Kapitel 12

Angst vor dem Tod

Worte der Mutter

Allgemein gesagt ist das größte Hindernis für den Fortschritt des Menschen die Angst, eine Angst, die viele Seiten und Formen hat, in sich widersprüchlich ist, unlogisch, unbegründet, vernunftlos und häufig unvernünftig. Unter all den Formen der Angst ist die Angst vor dem Tode die subtilste und hartnäckigste. Sie ist fest im Unterbewusstsein verwurzelt, und es ist nicht einfach, sie auszuräumen. Selbstverständlich besteht sie aus verschiedenen, miteinander verwobenen Elementen: dem Geist des Bewahrens und der Sorge um die Selbsterhaltung, um die Kontinuität des Bewusstseins sicherzustellen, dem Zurückschrecken vor dem Unbekannten, der Beklemmung aufgrund des Unerwarteten und Unvorhersehbaren, und vielleicht hinter alledem, versteckt in den Tiefen der Zellen, dem instinktiven Gefühl, dass der Tod nicht unausweichlich ist und dass er unter gegebenen Umständen besiegt werden kann, obwohl natürlich gerade die Angst an sich eines der größten Hindernisse für den Sieg über den Tod darstellt. Was man fürchtet, kann man nicht besiegen, und derjenige, der den Tod fürchtet, ist bereits von ihm besiegt.

Wie kann diese Angst überwunden werden? Verschiedene Methoden können hierzu angewandt werden. Aber zunächst einmal sind einige Grundkenntnisse für unser Unternehmen vonnöten. Die erste und wichtigste Erkenntnis ist, dass das Leben eins und unsterblich ist. Nur die Formen sind zahllos, flüchtig und zerbrechlich. Diese Erkenntnis muss sicher und bleibend im Verstand verankert werden, und man muss sein Bewusstsein so weit wie möglich mit dem ewigen Leben identifizieren, das unabhängig von jeglicher Form ist, sich aber in allen Formen manifestiert. Dies gibt die unverzichtbare psychologische Grundlage, um sich dem Problem stellen zu können, denn das Problem besteht weiterhin. Selbst wenn das innere Wesen erleuchtet genug ist, um über aller Angst zu stehen, besteht diese jedoch weiterhin in den Zellen des Körpers als etwas Dunkles, Spontanes, außerhalb der Reichweite der Vernunft, meistens fast Unbewusstes. In diesen dunklen Tiefen muss man sie suchen, ergreifen und mit dem Licht der Erkenntnis und Gewissheit erhellen.

Das Leben stirbt also nicht, nur die Form löst sich auf, und vor genau dieser Auflösung fürchtet sich das physische Bewusstsein. Dennoch verändert sich die Form andauernd, und im Grunde genommen gibt es nichts, was verhindert, dass es eine Veränderung hin zum Besseren ist. Dieser voranschreitende Wandel könnte allerdings bedeuten, dass der Tod nicht länger unausweichlich ist. Dennoch ist es sehr schwierig, diesen Wandel herbeizuführen. Es verlangt Bedingungen, die nur sehr wenige Menschen erfüllen können. Das bedeutet, dass die Methode zur Überwindung der Todesangst entsprechend der Art des Falls und des Bewusstseinszustandes unterschiedlich sein wird. Die Methoden können in vier Hauptrichtungen eingeteilt werden, wobei jede einzelne eine Vielzahl von Variationen beinhaltet. Eigentlich muss jeder Mensch sein eigenes System entwickeln.

Die erste Methode richtet sich an die Vernunft. Man kann sagen, dass im gegenwärtigen Zustand der Welt der Tod unausweichlich ist. Ein Körper, der geboren wurde, muss notwendigerweise eines Tages auch wieder sterben, und in fast jedem Fall kommt der Tod, wenn es soweit ist: Die Todesstunde kann weder vorgezogen noch hinausgezögert werden. Jemand, der sich danach sehnt, muss vielleicht sehr lange darauf warten, und jemand, der sich davor fürchtet, wird vielleicht unerwartet hingestreckt, ungeachtet der vielen getroffenen Vorkehrungen. Es scheint also, dass die Todesstunde unverrückbar festgelegt ist, mit Ausnahme von ganz wenigen Menschen, die Kräfte besitzen, über die der Rest der Menschheit nicht verfügt. Die Vernunft lehrt uns, dass es absurd ist, vor etwas Unentrinnbarem Angst zu haben. Man kann einfach die Vorstellung des Todes akzeptieren und immer nur von Tag zu Tag, Stunde um Stunde das Beste tun, ohne sich darum zu sorgen, was passieren wird. Dieser Prozess ist für Intellektuelle sehr effektiv, die daran gewöhnt sind, nach dem Diktat der Vernunft zu handeln. Für emotionale Menschen allerdings, die in ihrer Gefühlswelt leben und sich von ihren Gefühlen leiten lassen, ist er weniger erfolgversprechend. Zweifellos sollten diese Menschen die zweite Methode, das heißt die innere Suche, anwenden. Jenseits aller Gefühle, in der ruhigen und stillen Tiefe unseres Wesens leuchtet ein immerwährendes Licht, das Licht des seelischen Bewusstseins. Gehe und suche nach diesem Licht, konzentriere dich darauf, es ist in dir. Mit Durchhaltevermögen wirst du es bestimmt finden, und sobald du in es hineingehst, wirst du in dem Gefühl der Unsterblichkeit erwachen. Du hast immer gelebt, wirst immer leben. Du wirst völlig unabhängig von deinem Körper. Deine bewusste Existenz hängt nicht von ihm ab. Dieser Körper ist nur eine vergängliche Form, mittels derer du dich manifestiert hast. Der Tod ist nun kein Verlöschen mehr, er ist nur ein Übergang. Alle Angst verschwindet sofort, und du gehst mit der ruhigen Gewissheit, ein freier Mensch zu sein, durchs Leben.

Die dritte Methode ist für diejenigen, die an einen Gott glauben, an ihren Gott, dem sie ihr Leben widmen, dem sie voll und ganz gehören. Alle Ereignisse in ihrem Leben sind Ausdruck des göttlichen Willens, und diese werden nicht nur mit gelassener Hingabe, sondern in Dankbarkeit angenommen, denn sie wissen, dass alles, was ihnen geschieht, immer zu ihrem Besten ist. Sie haben ein mystisches Vertrauen in ihren Gott und in ihr persönliches Verhältnis zu ihm. Sie haben ihren Willen vollkommen dem göttlichen Willen unterworfen und spüren dessen unverrückbare Liebe und seinen Schutz, gänzlich unabhängig von den Wechselfällen des Lebens und des Todes. Sie erleben in gleichbleibender Weise, dass sie in vollkommener Selbstaufgabe zu Füßen ihres Geliebten liegen oder in völliger Sicherheit in seinen Armen gewiegt werden. In ihrem Bewusstsein gibt es keinen Platz mehr für Angst, Sorge oder Qual. All das ist durch ruhige Glückseligkeit ersetzt worden.

Aber nicht jedermann hat das Glück, ein Mystiker zu sein.

Und als Letzte gibt es noch diejenigen, die geborene Krieger sind. Sie können das Leben, so wie es ist, nicht akzeptieren. Sie spüren in sich das pulsierende Recht auf Unsterblichkeit, eine allumfassende und irdische Unsterblichkeit. Sie haben eine Art intuitives Wissen dahingehend, dass der Tod nichts weiter als eine schlechte Gewohnheit ist. Sie scheinen mit der Entschlossenheit auf die Welt zu kommen, den Tod zu überwinden. Aber diese Bezwingung bedeutet einen verzweifelten Kampf gegen ein Heer erbitterter und subtiler Angreifer, einen Kampf, der andauernd, fast jede Minute, geführt werden muss. Nur wer einen unbezähmbaren Geist hat, sollte dieses Unternehmen wagen. Der Kampf hat viele Fronten, er wird auf mehreren Ebenen geführt, die sich vermischen und sich ergänzen…

Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, die Angst vor dem Tod zu überwinden, aber nur ganz wenige können sie anwenden, sie soll deshalb nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Es geht darum, während man lebt, absichtlich und bewusst in die Domäne des Todes zu gehen und dann von dieser Region wiederzukehren und in den physischen Körper zurückzukommen und die materielle Existenz in vollem Wissen fortzuführen. Dafür muss man allerdings ein Eingeweihter sein.

Worte Sri Aurobindos

Das Hängen am körperlichen Leben wird zugleich mit dem Hängen am Körper und seinen Betätigungen überwunden. Wenn wir fühlen, dass nicht wir selbst das physische Wesen sind, dass dieses vielmehr nur ein Gewand oder ein Instrument ist, muss notwendigerweise auch das Zurückschrecken vor dem Tod des Körpers, jener heftige Instinkt des vitalen Menschen, schwächer und überwunden, zuletzt ganz und gar ausgemerzt werden. Todesfurcht und Abneigung gegen das Aufhören körperlicher Funktionen sind das Stigma, das dem menschlichen Wesen noch von seinem tierhaften Ursprung her anhaftet. Es ist ein Brandmal, das ganz und gar verschwinden muss.

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