Kapitel 12
Die Zukunft der Religionen
Diese Konzeption wurde von Sri Aurobindo formuliert, und auch ich habe sie des öfteren geäußert. Man kann sie ungefähr so formulieren: Die alte Spiritualität war eine Flucht aus dem Leben in die göttliche Wirklichkeit, indem man die Welt da ließ, wo sie und wie sie war. Unsere neue Vision dagegen ist eine Vergöttlichung des Lebens, eine Umwandlung der materiellen Welt in eine göttliche Welt. Das wurde gesagt, wiederholt und mehr oder weniger verstanden, kurz: Das ist die Grundidee dessen, was wir tun wollen. Doch könnte das nur eine Weiterführung mit einer Verbesserung sein, eine Ausweitung der alten Welt, so wie sie war – und solange es nur eine Konzeption in der Sphäre des Denkens ist, ist es kaum mehr als das. Was aber tatsächlich geschehen ist, das wirklich Neue: dass eine neue Welt geboren ist, geboren, geboren. Nicht die alte Welt wandelt sich, sondern eine neue Welt ist geboren. Wir sind mitten in dieser Übergangsperiode, in der die beiden ineinander verschränkt sind, in der die andere noch allmächtig andauert und ganz das normale Bewusstsein beherrscht, die neue jedoch hereinschlüpft, sehr bescheiden noch, unbemerkt – so unbemerkt, dass sie äußerlich vorerst nicht viel durcheinanderbringt und im Bewusstsein der meisten nicht einmal wahrnehmbar ist. Und doch arbeitet sie, wächst sie. Bis zu dem Augenblick, wo sie stark genug sein wird, um sich deutlich sichtbar durchzusetzen.
Auf jeden Fall kann man vereinfachend sagen, dass die alte Welt, eine Schöpfung des Obermentals, wie Sri Aurobindo es nennt, auf eine charakteristische Weise ein Zeitalter der Götter war und daher das Zeitalter der Religionen. Die Blüte, wie gesagt, der Anstrengung des Menschen zu dem hin, was ihm überlegen war, hat zum Entstehen unzähliger religiöser Formen geführt, zu einer religiösen Verbindung zwischen den Elite-Seelen und der unsichtbaren Welt. Und auf dem Höhepunkt von alledem, wie eine Bemühung auf eine höhere Verwirklichung zu, ist diese Idee der Einheit der Religionen entstanden, von diesem „Einzigen“, das hinter allen Manifestationen steht. Diese Idee war sozusagen wirklich die Gipfelhöhe der menschlichen Aspiration. Nun, sie liegt an der Grenze, sie ist etwas, das noch vollständig zur obermentalen Welt, zur obermentalen Schöpfung gehört und von dort aus das „andere“ zu betrachten scheint, das eine neue Schöpfung ist, die sie nicht ergreifen kann – die sie zu erreichen versucht, die sie ahnt, aber nicht ergreifen kann. Um sie zu ergreifen, ist eine Umkehrung notwendig. Man muss aus der obermentalen Schöpfung hinaus. Die neue Schöpfung, die supramentale Schöpfung, musste deshalb stattfinden.
Und jetzt kommt einem all dieses Alte so alt, so überholt, so willkürlich vor … als eine solche Kostümierung der wirklichen Wahrheit.
In der supramentalen Schöpfung gibt es keine Religionen mehr. Das ganze Leben wird der Ausdruck, die Entfaltung in den Formen der göttlichen Einheit sein, die sich in der Welt manifestiert. Und es wird nicht mehr das geben, was die Menschen jetzt Götter nennen.
Diese großen göttlichen Wesen werden selbst an der neuen Schöpfung teilnehmen können. Aber dazu müssen sie sich mit „der supramentalen Substanz“, wie wir es nennen können, auf der Erde bekleiden. Und wenn es welche gibt, die sich dafür entscheiden, in ihrer Welt zu bleiben, so wie sie sind, wenn sie beschließen, sich nicht physisch zu manifestieren, wird die Beziehung zu den Wesen einer irdischen supramentalen Welt eine Beziehung von Freunden sein, von Mitarbeitern, von gleich zu gleich, da sich ja in den Wesen der neuen supramentalen Welt auf der Erde die höchste göttliche Substanz offenbaren wird.
Wenn die physische Substanz supramentalisiert wird, ist die Verkörperung auf der Erde nichts Untergeordnetes mehr, ganz im Gegenteil. Man wird eine Fülle gewinnen, die man nicht anders erreichen kann.
Aber das ist alles noch Zukunftsmusik. Es ist eine Zukunft, die begonnen hat, die jedoch eine gewisse Zeit braucht, um sich vollständig zu verwirklichen. Währenddessen sind wir in einer ganz besonderen, äußerst speziellen Situation, die keinen Präzedenzfall hat. Wir erleben die Entstehung einer neuen, ganz jungen, ganz schwachen Welt mit – schwach nicht in ihrer Substanz, sondern in der äußeren Manifestation –, noch nicht anerkannt, nicht einmal gespürt, von den meisten geleugnet. Aber sie ist da.