KAPITEL 12
DIE MACHT DER BEWEGUNGSLOSIGKEIT
Süße Mutter, ich verstehe nicht: „die starke Bewegungslosigkeit eines unsterblichen Geistes (Sri Aurobindo, Die Synthese des Yoga).“
Was ist es, das du nicht verstehst? Dass ein unsterblicher Geist eine starke Bewegungslosigkeit besitzt? Es meint, was es sagt. Ein unsterblicher spiritueller Geist ist notwendigerweise bewegungslos und stark, eben durch die Tatsache, dass er unsterblich ist.
Denn das ist eine Tatsache, es ist so. Wenn der Geist sich der Unsterblichkeit bewusst ist, wird er zu einer Bewegungslosigkeit, die ganz aus Stärke gemacht ist. Bewegungslosigkeit – das heißt, er bewegt sich nicht länger, aber dieser Zustand ist eine machtvolle Bewegungslosigkeit, keine Bewegungslosigkeit der Trägheit oder Impotenz; es ist eine starke Bewegungslosigkeit, die die Basis zum Handeln bildet, das heißt, alles was man tut, gründet sich auf dieser mächtigen – allmächtigen – Bewegungslosigkeit des Geistes, der unsterblich ist.
Aber, siehst du, es gibt keine Erklärung, die dir das vermitteln kann, du musst die Erfahrung davon machen, man kann mit dem Verstand nicht erfassen, was das heißt… Und das gilt für alles: der Kopf, das kleine Gehirn, kann nicht verstehen. In dem Moment, in dem man die Erfahrung hat, begreift man – nicht vorher. Man kann eine phantasiereiche Vorstellung davon entwickeln, aber das ist nicht das eigentliche Verstehen. Um es zu begreifen, muss man es leben. Wenn du dir deines unsterblichen Geistes bewusst wirst, wirst du erkennen, was seine starke Bewegungslosigkeit ist – aber nicht vorher. Sonst sind das bloß Worte.
Du verstehst nicht, wie man unbeweglich und zur gleichen Zeit stark sein kann, ist es das, was dir Schwierigkeiten macht? Gut, ich antworte, dass die größte Stärke in der Bewegungslosigkeit liegt. Das ist die souveränste Macht.
Und es gibt eine sehr kleine oberflächliche Anwendung dafür, die du vielleicht verstehen wirst. Jemand kommt und beschimpft dich, oder sagt sehr unangenehme Sachen zu dir; und wenn du anfängst, in Übereinstimmung mit dieser Wut oder diesem bösen Willen zu vibrieren, fühlst du dich sehr schwach und machtlos ihm gegenüber; und machst dich gewöhnlich lächerlich. Aber wenn du es fertig bringen kannst, in dir selbst, besonders in deinem Kopf, in dem Moment eine vollständige Bewegungslosigkeit zu halten, die sich weigert, diese Schwingungen anzunehmen, dann fühlst du zur gleichen Zeit eine große Stärke, und die andere Person kann dich nicht stören. Wenn du sehr ruhig bleiben kannst, sogar physisch, und wenn du fähig bist, sehr still, sehr schweigsam, sehr regungslos zu bleiben, wenn Feindseligkeit gegen dich gerichtet ist, nun, dann hat das eine Macht, nicht nur über dich, sondern auch über die andere Person. Wenn du in dir selbst nicht alle Schwingungen einer Antwort auf den Angriff fühlst, sondern wenn du überall in dir selbst völlig bewegungslos bleiben kannst, hat das eine beinahe sofortige Wirkung auf die andere Person.
Das vermittelt dir vielleicht eine Idee von der Macht der Bewegungslosigkeit. Und das ist eine sehr alltägliche Tatsache, die jeden Tag vorkommen kann; es ist kein großes Ereignis des spirituellen Lebens, es betrifft das äußere, materielle Leben.
In der Bewegungslosigkeit steckt eine ungeheure Macht: in der Bewegungslosigkeit des Denkens, in der Bewegungslosigkeit der Sinne, in der Bewegungslosigkeit des Körpers. Wenn du ruhig und fest wie eine Wand verharren kannst, absolut reglos, wird alles, was die andere Person gegen dich hervorbringt, sofort auf sie zurückfallen. Denn die Macht in dieser Bewegungslosigkeit wird sofort aktiv. Sie kann den Arm eines Mörders stoppen, verstehst du, so stark ist sie. Nur, man darf nicht nur so scheinen, als ob man bewegungslos wäre, innerlich jedoch überkochen! Das ist es nicht, was ich meine. Ich meine eine integrale, vollständige Bewegungslosigkeit. (66)
DIE MUTTER

Es gibt eine statische, gleichbleibende Kraft. Wie kann man es dir erklären? Schau, der Unterschied zwischen statischer und dynamischer Kraft ist der gleiche, wie zwischen einem Verteidigungsspiel und einem Angriffsspiel; verstehst du? Es ist der gleiche Unterschied. Statische Kraft ist etwas, das allem standhalten kann, nichts kann auf sie einwirken, nichts kann sie anrühren, nichts kann sie erschüttern – sie bleibt bewegungslos, trotzdem ist sie unbesiegbar. Dynamische Kraft ist eine Kraft in Aktion, die manchmal nach vorne drängt, und ab und zu Schläge einstecken muss. Das bedeutet, wenn du möchtest, dass deine dynamische Kraft immer als Sieger hervorgeht, muss sie von einer beträchtlichen statischen Kraft unterstützt werden, von einer unerschütterlichen Basis.
Ich weiß, was du sagen willst … dass ein Mensch eine Kraft nur dann wahrnehmen kann, wenn sie dynamisch ist; ein Mensch erkennt Kraft nicht als solche, außer wenn sie aktiv ist; wenn sie nicht aktiv ist, bemerkt er sie nicht einmal, er begreift nicht die gewaltige Kraft, die hinter dieser Inaktivität liegt – manchmal, sogar häufig, ist dies eine Kraft, die gewaltiger ist als die Kraft, die aktiv ist. Aber du kannst es für dich selbst ausprobieren, du wirst sehen, es ist sehr viel schwieriger, ruhig, regungslos und unerschüttert zu bleiben, wenn du mit etwas sehr Unangenehmen konfrontiert bist – ob es Worte oder Handlungen sind, die gegen dich erhoben werden – unendlich viel schwieriger, als mit der gleichen Gewalttätigkeit zu reagieren. Angenommen, jemand beschimpft dich; wenn du angesichts dieser Beschimpfungen reglos bleiben kannst (nicht nur äußerlich, ich meine vollständig), ohne auf irgendeine Weise erschüttert oder davon berührt zu werden: du stehst da, wie eine Kraft gegen die man nichts machen kann, und du antwortest nicht, du machst keine Geste, du sagst kein Wort, alle Beschimpfungen, die dir vorgeworfen werden, lassen dich innerlich und äußerlich absolut unberührt; du kannst deine Herzschläge vollkommen ruhig halten, du kannst die Gedanken in deinem Kopf ganz regungslos und ruhig halten, ohne dass sie im Mindesten gestört werden, das heißt, dein Kopf antwortet nicht sofort durch ähnliche Schwingungen, und deine Nerven sind nicht angespannt mit dem Bedürfnis, ein paar Schläge zurückzugeben, um Erleichterung zu spüren; wenn du so sein kannst, besitzt du eine statische gleichbleibende Kraft, und sie ist unendlich viel stärker, als wenn du die Art von Kraft hättest, die dich Beschimpfung mit Beschimpfung, Schlag mit Schlag, und Aufregung mit Aufregung beantworten lässt. (67)
DIE MUTTER

Manche Menschen sind, wie ich es nenne, „verhätschelt“, das heißt, unfähig, irgendeinem Schmerz standzuhalten oder ihn zu ertragen; sie sagen sofort: „Ich kann nicht! Es ist unerträglich. Ich kann nicht mehr ertragen!“ Ah, das ändert freilich nichts an den Umständen; es hält das Leiden nicht auf, denn du kannst es nicht dadurch vertreiben, dass du ihm sagst, dass du es nicht willst. Man kann aber zwei Dinge tun: wenn man, für alle nervenbedingten Leiden zum Beispiel, in sich selbst an die Stelle des Schmerzes eine Art Bewegungslosigkeit hineinbringen kann, die so total wie möglich ist, hat das die Wirkung eines Betäubungsmittels. Wenn es einem gelingt, an die Stelle, wo man leidet, eine innere Reglosigkeit, eine Bewegungslosigkeit der inneren Schwingung zu bringen, hat das gen au denselben Effekt wie ein Betäubungsmittel. Es durchschneidet den Kontakt zwischen der Stelle des Schmerzes und dem Gehirn, und wenn du einmal den Kontakt abgeschnitten hast, und wenn du diesen Zustand lang genug halten kannst, wird der Schmerz verschwinden. Du musst es dir zur Angewohnheit machen, das zu tun. Du hast die ganze Zeit den Anlass, die Gelegenheit dazu: du schneidest dich zum Beispiel, oder bekommst einen Stoß, siehst du, man zieht sich immer irgendwo eine kleine Verletzung zu – besonders wenn man Sport, Gymnastik und all das treibt – nun, das sind diese Gelegenheiten, die sich uns bieten. Anstatt da zu sitzen, und den Schmerz zu beobachten, und zu versuchen ihn zu analysieren, sich auf ihn zu konzentrieren, was ihn unbegrenzt zunehmen lässt…
Es gibt Menschen die denken dann an etwas anderes, aber es hält nicht lange an; sie denken an etwas anderes, und werden dann plötzlich in Gedanken wieder an die Stelle gezogen die schmerzt. Aber man kann Folgendes machen… Siehst du, weil der Schmerz da ist, zeigt das, dass du in Kontakt mit dem Nerv bist, der den Schmerz übermittelt, sonst würdest du ihn nicht fühlen. Gut, sobald du weißt, dass du in Kontakt damit bist, versuchst du, an dem Punkt der schmerzt, so viel Bewegungslosigkeit wie möglich anzusammeln, um die Vibration des Schmerzes zu stoppen; du wirst dann wahrnehmen, dass das den Effekt wie beim Einschlafen eines Körperteils hat, der in einer unangenehmen Lage ist, und der ganz plötzlich … du weißt, was passiert, nicht wahr … dann, wenn das Einschlafen aufhört, fängt es wieder an schrecklich zu kribbeln. Gut, du probierst ganz überlegt diese Art der Konzentration der Bewegungslosigkeit in dem schmerzenden Nerv; an den schmerzenden Punkt bringst du eine so totale Reglosigkeit, wie du kannst. Gut, du wirst sehen, dass es wirkt, wie ich dir gesagt habe, wie ein Betäubungsmittel: es bringt die Sache zum Schlafen. Und dann, wenn du dem noch eine Art inneren Frieden und das Vertrauen hinzufügen kannst, dass der Schmerz verschwinden wird, nun, ich sage dir, dass er dann auch verschwinden wird.
Von allen Dingen ist, vom yogischen Standpunkt aus gesehen, der Zahnschmerz am schwierigsten zu bewältigen, weil er sehr nahe am Gehirn sitzt. Nun, ich weiß, dass man das wirklich bis zu dem Ausmaß kontrollieren kann, dass man den Schmerz überhaupt nicht fühlt; das heilt zwar nicht den schlechten Zahn, aber es gibt Fälle, in denen es einem gelingt, den schmerzenden Nerv abzutöten. Gewöhnlich ist es in einem Zahn der Nerv, der durch die Karies, die Krankheit, angegriffen wird, und der anfängt, mit all seiner Stärke dagegen zu protestieren. So, wenn du damit Erfolg hast, diese Bewegungslosigkeit in ihm zu etablieren, hältst du ihn davon ab zu vibrieren, du hältst ihn davon ab, zu protestieren. Und was bemerkenswert ist, dass der Nerv absterben wird, wenn du es einigermaßen beständig machst, mit genügend Ausdauer, und du wirst überhaupt nicht mehr leiden. Denn er war es der gelitten hat, und wenn er tot ist, kann er nicht mehr leiden. Versuche es. (68)
DIE MUTTER
