Kapitel 1

Die höchste Entdeckung

Worte der Mutter

Wollen wir einen ganzheitlichen Fortschritt machen, so müssen wir in unserem bewussten Wesen eine starke und reine mentale Synthese begründen, die uns als Schutz gegen die Versuchungen von außen dienen kann, als einen Grenzstein, der uns vor allen Abwegen bewahrt, als ein Leuchtfeuer, das unseren Weg über den bewegten Ozean des Lebens erhellt.

Jeder Einzelne sollte diese mentale Synthese gemäß seinen eigenen Neigungen, Entsprechungen und Bestrebungen begründen. Wollen wir aber, dass sie wirklich lebendig leuchte, so muss sie im Mittelpunkt die Idee enthalten, die für den Verstand die symbolische Darstellung von Dem ist, was zutiefst in unserem Wesen liegt, Dem, was unser Leben und unser Licht ist.

Diese Idee ist in erhabenen Worten unter verschiedenen Formen von allen großen Lehrern in allen Ländern und in jedem Zeitalter verkündet worden.

Das Selbst jedes Einzelnen und das große allumfassende Selbst sind eins.

Wenn alles, was ist, in seiner Essenz und seinem Prinzip von Ewigkeit her ist, warum dann einen Unterschied machen zwischen dem Dasein und seinem Ursprung, zwischen uns selbst und dem, was wir an den Anfang stellen?

Die alten Überlieferungen hatten recht, wenn sie sagten:

„Wir und unser Ursprung, wir und unser Gott sind eins.“

Und diese Einheit sollte nicht nur als eine mehr oder weniger enge und innige Beziehung verstanden werden, sondern als wirkliche Identität.

Versucht daher ein Mensch, der das Göttliche sucht, nach und nach zum Unerreichbaren emporzuklimmen, so vergisst er, dass all sein Wissen und all seine Eingebung ihn in dieser Unendlichkeit nicht einen Schritt weiterbringen können; er weiß nicht, dass jenes, was er erreichen möchte und was er so fern wähnt, in ihm selbst ist.

Denn wie könnte er irgend etwas über den Ursprung wissen, solange er sich nicht jenes Ursprungs in ihm selbst bewusst ist?

Indem er sich selbst versteht, sich selbst kennenlernt, kann er die höchste Entdeckung machen und staunend wie der Patriarch in der Bibel ausrufen: „Hier ist das Haus Gottes, und ich wusste es nicht!“

Darum müssen wir jenen erhabenen Gedanken, Schöpfer der stofflichen Welten, Ausdruck verleihen, auf dass alle das Wort vernehmen, das Himmel und Erde erfüllt: „Ich bin in jedem Ding und in jedem Wesen.“

Wenn dies alle wissen werden, dann ist der verheißene Tag nahe, der Tag der großen Wandlungen. Erkennen die Menschen in jedem Atom der Materie den innewohnenden Gedanken Gottes und nehmen sie in jedem lebendigen Geschöpf den Fingerzeig einer Geste Gottes wahr, vermag jeder Mensch in seinem Nächsten Gott zu sehen, dann wird die Morgendämmerung anbrechen und die Finsternis, die Falschheit, die Unwissenheit, die Irrtümer und das Leiden vertreiben, die auf der ganzen Natur lasten. Denn „die ganze Natur leidet und klagt, während sie auf die Offenbarung der Söhne Gottes wartet.“

Dies ist tatsächlich der Hauptgedanke, der in sich alle anderen zusammenfasst, und der in unserem Gedächtnis stets gegenwärtig sein sollte wie die Sonne, die ihr Licht auf alles Leben wirft.

Darum rufe ich ihn dir heute wieder in Erinnerung. Denn verfolgen wir mit diesem Gedanken unseren Weg, ihn im Herzen tragend wie den seltensten Juwel, den wertvollsten Schatz, und lassen wir zu, dass er sein Werk der Erleuchtung, der Verklärung in uns vorantreibt, dann werden wir erkennen, dass er im Kern jeden Wesens und jeden Dinges lebendig da ist, und in ihm werden wir diese wundervolle Einheit des Weltalls fühlen.

Dann wird uns klar, wie nichtig und kindisch unsere armseligen Befriedigungen, törichten Streitereien, kleinlichen Leidenschaften und blinden Entrüstungen sind. Wir werden sehen, wie unsere kleinen Unzulänglichkeiten dahinschmelzen, die letzten Verschanzungen begrenzter Persönlichkeit und dummer Ichsucht zerbröckeln. Wir werden uns von dem erhabenen Kraftstrom wahrer Spiritualität fortgetragen fühlen, der uns aus den begrenzten Rahmen und engen Schranken heraushebt:

Das individuelle Selbst und das universale Selbst sind eins; in jeder Welt, jedem Wesen, jedem Ding, jedem Atom ist die Göttliche Präsenz, und es ist des Menschen Mission, sie zu offenbaren.

Dazu muss er sich der Göttlichen Präsenz im eigenen Innern bewusst werden. Um dahin zu gelangen, müssen manche eine richtige Lehrzeit durchmachen: ihr egoistisches Wesen ist zu absorbierend, zu verfestigt und konservativ, und ihr Kampf dagegen ist lang und schmerzhaft. Andere jedoch, die unpersönlicher, plastischer und spiritualisierter sind, kommen leicht mit der unerschöpflichen göttlichen Quelle ihres Wesen in Berührung. Doch vergessen wir nicht, dass auch jene sich täglich einer ständigen methodischen Bemühung der Anpassung und Umwandlung unterziehen müssen, so dass nichts in ihnen wiederkehren möge, was das Strahlen dieses reinen Lichts verdunkelt.

Aber wie sehr verändert sich der Blickwinkel sobald wir dies tiefere Bewusstsein erlangt haben! Wie sehr weitet sich das Verständnis, wie wächst das Mitgefühl!

Dazu hat ein Weiser gesagt:

„Ich möchte, dass ein jeder von uns dahin gelangt, wo er den inneren Gott wahrnehmen kann, der auch im verdorbensten Menschen wohnt. Statt diesen zu verdammen, sollten wir sagen: ‚Steige auf, du strahlendes Wesen, das für immer rein ist und weder Geburt noch Tod kennt; steige auf, du Einzig Allmächtiges, und offenbare deine Natur‘!“

Folgen wir dieser schönen Äußerung, und wir werden sehen, wie alles um uns sich wie durch ein Wunder verwandelt.

So verhält sich wahre, bewusste und klarsichtige Liebe, jene Liebe, die hinter die Erscheinungen zu blicken und trotz der Worte zu verstehen weiß, Liebe, die inmitten aller Widerstände mit den Tiefen in ständiger Verbindung steht.

Was wiegen unsere Impulse und Begierden, Ängste und Gewalttätigkeiten, unsere Leiden und Kämpfe, all diese inneren Wechselfälle, die unsere ungeordnete Einbildungskraft ungebührlich dramatisiert – was wiegen sie gegen diese große, erhabene, göttliche Liebe, die sich aus den innersten Tiefen unseres Wesens über uns neigt und uns die Schwächen nachsieht, die Irrtümer berichtigt, die Wunden heilt und unser ganzes Wesen in ihren regenerierenden Strömen badet?

Denn die innere Gottheit drängt sich niemals auf, sie erhebt weder einen Anspruch noch droht sie; sie bietet sich an und sie gibt sich selbst, verbirgt und vergisst sich im Herzen aller Wesen und Dinge; sie tadelt keinen, urteilt, verwünscht und verdammt nie, sondern arbeitet unaufhörlich daran, ohne Zwang zu vervollkommnen, ohne Vorwurf wieder gut zu machen, ohne Ungeduld zu ermutigen und jedermann mit all den Schätzen zu bereichern, die er empfangen kann; sie ist die Mutter, deren Liebe gebiert und nährt, wacht und schützt, rät und tröstet; weil sie alles versteht, erträgt sie alles, entschuldigt und verzeiht alles, erhofft alles, bereitet alles vor. Weil sie alles in sich trägt, hat sie nichts, was nicht allen gehört, und weil sie über alle regiert, ist sie Dienerin von allen; darum werden alle, ob groß oder klein, die mit ihr Könige und in ihr Götter sein möchten, gleich ihr keine Despoten, sondern Diener unter ihren Brüdern.

Wie schön ist diese demütige Rolle des Dieners, diese Rolle all derer, die Offenbarer und Künder des Gottes waren, der in allen ist, der Göttlichen Liebe, die alle Dinge belebt….

Und bis wir ihrem Beispiel folgen und wie sie wahre Diener sein können, lasst uns von dieser Göttlichen Liebe durchdrungen und gewandelt werden, und stellen wir Ihr rückhaltlos dies wundervolle Werkzeug unseres physischen Organismus zur Verfügung! Sie wird es auf jeder Ebene des Wirkens sein Bestes leisten lassen.

Um zu dieser umfassenden Selbst-Weihung zu gelangen, sind alle Mittel gut, haben alle Methoden ihren Wert. Eins ist aber notwendig: auszuharren im Willen, dieses Ziel zu erreichen. Dann werden alle Studien, in die wir uns vertiefen, alle Taten, die wir vollbringen, alle Menschen, denen wir begegnen, uns einen Hinweis, eine Hilfe, ein Licht bringen, die uns weiterführen auf dem Weg.

Bevor ich Ende, will ich noch einiges für jene hinzufügen, die schon manchen scheinbar fruchtlosen Versuch unternommen haben, für jene, die schon mit den Fallgruben auf dem Weg Bekanntschaft gemacht und ihre eigene Schwäche ausgelotet haben, für jene, die Gefahr laufen, Mut und Zuversicht zu verlieren. Um im Herzen der Leiderfüllten wieder Hoffnung zu wecken, wurden diese Seiten von einem spirituellen Arbeiter zu einer Zeit geschrieben, da alle Prüfungen ihn wie läuternde Flammen überfielen.

Die ihr müde und geschwächt und niedergeschlagen seid, die ihr fallt und euch vielleicht für besiegt haltet, vernehmt die Stimme eines Freundes. Er kennt eure Sorgen, er hat sie geteilt, er hat wie ihr an den Übeln der Erde gelitten; wie ihr hat er unter der Last des Tages Wüsten durchquert, Hunger und Durst, Einsamkeit und Verlassenheit gekannt und, am grausamsten von allem, die bittere Entbehrung des Herzens. Ach, auch Stunden des Zweifels hat er gekannt, hat Irrtümer, Fehler, Versagen und alle Schwächen erfahren.

Aber er sagt euch: Mut! Vernehmt die Lehre, die die aufgehende Sonne mit ihren ersten Strahlen allmorgendlich der Erde bringt. Es ist eine Lehre der Hoffnung, eine Botschaft des Trostes.

Die ihr weint, die ihr leidet, die ihr zittert und nicht wagt, das Ende eures Elends, das Nachlassen eurer Schmerzen abzusehen, merkt auf: es gibt keine Nacht ohne Tagesanbruch und wenn die Finsternis am dichtesten ist, steht die Morgendämmerung bevor; keinen Nebel gibt es, den die Sonne nicht vertreibt, keine Wolke, die sie nicht vergoldet, keine Tränen, die sie nicht eines Tages trocknet, keinen Sturm, nach dem nicht ihr Triumphbogen leuchtet, keinen Schnee, den sie nicht schmilzt, keinen Winter, den sie nicht in strahlenden Frühling verwandelt.

Und auch für euch gibt es keinen Kummer, der nicht sein Maß an Glück hervorbringt, keine Niedergeschlagenheit, die sich nicht in Freude verwandeln mag, keine Niederlage, die nicht in einen Sieg, keinen Untergang, der nicht in einen Aufstieg zu größeren Höhen sich wenden lässt, keine Einsamkeit, die nicht zu einem leuchtenden Zentrum des Lebens werden kann, keinen Missklang, der nicht in Harmonie aufzulösen ist – manchmal ist es ein Missverständnis zweier Köpfe, das zwei Herzen dazu zwingt, sich einander in tiefer Übereinstimmung zu öffnen; kurz: keine Schwäche ist so grenzenlos, dass sie sich nicht in Kraft umsetzen könnte. Ja, der Allmacht gefällt es sogar, sich in der allergrößten Schwachheit zu offenbaren!

Höre, mein kleines Kind, das du dir so gebrochen, so gefallen vorkommst und nichts, gar nichts mehr hast, um dein Elend zu verdecken und deinen Stolz zu nähren – niemals zuvor bist du so groß gewesen! Wie nahe ist derjenige den Gipfeln, der in den Tiefen erwacht, denn je tiefer der Abgrund, desto mehr enthüllen sich auch die Höhen!

Weißt du nicht, dass die erhabensten Kräfte der kosmischen Weiten sich die undurchsichtigsten Schleier der Materie zur Kleidung suchen? O glänzende Hochzeit der höchsten Liebe mit ihren dunkelsten Formbarkeiten, des Schattens Sehnsucht mit dem königlichsten Licht!

Haben Feuerproben oder Fehler dich niedergeworfen, bist du in die tiefsten Tiefen des Leidens gesunken, so sei nicht bekümmert, – denn da werden dich die göttliche Liebe und die höchste Segnung erreichen! Weil du durch einen Schmelztiegel läuternder Leiden gegangen bist, erwarten dich die glorreichen Aufstiege.

Du bist in der Wüste: wohlan, lausche den Stimmen des Schweigens. Der Klang schmeichelnder Worte und äußeren Beifalls hat dein Ohr erfreut, aber die Stimmen des Schweigens werden deine Seele beglücken und in dir den Widerhall der Tiefen wecken, den Gesang der göttlichen Harmonien!

Du wanderst in tiefer Nacht: wohlan, sammle da die unermesslichen Schätze der Finsternis. Sonnenschein erhellt die Wege des Verstandes, aber in der Nacht mit ihren weißen Heiligkeiten liegen die verborgenen Pfade der Vollendung, das Geheimnis spirituellen Reichtums.

Dir ist alles weggenommen worden: das ist der Weg, der zur Fülle führt. Wenn dir nichts mehr bleibt, wird dir alles gegeben. Denn wer aufrichtig und gerade ist, dem erwächst aus dem Schlimmsten immer das Beste.

Jedes in die Erde gepflanzte Korn bringt tausend hervor. Jeder Flügelschlag des Leides kann ein Aufschwung zur Herrlichkeit sein.

Und wenn der Widersacher gegen den Menschen wütet, macht alles, was dieser zu seiner Vernichtung unternimmt, ihn nur größer.

Vernimm die Geschichte der Welten, sieh, wie der große Feind zu triumphieren scheint! Er wirft die Geschöpfe des Lichts in die Nacht und die Nacht füllt sich mit Sternen. Er tobt mit wachsender Wut gegen das kosmische Werk, greift die Unversehrtheit des Reiches der Ursphäre an, erschüttert seine Harmonie, teilt und unterteilt es, streut seinen Staub in die vier Winde der Unendlichkeit und siehe da, der Staub verwandelt sich in eine goldene Saat, die das Unendliche befruchtet und es mit Welten bevölkert, die von nun an ihren ewigen Mittelpunkt in größeren Bahnen des Raumes umkreisen werden –, so dass selbst Teilung eine reichere und tiefere Einheit hervorbringt und indem sie die Oberflächen des stofflichen Universums vervielfacht, erweitert sie das Reich, das sie zerstören wollte.

Schön, ohne Zweifel, war der Gesang der ursprünglichen Sphäre, im Schoss der Unermesslichkeit gewiegt. Aber wie viel schöner und triumphaler ist die Sinfonie der Konstellationen, die Musik der Sphären, der unermessliche Choral, der die Himmel mit ewiger Siegeshymne erfüllt!

Höre weiter: Kein Zustand war je bedenklicher als der des Menschen, als er auf Erden von seinem göttlichen Ursprung getrennt war. Über ihm erstreckte sich die feindliche Front des Usurpators, und an den Pforten seines Horizonts wachten Kerkermeister, bewaffnet mit flammenden Schwertern. Weil er nicht mehr zur Quelle des Lebens emporsteigen konnte, sprang die Quelle in seinem Innern auf; weil er nicht mehr das Licht von oben empfangen konnte, leuchtete das Licht im Kern seines Wesens auf; weil er nicht mehr mit der jenseitigen Liebe Gemeinschaft haben konnte, brachte die Liebe sich selbst zum Opfer und erkor jedes irdische Wesen, jedes menschliche Selbst zu ihrer Wohnstätte und ihrem Heiligtum.

In dieser verachteten und dennoch fruchtbaren, elenden und dennoch gesegneten Materie beherbergt daher jedes Atom einen göttlichen Gedanken, trägt jedes Wesen in sich den Göttlichen Bewohner. Und ist auch im ganzen Weltall nichts so zerbrechlich wie der Mensch, so ist gleichermaßen nichts so göttlich wie er!

Wahrlich, wahrlich, in der Demut liegt die Wiege der Herrlichkeit!

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