Kapitel 16

Einige spirituelle Probleme

Die Frage in deinem Brief scheint mir zu starr formuliert zu sein und den Tatsachen und Kräften des Daseins nicht genügend Rechnung zu tragen. Sie klingt eher nach einem Problem, das sich aufgrund der jüngsten wissenschaftlichen Theorien erheben könnte, nämlich, wenn alles aus einander völlig ähnlichen Protonen und Elektronen besteht (die Anzahl der Gruppen ausgenommen, doch warum sollte ein Unterschied der Quantität einen derart großen Unterschied der Qualität ausmachen?), wie kommt es dann, dass ihre Auswirkung in solch überwältigenden Unterschieden der Abstufung, der Art, der Fähigkeit, in Unterschieden von allem zum Ausdruck kommt? Und warum sollten wir davon ausgehen, dass die seelischen Keime oder Funken wie im Wettlauf alle im gleichen Augenblick begannen, unter gleichen Voraussetzungen, gleichartig in ihrer Kraft und Natur? Nehmen wir an, das Eine Göttliche sei der Ursprung von allem und das Selbst sei das gleiche in allen; doch warum sollte in der Schöpfung der Unendliche sich nicht in unendlicher Verschiedenheit verkörpern, warum in unzählbarer Gleichheit? Wie viele dieser seelischen Keime begannen lange vor anderen und haben eine große Vergangenheit der Entwicklung hinter sich und wie viele sind noch jung und roh und erst halb erwachsen? Und warum sollte es selbst unter denen, die zusammen begannen, nicht einige geben, die sich mit großer Schnelligkeit vorwärtsbewegten und andere, die säumten und mit Mühe wuchsen oder in Kreisen umherwanderten? Und außerdem gibt es eine Evolution und erst in einem bestimmten Stadium der Evolution wird die Grenze des Tierreiches überschritten und ein menschlicher Anfang gemacht; was löst diesen menschlichen Anfang, der eine sehr beträchtliche Revolution oder Umwälzung darstellt, aus? Bis zur Grenzlinie des Tierreiches entwickelten sich das Vital und das Physische – ist es für den menschlichen Beginn nicht notwendig, dass die Herabkunft eines mentalen Wesens stattfindet, welches die vitale und physische Evolution weiterführt? Und kann es nicht auch durchaus sein, dass die herabkommenden mentalen Wesen nicht alle die gleiche Macht, das gleiche Format haben und außerdem ein nicht gleichartig entwickeltes vitales und physisches Bewusstseins-Material aufnehmen? Wir dürfen die okkulte Tradition einer Hierarchie von Wesen nicht vergessen, die über der gegenwärtigen Manifestation stehen und in diese eintreten, woraus sich offensichtlich ein solch ungeheurer Unterschied an Ordnungen ergibt, und die sich sogar in das „Spiel“ einmischen, indem sie durch die Pforten der Geburt in die Natur herabkommen. Es ist ein kompliziertes Problem, das nicht mit der Starrheit einer mathematischen Formel ausgedrückt werden darf.

Ein großer Teil der Schwierigkeiten dieser Probleme, besonders das Zutagetreten unerklärlicher Widersprüchlichkeit, erhebt sich, weil das Problem selbst nicht richtig erkannt wurde. Nimm die volkstümliche Vorstellung von Reinkarnation und Karma – sie gründet sich auf der rein mentalen Annahme, das Wirken der Natur hätte moralisch zu sein und müsse gemäß der genauen Moralität einer für alle gleichen Gerechtigkeit vorgehen, ein gewissenhaftes, ja mathematisches Gesetz von Belohnung und Bestrafung oder jedenfalls von Konsequenzen, die mit der menschlichen Vorstellung der richtigen Entsprechung übereinstimmen. Doch die Natur ist nicht moralisch, sie gebraucht Kräfte und Vorgänge in moralischem, amoralischem und nichtmoralischem Durcheinander, um ihre Ziele zu erwirken. Die Natur in ihrem äußeren Aspekt scheint sich um nichts anderes zu kümmern, als dass die Dinge geschehen – oder aber, die Voraussetzungen für eine kunstvolle Vielfalt des Lebens-Spiels zu schaffen. Die Natur in ihrem tieferen Aspekt als bewusste spirituelle Macht strebt nach Wachstum durch Erfahrung, nach spiritueller Entwicklung der Seelen in ihrer Obhut – und jene Seelen selbst haben in dieser Angelegenheit ein Wort mitzureden. All diese guten Leute jammern und wundern sich, dass sie und andere gute Leute unausgesetzt von derartig sinnlosem Leid und Unglück heimgesucht werden. Doch ist es wirklich eine äußere Macht, die sie heimsucht, oder ein mechanisch-karmisches Gesetz? Ist es nicht möglich, dass die Seele selbst – nicht das äußere Mental, sondern der innere Geist – diese Dinge als Teil ihrer Entwicklung angenommen und gewählt hat, um rasch durch die notwendige Erfahrung zu gehen, sich durchzuhauen1, selbst auf die Gefahr oder auf Kosten von viel Schaden am äußeren Leben und Körper? Ist es nicht möglich, dass der wachsenden Seele, dem Geist in uns, die Schwierigkeiten, Hindernisse und Angriffe ein Mittel des Wachstums, der vermehrten Kraft sein könnten, der größeren Erfahrung, ein Training für den spirituellen Sieg? Es könnte immerhin sein, dass sich die Dinge derart verhalten, dass sie nicht eine reine Frage von Pfunden und Schillingen und Pfennigen sind, eine Frage der Austeilung von Belohnung und vergeltender Strafe.

Ebenso ist es mit dem Problem, ein Tier unter den Umständen zu töten, die dein Freund in dem Brief schildert. Dieses Problem erhebt sich auf der Grundlage eines starren ethischen „richtig oder falsch“ das in allen Fällen angewendet werden soll – ist es grundsätzlich unter irgendwelchen Umständen erlaubt, ein Tier zu töten, oder ist es richtig, ein Tier unter deinen Augen leiden zu lassen, wenn du es durch Euthanasie erlösen kannst? Auf eine derart formulierte Frage kann es keine unanfechtbare Antwort geben, da die Antwort von Daten abhängt, die dem Mental nicht zur Verfügung stehen. Tatsächlich gibt es noch viele andere Gründe, welche die Menschen diesen kurzen und gnädigen Weg aus der Schwierigkeit wählen lassen – die nervliche Unfähigkeit, den Anblick von so viel Leiden zu ertragen und zu hören, der sinnlose Kummer, der Abscheu und die Unbequemlichkeit, alles scheint dafür zu sprechen, dass das Tier selbst von all dem erlöst sein will. Doch was fühlt das Tier wirklich? Klammert es sich nicht doch an das Leben, trotz des Schmerzes? Oder hat die Seele diese Dinge vielleicht auf sich genommen, um der rascheren Entwicklung in ein höheres Lebens-Stadium willen? Sollte dies der Fall sein, dann kann die angewandte Barmherzigkeit das Karma des Tieres durchaus beeinträchtigen. Tatsächlich fällt die rechte Entscheidung von Fall zu Fall verschieden aus und hängt von einem Wissen ab, über welches das menschliche Mental nicht verfügt – und es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass, solange es dieses Wissen nicht besitzt, man kein Recht habe, zu töten. Ein dunkles Erkennen dieser Wahrheit ließ Religionen und Ethik das Gesetz von ahimsa [Nicht-Gewalt] entwickeln – und dennoch, auch dies wird zu einer mentalen Regel, die, in der Praxis anzuwenden, nicht möglich ist. Und vielleicht ist die Moral von diesem allen, dass wir in jedem Fall, so wie die Dinge liegen, entsprechend unserer besten Einsicht zu handeln haben, dass die Lösung dieser Probleme jedoch erst dann erfolgen kann, wenn man nach einem größeren Licht, einem größeren Bewusstsein strebt, in dem die Probleme als solche, wie sie derzeit vom menschlichen Mental geschaffen werden, nicht mehr entstehen, da wir eine Schau haben werden, die die Welt auf andere Weise sieht, und eine Führung, über die wir gegenwärtig nicht verfügen. Das mentale oder moralische Gesetz ist ein Notbehelf, den die Menschen auf sehr unsichere und fehlerhafte Weise gebrauchen müssen, bis sie die Dinge in ihrer Ganzheit im Licht des Geistes zu erkennen vermögen.

29. Juni 1932

1 Sri Aurobindo gebraucht hier das deutsche Wort „durchhauen“.

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