Grenzen, ein größeres Bewusstsein als das höchste, das der menschlichen Natur eigen ist.

Der Mensch ist ein aus den mentalen Welten stammendes Wesen, dessen Mental hier involviert, verfinstert und erniedrigt in einem materiellen Gehirn tätig ist. Seine eigenen göttlichsten Kräfte sind ihm verschlossen, und es ist machtlos, das Leben über gewisse enge und unsichere Grenzen hinweg zu ändern. Selbst in den besten seiner Art ist es durch diese Abhängigkeit der glänzenden Möglichkeiten seiner größten Kraft und Freiheit beraubt. Sehr oft und in den meisten Menschen ist es nur ein Diener des Lebens und des Körpers, der für deren Unterhaltung und die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Interessen sorgt. Dahingegen wird der Übermensch ein gnostischer König der Natur sein; in ihm wird das Supramental bereits in seinen evolutionären Anfängen als ein Strahl des ewigen Allwissens und der ewigen Allmacht in Erscheinung treten. Souverän und unwiderstehlich wird es sich der mentalen und körperlichen Instrumente bemächtigen. Indem es über unseren niederen, bereits manifestierten Wesensteilen steht und sie von oben her durchdringt und in Besitz nimmt, wird es das Mental, das Leben und den Körper in seine eigene göttliche und leuchtende Natur umwandeln.

Für sich genommen ist der Mensch wenig mehr als ein ehrsüchtiges Nichts. Er ist eine Enge, die sich nach unbetretenen Weiten reckt, eine Belanglosigkeit, die sich um nie zu erreichender Herrlichkeiten willen abmüht, ein Zwerg, der in die Höhen verliebt ist. Sein individuelles Mental ist ein schwacher Strahl inmitten des hellen Glanzes des universalen Mentals. Sein Leben ist ein mühseliges, bald jubelndes, bald leiderfülltes Wogen, ein sich stumpf und schwerfällig abrackernder, bald von Leidenschaften geschüttelter, bald von Reue überwältigter nichtssagender Augenblick im universalen Leben. Sein Körper ist ein sich plackendes, vergängliches Stäubchen im Weltall. Eine unsterbliche Seele ist irgendwo in ihm verborgen und verrät von Zeit zu Zeit durch einige sprühende Funken ihre Gegenwart. Ein ewiger Geist weilt über ihm und beschirmt mit seinen Schwingen und wahrt mit seiner Macht die Kontinuität der Seele in der Natur. Doch wird dieser größere Geist durch die harte Schale unserer konstruierten Persönlichkeit an seiner Herabkunft gehindert, während diese innere leuchtende Seele in dichte äußere Hüllen eingewickelt ist, die sie niederdrücken und ersticken. Bis auf wenige Ausnahmen ist sie selten tätig, in den meisten Menschen kaum bemerkbar. Die Seele und der Geist scheinen mehr über und hinter der geformten Natur des Menschen zu existieren, als Teile seiner äußeren, sichtbaren Wirklichkeit zu sein. Obwohl subliminal in seinem inneren Wesen oder überbewusst auf einer noch nie erklommenen Höhe zugegen, sind sie in seinem äußeren Bewusstsein eher Möglichkeiten als aktuelle Gegebenheiten. Der Geist ist eher im Begriff, geboren zu werden, als bereits in die Materie geboren.

Dieses unvollkommene Wesen mit seinem konfusen, gehemmten und so gut wie wirkungslosen Bewusstsein kann nicht das Endergebnis oder der höchste Gipfel der geheimnisvollen Aufwärtsbewegung der Natur sein. Über ihm gibt es mehr, das noch herabgebracht werden muss, und wovon wir jetzt nur flüchtige und sporadische Eindrücke durch plötzliche Risse in der gewaltigen Wand unserer Begrenzungen erhaschen können. Es kann aber auch sein, dass es etwas gibt, das noch von unten her zur Entfaltung gebracht werden muss, etwas, das noch unter dem Schleier des menschlichen Bewusstseins ruht oder für Augenblicke halbwegs sichtbar wird, wie einst auch das Leben im Stein und im Metall, das Mental in der Pflanze und die Vernunft im Schoße des tierischen Gedächtnisses ruhte, welches ja dem unvollkommenen Gefühls-, Sinnes- und Triebapparat des Tiers als Grundlage dient. Auf jeden Fall gibt es etwas in uns, das noch nie Ausdruck fand, und das durch eine einhüllende Erleuchtung von oben her freigesetzt werden muss. Eine Gottheit weilt eingesperrt in unseren Tiefen. Sie ist wesenseins mit einer größeren Gottheit, die von ihren übermenschlichen Gipfeln herabzusteigen bereit ist. In dieser Herabkunft und der wachen Vereinigung der beiden liegt das Geheimnis unserer Zukunft.

Die Größe des Menschen besteht nicht in dem, was er ist, sondern in dem, was er möglich macht. Was ihm zum Ruhme gereicht ist, dass er die exklusive und geheime Werkstatt eines lebenden Wirkens ist, in der das Übermenschentum von einem göttlichen Handwerksmann vorbereitet wird.

Ihm wird sogar eine noch größere Größe zugestanden, nämlich die, im Gegensatz zur niederen Kreatur befugt zu sein, seine göttliche Umwandlung wenigstens zum Teil selbst bewusst auszuführen. Seine freie Zustimmung, seine willentliche Hingabe und Mitwirkung sind nötig, damit in seinen Körper die Herrlichkeit herabkommen kann, die ihn ersetzen wird. Sein aufwärtsgerichtetes Sehnen und Streben ist der Ruf der Erde nach dem supramentalen Schöpfer.

Wenn die Erde ruft und der Höchste antwortet, kann die Stunde für diese ungeheure und glorreiche Verwandlung schon jetzt gekommen sein.

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