Kapitel 1
Das Ego und seine Beschaffenheit
Was ist das Ego?
Das „Ich“ oder das kleine Ego wird von der Natur geformt und ist gleicherweise ein mentales, vitales und physisches Gebilde, dazu bestimmt, das nach außen gerichtete Bewusstsein und die nach außen gerichtete Tat zu zentralisieren und zu individualisieren. Sobald das wahre Wesen entdeckt wird, ist der Zweck des Egos erfüllt, und dieses Gebilde muss verschwinden – an seiner Stelle wird das wahre Wesen gefühlt.
Das Ego ist nur eine vom unterscheidenden Mental in den Vordergrund gerückte Fähigkeit, die Erfahrungen des empfindenden Mentals um sich zu sammeln und wie eine Radnabe die Bewegung zusammenzuhalten. Das Ego ist weiter nichts als ein Instrument, obzwar wir, solange wir in den Grenzen unserer normalen Mentalität leben, von der Natur dieser Mentalität und dem Zweck des Instruments her gezwungen sind, unsere Egofunktion irrtümlich für unser eigentliches Selbst halten.
Ursache unseres In-der-Welt-Seins ist also nicht, wie unsere jetzige Erfahrung uns glauben machen will, unser Ego. Das Ego ist nur Ergebnis und Folgeerscheinung unserer Art des In-der-Welt-Seins. Es ist eine Beziehung, die der Purusha, der Besitzer vieler Seelen, zwischen dem individualisierten Mental und dem Körper der einzelnen Seelen hergestellt hat: eine Beziehung der Selbst-Verteidigung, der gegenseitigen Ausschließung und Aggression, damit diese unter all den Abhängigkeiten voneinander, in denen sich die Geschöpfe in der Welt befinden, die Möglichkeit haben, eine unabhängige physische und mentale Erfahrung zu machen.
Was bildet unseren Ego-Sinn?
Was ist aber diese stark trennende Selbst-Erfahrung, die wir Ego nennen? Sie ist nichts fundamental Reales, sondern nur eine praktische Konstitution unseres Bewusstseins, dazu bestimmt, die Wirkensweisen der Natur in uns zu zentralisieren. Wir erkennen eine Formation mentaler, physischer, vitaler Erfahrung, die sich von den übrigen Wesen unterscheidet. Wir denken, das sei unser Selbst seiner Natur nach – die Individualisierung von Wesen im Werden. Von da gehen wir weiter und verstehen uns als etwas, das sich so individualisiert hat und nur so lange existiert, als es individualisiert ist, ein nur zeitweiliges – vorläufiges oder höchstens zeitliches, vergängliches Werden. Oder wir begreifen unser Selbst als jemanden, der die Individualisierung fördert oder verursacht, vielleicht als ein unsterbliches Wesen, das aber durch seine Individualität begrenzt ist. Diese Auffassung und dieses Verstehen bilden unseren Ich-Sinn. Normalerweise gehen wir in der Erkenntnis unseres individuellen Daseins nicht weiter.
Schließlich müssen wir aber einsehen, dass unsere Individualisierung nur eine Gestalt unserer äußeren Person ist, eine praktische Auswahl, eine begrenzte bewusste Synthese für die zeitweilige Verwendung von Leben in einem besonderen Körper. Oder sie ist eine ständig wechselnde und sich entwickelnde Synthese, die sich durch aufeinanderfolgende Lebensabläufe in aufeinanderfolgenden Körpern vollzieht. Hinter ihr steht ein Bewusstsein, ein Purusha, der durch seine Individualisierung oder durch seine Synthese nicht bestimmt oder begrenzt wird. Im Gegenteil, er determiniert und unterstützt sie, ist selbst aber doch immer größer als sie. Das, woraus er seine Auswahl trifft, um diese Synthese zu konstruieren, ist eine totale Erfahrung des Welt-Wesens. Darum existiert unsere Individualisierung kraft des Welt-Wesens, aber auch kraft eines Bewusstseins, das das Welt-Wesen benutzt, um seine Möglichkeiten von Individualität zu erfahren.