Kapitel 1

Innere Kontemplation

Worte der Mutter

Wie oft im Leben erleben wir eine Art Leere, einen Moment, in dem wir nichts zu tun haben, manchmal nur ein paar Minuten, bisweilen länger. Und was tun wir? Wir versuchen sofort, uns abzulenken, und man denkt sich irgendeine Torheit aus, mit der man seine Zeit verbringt. So ist das nun mal. Alle Menschen, die jüngsten wie die ältesten, verbringen den Großteil ihrer Zeit in dem Bemühen, sich nicht zu langweilen. Gegen nichts hegen sie eine größere Abneigung als gegen die Langeweile, und der Langeweile entkommt man am besten, indem man sich töricht benimmt.

Es gibt aber noch eine bessere Alternative, nämlich sich etwas zu vergegenwärtigen.

Wenn du ein bisschen Zeit hast, sei es eine Stunde oder auch nur ein paar Minuten, sage dir: „Endlich habe ich etwas Zeit, mich zu konzentrieren, mich zu sammeln, mir erneut den Sinn meines Lebens vor Augen zu führen, mich dem Wahren und Ewigen zu widmen.“ Tust du dies immer dann, wenn nicht gerade äußere Umstände auf dich einstürmen, wirst du feststellen, dass du auf dem Weg deiner Entwicklung große Fortschritte machst. Anstelle deine Zeit zu verschwenden, indem du schwätzt, sinnlose Dinge tust, Dinge liest, die dein Bewusstsein nach unten ziehen – und ich nenne nur die besten Beispiele, es gibt noch ganz andere, viel schwerwiegendere Dummheiten –, statt dass du also versuchst, dich zu zerstreuen und du die ohnehin so knapp bemessene Zeit noch weiter verkürzt, nur um am Ende deines Lebens festzustellen, dass du Dreiviertel deiner Chancen vertan hast – und dann versuchst, die doppelte Zeit aufzubringen, was aber nicht funktioniert –, sei lieber bescheiden, ausgeglichen, geduldig, ruhig und nutze jede dir gegebene Gelegenheit, den Moment der Muße dem wahren Sinn und Zweck zu widmen.

Wenn du nichts zu tun hast, wirst du unruhig und fängst an, durch die Gegend zu rennen, dich mit Freunden zu treffen, spazieren zu gehen – um nur die positivsten Beispiele zu nennen, ganz zu schweigen von denen, die man überhaupt unterlassen sollte. Setze dich lieber unter den Himmel, ans Meer oder unter einen Baum, was sich gerade anbietet – hier stehen dir alle Möglichkeiten offen – und versuche, die Antwort auf eine der folgenden Fragen zu finden: Warum lebst du, wie solltest du leben, was willst du tun, und wie sollte es getan werden, wie kannst du am besten der Unwissenheit, der Falschheit und dem Schmerz entkommen, in dem zu lebst?

Worte der Mutter

Mit ziemlicher Sicherheit kann man die Freiheit des Geistes nicht allein dadurch erlangen, dass man alleine isst, alleine schläft und alleine im Wald lebt.

Man hat festgestellt, dass die meisten Menschen, die alleine im Wald leben, sich mit den sie umgebenden Tieren und Pflanzen anfreunden. Die Gabe, sich in innere Kontemplation zu begeben und in Einklang mit der Höchsten Wahrheit zu leben, ist jedoch keineswegs auf das Alleinsein zurückzuführen. Es mag die Sache erleichtern, wenn man aufgrund äußerer Umstände nichts anderes zu tun hat, aber ich habe meine Zweifel. Irgendeine Beschäftigung fällt einem doch immer ein, und mir hat meine Lebenserfahrung gezeigt, dass die dabei gewonnenen Erkenntnisse unendlich wahrer, tiefgründiger und dauerhafter sind, wenn es einem gelingt, seinen inneren Drang im Angesicht von Schwierigkeiten zu unterdrücken, wenn man sich bemüht, zusammen mit der ewigen Gegenwart in sich selbst ganz allein zu sein, und zwar in eben jenem Umfeld, welches uns die Gnade hat zuteil werden lassen.

Vor Schwierigkeiten wegzulaufen, um sie auf diese Weise zu meistern, ist keine Lösung. Allerdings ist das sehr verlockend. Wer nach spirituellem Leben strebt, dem sagt eine innere Stimme: „Wie schön wäre es, wenn du dich alleine zum Meditieren unter einen Baum setzen könntest. Nichts würde dich in Versuchung führen zu reden oder etwas zu tun!“ Man hört diese Stimme, weil das eine weit verbreitete Vorstellung ist, jedoch ist das eine Illusion.

Die besten Meditationen sind diejenigen, die man urplötzlich hat, weil sie wie eine zwingende Notwendigkeit von einem Besitz ergreifen. Man hat gar keine andere Wahl: Man muss sich konzentrieren, meditieren und über die äußeren Erscheinungen hinausblicken. Ergriffen wird man nicht unbedingt in der Einsamkeit des Waldes. Es geschieht, wenn etwas in dir bereit ist, wenn die Zeit reif ist, wenn du dieses Bedürfnis wahrhaftig verspürst, wenn die Gnade mit dir ist.

Ich habe den Eindruck, dass die Menschheit sich ein Stück weiterentwickelt hat und der wahre Sieg nun im Leben selbst zu erringen ist.

Dazu muss man in der Lage sein, allein mit dem Ewigen und Unendlichen inmitten aller Umstände zu leben. Man muss, begleitet vom Höchsten, inmitten aller Beschäftigungen frei sein können. Das ist der wahre Sieg.

Worte der Mutter

Um das Ausmaß der Täuschung zu sehen, genügt es, von den stürmischen Kräften einen Schritt Abstand zu nehmen und in die ruhigen Regionen einzutreten. Von dort aus sehen die Menschen wie eine Masse blinder Geschöpfe aus, die in alle Richtungen hetzen und ständig übereinander stolpern und zusammenstoßen, ohne zu wissen, was sie tun und warum sie es tun. Und das nennen sie Tätigkeit und Leben! Es ist bloß leere Betriebsamkeit, gewiss kein wirkliches Tätigsein und auch kein wahres Leben.

Ich sagte einmal, man müsse, um nutzbringend zehn Minuten lang zu reden, zehn Tage lang ruhig bleiben. Ich könnte hinzufügen: Um einen Tag lang nützlich zu handeln, muss man sich ein Jahr lang ruhig verhalten. Natürlich spreche ich nicht von den gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens, denn die sind nötig, um es aufrecht zu erhalten. Ich spreche von Menschen, die für die Welt etwas zu tun haben oder meinen, etwas für sie zu tun zu haben. Und das Schweigen, von dem ich spreche, ist die innere Gelassenheit, die nur jene haben, die handeln können, ohne sich mit ihrer Tätigkeit gleichzusetzen und sich in ihr zu verlieren, vom Lärm ihres eigenen Treibens betäubt und geblendet. Halte dich über ihrem Tun, steige auf eine Höhe, die diese zeitlichen Bewegungen überragt, tritt in das Bewusstsein der Ewigkeit ein. Dann wirst du wissen, was wirkliches Handeln ist.