Kapitel 1
Sri Krishna existierte tatsächlich auf der Erde
Worte Sri Aurobindos
Die Historie Krishnas hat keine große spirituelle Bedeutung, sie ist nicht wesentlich, hat aber dennoch einen gewissen Wert. Ohne jeden Zweifel ist der Mensch Krishna keine Legende oder dichterische Erfindung, sondern lebte tatsächlich auf Erden und spielte eine Rolle in der indischen Vergangenheit. Zwei Tatsachen zeichnen sich deutlich ab, einmal, dass er als eine wichtige spirituelle Gestalt betrachtet wurde, deren spirituelle Erleuchtung in einer der Upanishaden erwähnt wird; und dann, dass er allgemein als ein göttlicher Mensch angesehen wurde, einer, der nach seinem Tod als Gottheit verehrt wird; dies hat mit der Erzählung im Mahabharata und in den Puranas nichts zu tun. Es besteht kein Grund zur Annahme, dass die Verbindung seines Namens mit der Bhagavata-Religion, einer wichtigen Strömung im Strom indischer Spiritualität, auf einer reinen Legende oder dichterischen Erfindung beruht. Das Mahabharata ist ein Epos und nicht Geschichte, es ist jedoch klar und deutlich ein Epos, das sich auf einem großen historischen Ereignis gründet, welches durch diese Art der Überlieferung im Gedächtnis bewahrt wurde; einige der in ihm vorkommenden Gestalten, Dhritarashtra und Parikshit zum Beispiel, haben mit Sicherheit gelebt, und die Erzählung, in der Krishna der Heerführer, Krieger und Staatsmann ist, kann als wahrscheinlich angenommen werden und gründet sich vermutlich auf einer geschichtlichen Überlieferung – sie hat nicht den Anschein einer Mythe oder rein dichterischen Erfindung. Soviel kann man, was die geschichtliche Figur des Menschen Krishna anbelangt, von der Theorie und Vernunft her mit Sicherheit sagen. Meiner eigenen Ansicht nach ist viel mehr als dies in ihr enthalten – ich habe immer die Inkarnation als Tatsache angesehen und die Historie Krishnas anerkannt, genauso wie ich die Historie Christi anerkenne.
Die Erzählung von Brindavan ist etwas anderes. Sie ist im Mahabharata nicht enthalten, sondern hat puranischen Ursprung und man könnte behaupten, dass ihr symbolischer Charakter von Anfang an geplant war. Es gab eine Zeit, in der ich mich dieser Auffassung anschloss, doch später musste ich sie fallenlassen; nichts in den Puranas verrät eine derartige Absicht. Mir scheint vielmehr, dass die Geschichte als etwas erzählt wird, das tatsächlich geschah oder irgendwo geschieht. Die Gopis sind Wirklichkeiten und keine Symbole. Zumindest werden sie als eine okkulte Wahrheit aufgefasst – und okkult und symbolisch ist nicht das Gleiche. Das Symbol ist möglicherweise nur eine bedeutsame mentale Konstruktion oder eine phantasievolle Erfindung, das Okkulte aber ist eine Realität, die gleichsam irgendwo hinter der stofflichen Szene Tatsache ist und seine Wahrheit für das Erdenleben haben kann – sein Einfluss darauf kann sich sogar hier verkörpern. Das Spiel, lila, der Gopis scheint als etwas aufgefasst zu werden, das sich ewig in einem göttlichen Gokul abspielt und sich in einem Brindavan auf Erden projiziert – es ist etwas, das immer erkannt und dessen Sinn für die Seele immer Wirklichkeit werden kann. Die Verfasser der Puranas waren offensichtlich der Meinung, dass es [das göttliche Gokul] im Leben des inkarnierten Krishna tatsächlich auf die Erde projiziert wurde – und der religiöse Geist Indiens akzeptierte diese Auffassung.
All diese Fragen und die daraus resultierenden Spekulationen haben keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem spirituellen Leben. Was dort zählt, ist die Fühlungnahme mit Krishna und dass man dem Krishna-Bewusstsein entgegenwächst; es zählt die Gegenwart, die spirituelle Verbindung, die Einung in der Seele und, solange dies noch nicht erreicht ist, das Streben, die zunehmende Bhakti und jede Art von Erleuchtung, wie immer sie auch sei, die man auf dem spirituellen Weg erhalten kann. Einer, der diese Dinge erfahren hat, der in der Gegenwart lebte, der die Stimme hörte, der Krishna als Freund oder Liebenden erkannte, als Führer, Lehrer, Meister oder – mehr noch – dessen ganzes Bewusstsein durch die Berührung verändert wurde, der die Gegenwart in sich fühlte – für den haben all diese Fragen nur ein äußerliches und oberflächliches Interesse. Ebensowenig zählt alles Übrige für den, der Fühlung mit dem inneren Brindavan und der lila, dem Spiel der Gopis hatte, der die Hingabe vollzog, der dem Zauber der Freude und Schönheit erlag oder selbst für den, der vielleicht nur den Flötenton hörte. Wenn man jedoch vom anderen Standpunkt ausgeht und die historische Wirklichkeit der Inkarnation hinnehmen kann, ergibt sich der große spirituelle Vorteil, dass man gleichsam einen point d'appui, einen Anhaltspunkt für eine konkretere Verwirklichung hat, in der Überzeugung, dass wenigstens einmal das Göttliche die Erde sichtbar berührte und die vollendete Manifestation möglich machte – der göttlichen Übernatur es gleichsam ermöglichte, in diese sich entfaltende, doch noch sehr unvollkommene Erdnatur herabzukommen.
