Kapitel 8
Breche aus dem Gefängnis aus
Worte der Mutter
Die Beurteilung von Menschen gehört zu den Dingen, die als erstes vollkommen aus dem Bewusstsein hinweggefegt werden müssen, bevor man auch nur einen Schritt auf dem supramentalen Weg tun kann, weil das kein materieller Fortschritt ist, kein körperlicher Fortschritt, es ist lediglich ein kleiner Fortschritt des Denkens, ein mentaler Fortschritt. Und wenn man aus dem Mental nicht seine ganze Unwissenheit hinausgefegt hat, kann man nicht hoffen, einen Schritt auf dem supramentalen Weg zu tun.
In Wirklichkeit hast du etwas Furchtbares gesagt. Als du sagtest, „Ich kann mich nicht an seine Seele wenden, wenn er ein Rohling ist“, hast du dich preisgegeben … du hast dir ein Etikett aufgeklebt. Das ist es.
Alle, die wirklich und wahrhaftig die Erfahrung der göttlichen Gegenwart hatten, alle, die wirklich einen Kontakt mit dem Göttlichen hatten, haben immer dasselbe gesagt, dass man manchmal – sogar sehr oft – im Verruftesten und Verachtetsten und im von der menschlichen „Vernünftigkeit“ am meisten Verdammten den Glanz des göttlichen Lichtes sehen kann.
Das sind keine Worte, das sind lebendige Erfahrungen.
Alle diese Begriffe von Gut und Böse, Gut und Schlecht, Höher und Niedriger, das sind alles Begriffe, die der Unwissenheit des menschlichen Mentals angehören, und wenn man mit dem göttlichen Leben in Berührung kommen will, muss man sich ganz von dieser Unwissenheit befreien, man muss sich in einen Bewusstseinsbereich emporschwingen, wo diese Dinge keine Wirklichkeit haben. Das Gefühl der Über- oder Unterlegenheit verschwindet vollkommen, es wird durch etwas Anderes ersetzt, das von ganz anderer Art ist – eine Art Fähigkeit, die Erscheinungen zu filtern, durch die Masken hindurchzugehen, den Standpunkt zu verlagern.
Und das sind nicht nur Worte, es ist einfach wahr, dass alles seine Erscheinung ändert, total, dass das Leben, die Dinge ganz anders sind, als sie erscheinen.
Dieser ganze Kontakt, diese gewöhnliche Wahrnehmung der Welt – sie verlieren vollkommen ihre Wirklichkeit. Dies erscheint unwirklich, fantastisch, illusorisch, wie nicht vorhanden. Es gibt etwas – etwas sehr Materielles, sehr Konkretes, sehr Physisches –, das die Wirklichkeit des Wesens wird und das nichts mit dem normalen Sehen zu tun hat. Wenn man diese Wahrnehmung hat, die Wahrnehmung des Wirkens der göttlichen Kraft, der Bewegung, die hinter der Erscheinung, in der Erscheinung, durch die Erscheinung entsteht, beginnt man, etwas wahrer als die normale menschliche Falschheit zu leben. Aber nicht vorher.
Es gibt keinen Kompromiss, nicht wahr. Das ist nicht wie die Genesung nach einer Krankheit: Man muss in einer anderen Welt leben. Solange dein Mental für dich real ist, solange deine Art zu denken für dich etwas Wahres, Wirkliches, Konkretes ist, beweist das, dass du noch nicht dort bist. Man muss zuerst auf die andere Seite hinüber. Danach wirst du verstehen können, was ich sage.
Geh auf die andere Seite hinüber!
Es ist nicht wahr, dass man nach und nach verstehen kann, so ist es nicht. Diese Art Fortschritt ist nicht so. Wahrer ist es, dass man in einem Gehäuse eingeschlossen ist und dass in dem Gehäuse etwas geschieht, wie bei einem Küken im Ei. Es ist dabei, sich darin vorzubereiten. Es ist im Ei. Man sieht es nicht. In der Schale geht etwas vor sich, aber außen sieht man nichts. Und erst wenn alles bereit ist, kommt die Befähigung, das Gehäuse zu durchstoßen und in das Licht des Tages hineingeboren zu werden.
Es ist nicht so, dass man immer wahrnehmbarer, sichtbarer wird: Man ist eingeschlossen – eingeschlossen –, und sensible Menschen haben sogar diese schreckliche Empfindung, dass man eingezwängt ist, dass man versucht, so hindurchzugehen, und dann steht man vor einer Wand. Und dann schlägt man dagegen, schlägt und schlägt, und man kommt nicht durch.
Und solange man sich darin befindet, ist man in der Falschheit. Und erst an dem Tag, an dem man durch die Göttliche Gnade das Gehäuse zerbrechen und in das Licht hinaustreten kann, ist man frei.
Das kann plötzlich geschehen, spontan, völlig unerwartet.
Ich glaube nicht, dass man allmählich durchbrechen kann. Ich glaube nicht, dass es etwas ist, das sich nach und nach abnutzt und mit der Zeit so dünn wird, dass man hindurchsehen kann. Ich kenne bisher keinen Fall dafür. Es ist vielmehr eine Art Ansammlung von Kraft im Inneren, eine Intensivierung des Bedürfnisses und eine Ausdauer in der Anstrengung, die frei wird von aller Furcht, von aller Angst, von aller Berechnung, ein so zwingendes Bedürfnis, dass man sich nicht um die Konsequenzen sorgt.
Man ist wie Sprengstoff, dem nichts widerstehen kann, und man bricht aus seinem Gefängnis aus in ein blendendes Licht.
Danach kann man nicht mehr zurückfallen.
Es ist wahrlich eine neue Geburt.

Kapitel 9
Der Weg zu einer neuen Geburt
Worte Sri Aurobindos
Bei unserem Yoga nehmen wir uns vor, das begrenzte, nach außen schauende Ego zu verbannen und an seiner Stelle Gott als den regierenden Bewohner der Natur auf den Thron zu erheben. Das bedeutet in erster Linie, dass wir das Begehren enterben und den Genuss der Begierden nicht länger als das vorherrschende menschliche Motiv anerkennen. Das spirituelle Leben muss das, was es zu seiner Förderung benötigt, nicht aus dem Begehren beziehen, sondern aus einer reinen selbstlosen spirituellen Wonne eines wesenhaften Daseins. Einer neuen Geburt und Umgestaltung muss sich nicht nur die vitale Natur in uns unterziehen, die durch das Begehren geprägt wird, sondern ebenso das mentale Wesen. Unser zerteiltes, egoistisches, begrenztes und unwissendes Denken mit seiner Intelligenz muss verschwinden. An seine Stelle muss das allumfassende fehlerlose Spiel einer schattenlosen göttlichen Erleuchtung einströmen, die schließlich ihre Vollendung in einem natürlichen, aus dem Selbst existierenden Wahrheitsbewusstsein finden muss, das von der tastenden Halbwahrheit und dem strauchelnden Irrtum frei ist. Aufhören muss dann unser verworrenes und gehemmtes, im Ego zentriertes, von kleinlichen Motiven getriebenes Wollen und Handeln. Es muss einer göttlich motivierten und gelenkten Kraft Platz machen, damit diese total, rasch, mächtig und lichtvoll automatisch wirken kann. Es muss in all unser Tun ein höchster, apersonaler, unerschrockener und unbeirrbarer Wille eingepflanzt und dort aktiviert werden, der in spontanem und harmonischem Einklang mit dem Willen des Göttlichen steht. Das unbefriedigende oberflächliche Spiel unserer schwachen egoistischen Gemütsbewegungen muss ausgeschaltet werden. Statt den Gemütsbewegungen muss sich ein weites seelisches Herz aus seinen geheimen Tiefen offenbaren, das im Inneren, hinter jenen Gefühlen, auf seine Stunde wartet. Dann werden alle unsere Empfindungen, die von diesem innersten Herzen, dem Sitz des Göttlichen, angeregt werden, in die ruhigen, intensiven Regungen einer Zwillingsleidenschaft der göttlichen Liebe und des vielfältigen Ananda umgewandelt werden. Auf diese Weise lässt sich eine göttlich gewordene Menschheit oder ein supramentales Menschentum definieren. Das – und nicht eine auf die Spitze getriebene und stark sublimierte Energie menschlichen Intellekts und Handelns – stellt den Typus des Übermenschen dar, dessen Evolution wir durch unseren Yoga zu bewirken berufen sind.
Im gewöhnlichen menschlichen Dasein macht ein auf die Außenwelt gerichtetes Handeln offensichtlich drei Viertel oder noch mehr unseres Lebens aus. Überwiegend in sich selbst können nur die Ausnahmemenschen leben: der Heilige und der Seher, der ungewöhnliche Denker, der Dichter und Künstler. Diese gestalten sich, zumindest in den wesenhaften Teilen ihrer Natur, mehr in einem inneren Denken und Fühlen als in einem Wirken nach außen. Doch sind diese beiden Seiten nicht voneinander getrennt, sondern eher ist die Harmonie des Inneren und die des äußeren Lebens in Fülle eins geworden und umgestaltet in ein Spiel dessen, das über beiden liegt und das die Form vollkommenen Lebens schaffen wird. Darum ist der Yoga des Wirkens ein unerlässliches, unvergleichlich wichtiges Element eines Integralen Yoga: das Einswerden mit dem Göttlichen in unserem Wollen und Handeln, nicht nur im Wissen und in den Gemütsbewegungen. Wir hätten nur Stückwerk vollbracht, wenn wir allein unser Denken und Fühlen umgestaltet hätten ohne entsprechende Verwandlung von Geist und Körper unseres Wirkens.
Wenn aber diese totale Umkehrung geleistet werden soll, muss es zu einer Darbringung an das Göttliche ebenso sehr unserer Handlungen und äußeren Betätigungen wie auch unseres Mentals und unseres Herzens kommen. Wir müssen es akzeptieren und fortschreitend leisten, dass wir unsere Befähigung zum Wirken einer hinter uns waltenden höheren Macht überantworten. Dabei muss das Empfinden, wir seien der Handelnde und Täter, verschwinden. Alles muss zu einer direkten Verwendung in die Hand des göttlichen Willens gelegt werden, der durch diese Erscheinungen im Vordergrund noch verdeckt ist. Unser Handeln ist ja erst dadurch möglich, dass jener Wille es zulässt. Eine verborgene Macht ist der wahre Herr und souveräne Beobachter unserer Handlungen, und sie allein besitzt das Wissen von ihrem vollständigen Sinn und letzten Zweck, mitten in all unserer Unwissenheit, Verkehrtheit und Entstellung, die durch das Ego hereingebracht wird. Wir müssen also eine vollständige Transformation unseres begrenzten, entstellten, egoistischen Lebens und Wirkens zustande bringen, so dass in breitem und direktem Strömen ein höheres göttliches Leben mit seinem Willen und seiner Energie hervortreten kann, das uns jetzt insgeheim fördert und erhält. Dieser höhere Wille und diese größere Energie müssen in uns bewusst und beherrschend werden. Diese Kraft darf nicht, wie bisher, nur eine überbewusste, unser Dasein erhaltende und zulassende Kraft bleiben. Wir müssen es erreichen, dass die allweise Absicht und das Verfahren einer jetzt noch verborgenen allwissenden Macht und eines allmächtigen Wissens ohne Entstellung durch uns hindurchgeleitet werden kann. Diese wird unsere ganze umgewandelte Natur zu ihrem Übermittler machen, der dieser Macht geläutert und ohne Widerstand freudig zustimmt und an ihr teilnimmt. Die grundlegenden Mittel und das letzte Ziel eines integralen Karma-Yoga sind also diese totale Darbringung und Hingabe sowie die daraus sich ergebende völlige Transformation und freie Transmission.

Kapitel 10
Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt
Worte Sri Aurobindos
Aller Yoga ist seiner Natur nach eine neue Geburt; er ist eine Geburt aus dem gewöhnlichen, dem mentalisierten materiellen Leben des Menschen hinein in ein höheres spirituelles Bewusstsein und in ein größeres und göttlicheres Wesen. Man kann keinen Yoga erfolgreich unternehmen und ihm folgen, wenn es nicht zu diesem starken Erwachen der Notwendigkeit jenes umfassenderen spirituellen Daseins kommt. Die zu dieser tiefen und weiten Umwandlung aufgerufene Seele kann auf verschiedene Weise zum Ausgangspunkt des Weges gelangen. Sie mag durch ihre eigene natürliche Entwicklung, die sie unbewusst zum Aufwachen hinleitete, dorthin kommen. Sie kann das auch durch den Einfluss einer Religion oder die Anziehungskraft einer Philosophie erreichen. Sie nähert sich ihm etwa durch eine langsame Erleuchtung, oder sie schwingt sich infolge einer plötzlichen Berührung oder durch eine Erschütterung dorthin empor. Es kann auch sein, dass sie durch den Druck äußerer Umstände oder durch eine innere Notwendigkeit darauf gestoßen oder dorthin geführt wird, etwa durch ein einziges Wort, das die Siegel des Mentals zerbricht, oder es kann durch eine lange Reflektion geschehen, durch das ferne Beispiel eines Menschen, der diesen Pfad gegangen ist, oder durch täglichen Kontakt und Einfluss. Der Ruf zur neuen Geburt wird im Einklang mit der Natur und den Umständen kommen.
Auf welchem Wege er auch kommt, das Mental und der Wille müssen sich entscheiden; als Ergebnis davon muss eine völlige und effektive Weihung seiner selbst geleistet werden. Der entscheidende Akt, der wie in einem Samenkorn alle Resultate, die der Yoga zu geben hat, in sich trägt, ist die Annahme einer neuen spirituellen Ideenkraft, die Orientierung unseres Wesens nach oben hin, eine Erleuchtung, eine Hinwendung oder Umkehr, die man mit dem Willen und mit der Aspiration des Herzens festhält. Die bloße Idee oder ein intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, Jenseitigem ist, so stark das auch mit dem Interesse des Mentals ergriffen wird, doch unwirksam, wenn das Herz es nicht als das festhält, was allein begehrenswert ist, und wenn der Wille dieses Einzige nicht als das annimmt, was getan werden muss. Denn die Wahrheit des Geistes soll nicht bloß gedacht, sondern muss gelebt werden. Sie zu leben erfordert aber die auf ein einziges Ziel hin zur Einheit zusammengefasste Konzentration unseres mentalen Wesens. Eine so große Umwandlung, wie sie durch den Yoga vorgesehen ist, kann nicht durch einen zerteilten Willen, durch einen kleinen Teil unserer Energie oder durch ein zögerndes Mental bewirkt werden. Wer das Göttliche sucht, muss sich ganz Gott weihen und nur Gott allein.
Wenn die Umwandlung durch einen überwältigenden Einfluss plötzlich und entscheidend eintritt, gibt es keine wesentliche oder dauernde Schwierigkeit mehr. Dann folgt die Entscheidung dem Gedanken oder fällt mit ihm zusammen, und die Selbst-Weihung bekräftigt die getroffene Wahl. Der Fuß ist nun bereits auf den Pfad gesetzt, auch wenn man anfänglich noch mit ungewissen Schritten geht, wenn man den Weg vielleicht zuerst nur dunkel sieht und wenn die Erkenntnis des Zieles noch unvollkommen ist. Der geheime Lehrer, der innere Lenker ist nun schon am Werk, wenn er sich vielleicht auch noch nicht offenbart oder noch nicht in der Person seines menschlichen Repräsentanten erscheint. Keine der Schwierigkeiten und Unschlüssigkeiten, die noch folgen mögen, können am Ende etwas gegen die Macht der Erfahrung ausrichten, die den Lauf des Lebens umgelenkt hat. Wenn die Berufung einmal zur Entscheidung führte, bleibt sie fest bestehen. Was geboren wurde, kann durch nichts mehr erstickt werden. Auch wenn die Macht der Umstände es anfänglich verhindert, dass man das Ziel regelmäßig verfolgt oder sich von Anfang an tatsächlich ganz darbringt, hat das Mental doch seine neue Richtung eingeschlagen und beharrt nun mit einer ständig zunehmenden Wirkungskraft auf seinem vordringlichen Anliegen oder kehrt zu ihm zurück. Mit einer unausweichlichen Beharrlichkeit besteht das innere Wesen darauf, und alle Umstände sind letztlich dagegen machtlos. Keine Schwäche in der Natur kann auf die Dauer zum Hindernis werden.
Der Anfang verläuft jedoch nicht immer auf diese Weise. Oft wird der Sadhaka nur schrittweise geführt. Dann liegt eine lange Zeitspanne zwischen der ersten Hinwendung des Mentals und der völligen Zustimmung der menschlichen Natur zu dem Ziel, dem es sich zuwendet. Zuerst mag da nur ein lebhaftes intellektuelles Interesse vorherrschen, durch das man mit aller Gewalt zu der Idee und zu einer unvollkommenen Form der Praxis hingezogen wird. Vielleicht handelt es sich auch um ein Bemühen, das nicht von der ganzen Natur begünstigt wird, um eine Entscheidung oder eine Wendung, die durch einen intellektuellen Einfluss auferlegt oder durch die persönliche Zuneigung und Bewunderung für jemand diktiert wird, der sich selbst dem Höchsten geweiht und ergeben hat. In solchen Fällen kann eine lange Vorbereitungszeit notwendig sein, bevor es zur unwiderruflichen Weihung seiner selbst kommt; in manchen Fällen mag sie gar nicht eintreten. Vielleicht macht man gewisse Fortschritte. Es kann eine mächtige Anstrengung und sogar eine weitgehende Läuterung vorhanden sein, auch viele Erfahrungen anderer Art als die zentralen und höchsten, aber das Leben verweilt entweder in der Vorbereitung, oder das Mental wird, wenn es eine gewisse Stufe erreicht hat, nur noch von einer ungenügenden Antriebskraft weitergedrängt und bleibt dann vielleicht zufrieden vor der Grenze der ihm möglichen Anstrengung stecken. Vielleicht sinkt es auch in das frühere niedrigere Leben zurück. In der gewöhnlichen Yoga-Sprache nennt man das „ein Hinunterfallen vom Pfad“. Dieses Abgleiten tritt deshalb ein, weil im eigentlichen Zentrum ein Fehler sitzt. Zwar war der Intellekt interessiert, das Herz angezogen, und der Wille hatte sich voll eingesetzt. Jedoch war nicht die ganze Natur vom Göttlichen zu seinem Gefangenen gemacht worden. Sie hatte sich nur eben in jenes Interesse, jene Hinneigung oder jenes Bemühen gefügt. Es war ein Experiment, vielleicht sogar ein eifrig betriebenes Experiment gewesen. Man hatte sich aber nicht total an ein zwingendes Bedürfnis der Seele oder an ein unaufgebbares Ideal hingegeben. Auch ein solcher unvollkommener Yoga ist gewiss nicht nutzlos vertan. Denn kein Bemühen, über sich hinauszukommen, wird vergebens unternommen. Selbst wenn es im Augenblick misslingt oder nur zu einer vorbereitenden Stufe oder einer vorläufigen Verwirklichung führt, hat es doch über die Zukunft der Seele entschieden.
Wollen wir aber die günstige Gelegenheit, die uns dieses Leben bietet, bestens nutzen, streben wir danach, den Ruf, den wir empfangen haben, in der angemessenen Weise zu beantworten und das Ziel, das wir flüchtig schauten, wirklich zu erreichen; und bewegen wir uns nicht nur ein wenig in der Richtung auf es hin, dann ist es wesentlich, dass ein völliges Sich-Selbst-Geben geleistet wird. Das Geheimnis des Erfolges im Yoga liegt darin, dass wir ihn nicht nur als eines der Ziele ansehen, die wir im Leben verfolgen, sondern als das eine und einzige Ziel, nicht als einen bedeutenden Teil des Lebens, sondern als das Ganze des Lebens.

Kapitel 11
Die Geburten des Geistes
Worte Sri Aurobindos
Es sei jedoch bemerkt, dass das Sich-Öffnen nach oben nicht notwendigerweise allein zu Frieden, Schweigen und dem Nirvana führt. Der Sadhak nimmt nicht nur einen großen, unter Umständen unendlichen Frieden, ein Schweigen, eine Weite über sich wahr, gleichsam über dem Kopf und sich in den ganzen physischen und überphysischen Raum ausdehnend, sondern er kann auch andere Dinge wahrnehmen – eine weite Kraft, in der alle Macht, ein weites Licht, in dem alles Wissen enthalten ist, einen weiten Ananda, in dem alle Seligkeit und alles Entzücken ist. Zunächst erscheinen sie als etwas Essentielles, Undefinierbares, Absolutes, Einfaches, kevala; Nirvana scheint in jedem dieser Dinge möglich zu sein. Wir können aber auch zu der Erkenntnis gelangen, dass diese Kraft alle Kräfte enthält, dieses Licht alles Licht, dieser Ananda jede nur erdenkliche Freude und Seligkeit. Und all das kann in uns herabkommen. Jedes dieser Dinge kann einzeln und alle können zusammen herabkommen, nicht nur der Friede allein; es ist freilich am ungefährlichsten, zuerst eine absolute Ruhe, einen absoluten Frieden herabzubringen, denn das macht die Herabkunft des Übrigen sicherer; im anderen Fall könnte es der äußeren menschlichen Natur Schwierigkeiten bereiten, soviel Kraft, Licht, Wissen oder Ananda aufzunehmen oder zu ertragen. Alle diese Dinge zusammen machen das aus, was wir das höhere spirituelle oder göttliche Bewusstsein nennen. Das seelische Sich-Öffnen im Herzen setzt uns vor allem in Verbindung mit dem individuellen Göttlichen, dem Göttlichen in seiner inneren Beziehung zu uns; es ist im Besonderen die Quelle der Liebe und bhakti. Das Sich-Öffnen nach oben setzt uns in direkte Verbindung mit dem ganzen Göttlichen und kann in uns das göttliche Bewusstsein und eine neue Geburt oder die Geburten des Geistes hervorrufen.

Kapitel 12
Zwei Stufen der neuen Geburt
Worte Sri Aurobindos
Ein solcher Übergang aus dem menschlichen in den göttlichen Status, aus unserer zerteilten und disharmonischen Natur zu dem Einen, aus der äußeren Erscheinung in die ewige Wahrheit, eine so totale Wiedergeburt oder neue Geburt der Seele muss sich notwendigerweise in zwei Stufen vollziehen, eine als die Vorbereitung, in der die Seele und ihre Instrumente tauglich werden müssen, die andere als Erleuchtung und Verwirklichung in der zubereiteten Seele mittels geeigneter Instrumente. Es gibt keine strenge Abgrenzung in der Aufeinanderfolge der Zeit zwischen diesen beiden Stufen. Vielmehr sind sie füreinander notwendig, und beide bestehen gleichzeitig nebeneinander. In dem Maße, in dem die Seele dazu aufnahmefähig wird, nimmt in ihr einerseits die Erleuchtung zu und steigt zu immer höheren, vollständigeren Verwirklichungen empor. Andererseits wird sie in dem Maße, wie Erleuchtung und Verwirklichung zunehmen, immer empfänglicher, und ihre Instrumente werden immer besser ihrer Aufgabe angepasst. Auch bei der Seele gibt es Perioden einer unerleuchteten Vorbereitung und Zeiten des erleuchteten Wachsens. Es treten Augenblicke in der Seele ein, die eine höchste Höhe darstellen, da sie mehr oder minder lange im Besitz der Erleuchtung ist, und vorübergehende Momente wie das Aufleuchten eines Blitzes, die die ganze spirituelle Zukunft umwandeln. Wieder andere Erfahrungen dehnen sich über viele menschliche Stunden, Tage und Wochen aus, da beständig das Licht der Sonne der Wahrheit aufflammt. Durch alle diese Erleuchtungen hindurch wächst die Seele, wenn sie sich einmal Gott ganz zugewandt hat, zur Dauer und Vollkommenheit ihrer neuen Geburt und ihrer wahren Existenz.
Bei dieser Vorbereitung ist in erster Linie die Läuterung aller Teile unseres Wesens notwendig… Es muss zu einer integralen Läuterung kommen.
