Kapitel 3
Was muss getan werden?
Die Schöpfung folgt ihren Evolutionszyklen und man sagt, dass am Ende jedes Zyklus ein Pralaya stattfindet – eine Auslöschung des bestehenden Bewusstseinsgrades oder der Spezien, die dieses Bewusstsein verkörpern. Dann ist die ganze Vergangenheit getilgt, von der Oberfläche der Schöpfung weggespült, und die nächste neue Phase beginnt.
Wir alle kennen die Geschichte eines dieser Zyklen, vielmehr haben wir ihn erlebt. Ich meine den gegenwärtigen Zyklus, der, obschon vergangen und gewissermaßen tot, noch immer gegenwärtig ist. Wir wissen, dass Materie sich aus dem Äther entwickelte, aus toter Materie ging Leben hervor und aus Leben evolvierte das Mental. Dies ist uns bekannt, – obschon wir nicht genau wissen, wie Leben lebloser Materie entspringen oder das Mental in mentalloses Leben gelangen konnte, das heißt in tierisches Leben. Es gibt so viele „Wie“ und noch viel mehr mögliche und unmögliche Antworten.
Wir können sagen, vielmehr Sri Aurobindo und die Mutter sagten uns, dass es zwei Prozesse gab. Einerseits war ein Same des nächsten Bewusstseinszustandes von Anfang an im jetzigen enthalten, er lag sozusagen schlafend. Andererseits kam von oben, aus der Umgebung oder von irgendwo her ein Blitz oder eine Kraft desselben neu entstehenden Bewusstseins in die Atmosphäre herab, unter deren Druck der schlafende Same erwachte und aufstieg, um sein anderes Selbst oben zu treffen. Beide schufen eine neue Entwicklungslinie.
So entsprang aus der Materie das Leben, aus dem Belebten das Mental, – und der Mensch war geboren. Ja, der Mensch ist bis jetzt der höchste Gipfel der irdischen Evolution. In ihm scheint das Mental oder das mentale Bewusstsein seine größtmögliche Höhe erreicht zu haben. Aber der Mensch ist noch nicht vollständig ein mentales Wesen, er ist eher ein mentales Tier. Das Mental ist noch nicht der Meister seines Adhara, Gefäßes. Der wahre Meister, der die mentalen Fähigkeiten beherrscht und handhabt, ist das Lebensprinzip, das Tier in ihm, sein vitales Wesen, welches wiederum ein Sklave seiner undurchsichtigen, rohen Materie ist. Daher ist der Mensch trotz all seiner mentalen Brillanz eine gefährliche Kreatur, – gefährlich, weil sein Vital ihn zur Zerstörung seines eigenen Selbst und seiner gesamten Umgebung verleitet. Der Mensch ist ein seltsames Experiment der Natur.
So verläuft bis jetzt das Wachstum oder der Fortschritt in der Evolution von größerer zu geringerer Dunkelheit, von größerer zu geringerer Ignoranz, von größerem zu geringerem Leid, obschon etwas anderes, dessen eigentliche Essenz Freude, Bewusstsein und reines Sein ist, den Prozess die ganze Zeit aus dem Hintergrund unterstützt und genährt hat. Es gab Blitze herrlicher Erleuchtung, Aufwallungen – obgleich vorübergehend – von strahlender Freude und Harmonie, große Überflutungen von überwältigender Kraft und Kreativität. Aber alles in allem war es als Schöpfung oder Existenzform weit von makelloser Vollkommenheit entfernt. Selbst der Mensch wird sich nie träumen lassen, dass er der höchste Gipfel des Entwicklungsweges sei. Soweit nun, was kommt als Nächstes?
Der nächste Schritt sollte logischerweise über das Mental hinausgehen. Es sollte eine Schöpfung sein, die auf etwas Besserem und Größerem basiert. Sri Aurobindo hat uns angekündigt, dass es ein neuer auf Wahrheit basierender Evolutionszyklus sein wird – ein Wachsen in Wahrheit, ein Fortschreiten zu immer größerer Wahrheit, von Licht zu größerem Licht und von Freude zu größerer Freude.
Zunächst musste das neue Wahrheits-Bewusstsein – Sri Aurobindo nannte es Supramental – in die Erdatmosphäre gebracht werden, damit es die tief in der Schöpfung verborgen liegende innerste Wahrheit erwecken konnte. Und um dieses Werk zu vollbringen, kamen Sri Aurobindo und die Mutter in menschlicher Form auf die Erde. Sie repräsentierten so nicht nur die Menschheit mit allen ihren menschlichen Bewusstseinselementen, sondern ebenso die ganze in ihr angelegte Erd-Natur. Sie hielten sich für die Erde und Menschheit bereit, das zu empfangen, was herabkommen sollte. Sie riefen es herab, etablierten es in dieser Atmosphäre und zogen sich zurück, denn das Werk, für das sie die materielle Form angenommen hatten, war getan.
Ja, die Mission war erfüllt. Nun wird das neue Bewusstsein sich ausbreiten und seinen Platz finden. Es ist das Wahrheits-Bewusstsein. Schon allein durch seine Gegenwart stört es zwangsläufig den Rhythmus von Unwissenheit und Falschheit. Es zerbricht und vernichtet die der Wahrheit entgegenstehenden Formationen, zerstört alles, was ihr trotzt und unvereinbar mit ihr ist. Dies ist das unvermeidliche Resultat.
Mutter und Sri Aurobindo taten in ihrem unendlichen Mitgefühl, dessen nur das Göttliche fähig ist, noch mehr: Sie kannten die letzte unvermeidliche Wirkung der Wahrheit auf die Unwahrheit. Darum streckten sie ihre liebenden Arme aus, um die unwissenden Kinder vor diesem Schicksal der Vernichtung zu retten. Sie wollten für sie direkt unter den Flügeln der Wahrheit einen sicheren Ort erschaffen, in der Hoffnung, dass sie den Schutz annehmen würden. Und um mit diesem göttlichen Einsatz den Menschen zu dienen und ihnen zu helfen, begleiteten einige wenige Seelen sie.
Mutter und Sri Aurobindo boten ihre physische Form und Gegenwart als Leiter an, um hoch zu klettern – nein, um hoch getragen zu werden. Sie gestalteten die Dinge so, dass menschliche Wesen zu übermenschlichen spirituellen Wesen heranwachsen und ihr unwissendes menschliches Bewusstsein abschütteln konnten, so wie der Schmetterling seinen Kokon abstreift. Aber leider scheiterte der Mensch. Vielleicht war ihm die neue Bestimmung zu fremd, das Licht für seine so lange an Dunkelheit gewöhnten Augen zu überwältigend. Vielleicht gab es tiefere schicksalhafte Bedürfnisse und geheime Gründe. Aber der Mensch scheiterte, verweigerte die Hilfe und rebellierte. Wie die Asuras der alten Überlieferungen wollte der Mensch das neue Bewusstsein für seine menschlichen Ziele nutzen; sein menschliches Selbst weigerte sich, der Göttlichen Wahrheit zu gehorchen. So schlug der Mensch das Angebot aus.
Die Zeit war vorbei. Sri Aurobindo und Mutter verließen ihre Körper; aber sie ließen die Erde nicht allein. Ihre Gegenwart ist immer noch hier und unterstützt und nährt uns alle. Aber sie unterstützt uns, damit wir noch an der Wahrheit festhalten, ihr noch dienen können. Ihre Liebe und Gegenwart umgeben und helfen uns immer noch. Und alles, was sie tun, tun sie für unser wirkliches Wohlergehen, für die Rettung unserer Seelen. Mutters Arme tragen, wie sie es immer getan haben, diejenigen voran, die für die Seele leben.
Aber es gibt noch einen Unterschied.
Wir sprachen vom Pralaya, der Auslöschung. Wenn ihr euch umschaut, wird euch klar, dass sie begonnen hat. Das neue Bewusstsein wirkt, und wie vorhergesagt, hat sich die erste Phase seiner Wirkung als eine gründliche Vernichtung aller Hindernisse erwiesen. Die ganze Welt scheint in Aufruhr, alle etablierten Normen zerfallen. Regierungen entstehen und gehen unter, Falschheit und Korruption fressen die Grundlagen unseres Daseins auf. Der Mensch ist von teuflischen Motiven und Wünschen besessen und geleitet und treibt die ganze Erde in eine totale Vernichtung.
Was geschieht mit der Seele des Menschen? Was ist diese Seele? Sie ist ein Funke der Göttlichen Sonne; sie kommt nicht zu ihrem eigenen Vorteil herab, sondern um die Dunkelheit hier unten zu erleuchten und in das ursprüngliche Licht zu befreien. Seelen kommen herab, sie nehmen diese Unwissenheit und Unbewusstheit hier als Behausung oder Gewand an und reinigen und erleuchten sie so weit wie möglich. Dann ziehen sie sich für eine Weile zurück, um das Werk später weiterzuführen. Wenn das Pralaya sich ereignet, kehren sie zu ihrem eigenen Heim in Mutters Bewusstsein zurück. Es ist ein wunderbares Mysterium des Abenteuers der Liebe.
Auch heute ziehen sich Seelen zurück; sie sind nicht verloren. Sogar wenn die jetzige Erde zerstört ist, sind die Seelen sicher in Mutters Bewusstsein geborgen, und vielleicht befinden sich jene Teile des irdischen Bewusstseins bei ihnen, die umgewandelt und bewusst, rein und bereitet sind. Deshalb ist das Werk noch nicht beendet; man kann noch etwas retten.
Ist Pralaya oder Zerstörung einmal vorbei, – sie ist eine Notwendigkeit und muss geschehen, – dann müssen sozusagen die Trümmer weggeräumt werden. Diese beiden Werke gehören zusammen. Wenn alles aufgeräumt ist, wird die neue Schöpfung, der neue Zyklus beginnen. Während dieser vorbereitenden Phase wird im menschlichen Sinne dem Menschen und der Erde vieles verlorengehen. Auch der Ashram, der ein Inbegriff der Erde ist, kann nicht entkommen. Vielmehr kann hier der Prozess höchst heftig und akut verlaufen. Darum müssen wir das Unvermeidliche akzeptieren und auf das Kommende warten.
Sollen wir aber untätig in mutlosem Trübsinn warten? Nein, jene, die nach etwas Besserem streben, können trotzdem bei der Bewegung mitwirken und ihre Mithilfe und ihren Dienst für den Neubeginn anbieten. Der Mensch kann immer noch handeln. Denn jeder individuelle Mensch ist ein Konzentrationspunkt des gesamten Erdbewusstseins. Wenn er in seinem eigenen Bewusstsein einen Fortschritt macht, sich selbst ein bisschen mehr erhebt und in einen höheren Bewusstseinsgrad hineinwächst, ist es ein Gewinn. Aber er wird dabei viel größere Schwierigkeiten haben als vorher. Jetzt ist eine viel intensivere Tapasya dafür notwendig, denn solange Mutter in ihrem Körper war, hatte sie für uns die Dinge leicht gemacht. Aber es ist nicht mehr so.
Diejenigen, die wirklich ein spirituelles Bewusstsein und eine spirituelle Lebensweise anstreben und sich für größere Ziele vorbereiten wollen, müssen die Dinge ernsthaft betrachten. Für sie ist es eine Sadhana, eine wirkliche Aufgabe und bewusste Vorbereitung. Es ist besser für sie, all die großen Worte zu vergessen – die großen Worte wie Supramental, Obermental, Höheres Mental usw. Wir haben nicht mehr das Recht über sie zu diskutieren oder zu parlieren. Sie sind Träume, schöne Träume, aber außerhalb unserer Reichweite. Sie gehören zu Mutter und Sri Aurobindo. Sri Aurobindo hat selbst gesagt:
In Silberluft habe ich meine Träume gesammelt
Zwischen dem Gold und dem Blau
Und sie weich eingehüllt und dort gelassen,
Meine Juwelenträume von dir.
„Eines Gottes Arbeit“
Sri Aurobindo hat diese Träume mit der Mutter zusammen gewebt und sie haben sie achtsam und sicher in sich selbst verwahrt. Im Obermental sind sie aufbewahrt. Es ist ihre Arbeit, ihre Angelegenheit, wir haben nichts damit zu tun. Jene Träume hat Mutter in ihrer eigenen Brust gehütet und sie werden sich zu ihrer Zeit und in ihrem eigenen Rhythmus materialisieren.
Ja, wir brauchen uns nicht darum zu kümmern. Lasst uns lieber auf uns selbst schauen und ehrlich zugeben, dass wir in unserer Natur und unserem Bewusstsein, unserem Lebensstil Tiere, nein, unangenehme Rohlinge sind. Wir stehen auf der untersten Stufe der Bewusstseinsleiter und müssen mit unserer Arbeit von dort aus, von ganz unten aus beginnen. Es ist das allerstofflichste Bewusstsein. In der Abwesenheit von Mutters physischem Körper sind wir geradewegs in den Sumpf gefallen, in den Morast der groben physischen Existenz. Deshalb müssen wir die Arbeit der Reinigung von jener Stufe aus beginnen, vom mit dem Körper identifizierten Bewusstsein aus. Wir müssen versuchen, den Körper und das Vital zu reinigen. Das Mental? Oh, das Mental auch; die höheren Ebenen des Mentals, das Mental an sich, sind zu hoch für uns. Erst sehr viel später können wir daran denken.
Was die Art und Weise der Reinigung betrifft, sollten wir von Anfang an beginnen. Die allerersten Übungen sollen, wie im Raja-Yoga empfohlen, direkt beim Körper ansetzen, den physischen Teil von uns trainieren und erziehen, verwandeln und umformen. Wir müssen wie ein Kind lernen: „Kämpfe nicht“, „Sprich keine bösen Worte“, „Stehle nicht“, „Lüge nicht“ usw. In den alten Methoden spiritueller Disziplin bildeten diese Dinge den elementaren und grundlegenden Teil, – im Raja-Yoga werden sie Yama und Niyama (ahimsā, asteya etc.) genannt. Die Buddhisten begannen ihr spirituelles Training ebenfalls mit den gleichen Lektionen, sie nannten sie Panchashilas: gutes Verhalten (vinaya), usw. Das Sich-Zurückziehen (pratyāhāra), Meditation und Konzentration kamen viel später, wenn man große Fortschritte gemacht hatte. Samadhi konnte man erst danach erreichen. Wenn man in alten Tagen ein spirituelles Leben beginnen, sogar wenn man nur die Schriften studieren wollte, musste man aus diesem Grund zuerst die Berechtigung dazu erlangen. Man musste citta-shuddhi durchführen und die Reinigung seines Bewusstsein vervollständigen.
Als Mutter körperlich anwesend war, sagte sie immer: „Durch diese elementare Tapasya brauchst du nicht zu gehen, mit meiner Unterstützung kannst du einen Sprung machen und wachsen.“ Mutter bot sich uns als Sprungbrett an, damit wir hochspringen konnten. Aber wir haben keinen Nutzen daraus gezogen; wir haben einfach so weitergemacht. Mutter wurde nur von Schlägen getroffen, und wir kamen nirgendwo hin, wenigstens auf keine höhere Stufe.
Aber der Hass der Hölle und menschliche Bosheit
Sind mein Lohn, seit die Welt begann.
„Eines Gottes Arbeit“
Auch dieses Mal wurde sie nicht verschont. Wir sind kaum über uns hinausgewachsen, – unsere Stürze waren viel zahlreicher als unsere Fortschritte. Wir haben diese goldene Chance vertan. Deshalb müssen wir, die wir wirklich inneren Fortschritt und inneres Wachstum wollen, von Anfang an beginnen.
Natürlich gibt es viele, die auf der mentalen Ebene leben und bleiben wollen; sie sind noch nicht für mehr bereit oder geeignet. Für sie liegt die höchstmögliche Entwicklung in intellektueller Spekulation oder philosophischer Beschäftigung. Das ist ihr Ideal und Ziel und das Höchste, was sie erreichen können. Ihnen mag es helfen, mit mentalen Diskussionen beschäftigt zu sein. Auf diese Weise können sie mit Hilfe des Intellekts eine Art irdische mentale Atmosphäre, eine spirituelle Reflexion im Verstand erzeugen. Auch das ist gut. In der äußeren Welt, besonders in Europa und Amerika, wo das moderne Leben und Bewusstsein sich im Intellekt zentriert und das intellektuelle Licht das einzige Licht und der konkurrenzlose Herr des Lebens ist, nun, mögen sie diskutieren und spekulieren. Sie werden zumindest ein wenig mentales Wissen erlangen, ein bisschen ihren Intellekt reinigen und klären.
Aber für jene, die danach streben, nicht nur ihr Mental zu erziehen und zu schärfen, sondern auch ihr Bewusstsein zu erhöhen und zu transformieren, ist heute eine Tapasya notwendig, eine intensive Konzentration all ihrer Kraft und ihres Willens auf das eine Streben und die eine mühevolle Aufgabe. Für sie ist das Vordringlichste die Selbstreinigung – die Reinigung des Körpers und Vitals, die Umorientierung und Umorganisierung der ganzen niederen Bewusstseinsbasis mit ihren physischen und insbesondere ihren niederen vitalen Bereichen. Diejenigen, die Spiritualität im praktischen Leben erstreben, müssen bis auf den Grund gehen und diese Reinigung durchführen.
Und die Zukunft? Die Zukunft wovon? Die Zukunft der individuellen Seele liegt in Mutters Armen. Und die Zukunft der Schöpfung ist eine neue göttliche Morgendämmerung; sie ist fertig und absolut bereit, sich in der Materie zu manifestieren. Sie wartet, ihr Kommen ist unabwendbar, keine Macht kann sie aufhalten. Sie wartet im Subtil-Physischen auf die Klärung der irdischen Bühne. Der immerwährende Traum von der ewigen Morgendämmerung, von der die alten Weisen sangen, wird verwirklicht werden:
Oh, das Höchste Licht der Lichter ist gekommen.
Rig Veda 1.113.1
Aber wird es dann jemanden geben, der in dem Augenblick die Anrufung anstimmt? Lasst es uns hoffen. Nichts ist unmöglich.
12. Januar 1982

Teil 4 ANSPRACHEN AN DIE SCHÜLER

Eines Tages ging jemand an seinem Geburtstag zu Mutter; es war unser Prithwi Singh. Nun sagte Prithwi Sing, der blind war, klagend zu Mutter: „Mutter, hier bin ich, so nahe bei Dir; es ist mein Geburtstag, ein so schöner und für mich kostbarer Tag; aber ich kann Dich nicht sehen, weil ich auf beiden Augen blind bin.“ Da antwortete die Mutter ihm: „Was macht das? Du kannst mich nicht sehen, aber ich sehe dich.“
Und es ist immer so. Du kannst es mit deinen physischen Augen nicht sehen, aber Mutters Blick ist immer auf dich gerichtet, ihr Blick voller Liebe und Schutz. Sei dir dessen sicher. Du trägst dies in dir für alle Zeiten und wo immer du hingehst, wohin auch immer in der ganzen Welt. Du trägst einen Teil, einen Funken ihrer Liebe in dir; und das wird dich vor vielen Schwierigkeiten und vielen Gefahren beschützen. Wenn du das in deinem aktiven Gedächtnis behalten kannst, wird es noch hilfreicher sein.
– Nolini Kanta Gupta

Kapitel 1
Worte, Worte, Worte
Als ich herkam, sah ich überall an den Wänden eure schöne Demonstration von Auszügen und Zitaten aus den Schriften von Mutter und Sri Aurobindo. Ja, es war ein schönes Bild, und die Worte, Leitsprüche und Gedichtzeilen waren für uns natürlich ans Herz gewachsene kostbare Schätze. Aber wenn man es beim Sehen, Bewundern und dann Weitergehen belässt, sind es nun einmal tote Dinge – Worte, Worte, Worte, leblose Hülsen. Sie haben nur dann eine Bedeutung und dienen ihrem Zweck, wenn ihr mit dem in ihnen enthaltenen Leben und Bewusstsein in Kontakt kommt, wenn ihr sie in eurem Leben lebt und das in ihnen enthaltene Bewusstsein erfahrt.
Ihr kennt den wohlbekannten Satz: „Der Buchstabe tötet, der Geist rettet.“ Ohne den Geist ist das Wort nur eine tote Hülle; sogar ein Mantra ist ein totes Ding, nur ein Wust von Tönen, wenn es nicht durch den Geist entzündet und belebt ist. Jetzt sage ich euch, dass ihr den vermeintlich toten oder leblosen Gebilden euren eigenen Geist einhauchen müsst. Denn ihr Kinder seid nichts als Geist. Geist bedeutet neues Bewusstsein, lebendiges Licht. Was ich über euch sage, ist keine hochtrabende Behauptung. Ich will es erklären.
Ihr Kinder, die ihr seid einiger Zeit hier seid, seid eine privilegierte Gruppe von Menschen. Ihr wisst das noch nicht, aber eines Tages werdet ihr es verstehen. Ihr müsst die Mutter gesehen haben, viele kamen ihr physisch nahe, während andere weiter in ihrer Atmosphäre atmen, in der sie immer noch fortlebt. Ihr habt in euch diesen seltenen Funken des Geistes, von dem ich gesprochen habe, – er ist ein Teil von Mutters eigenem Bewusstsein, ihrem eigenen Leben und ihrem eigenen feinstofflichen Körperbewusstsein. Ihr habt ihn mit eurem Atem eingesogen und saugt ihn immer noch ein.
Er ist da; ihr müsst euch dessen bewusst sein und den vollen Nutzen daraus ziehen. Ihr müsst lebendige Verkörperungen, nicht nur Echos oder Zeichen, sondern lebendige Verkörperungen von Sri Aurobindos und Mutters Worten sein. Jeder von euch ist jetzt nur ein Embryo, ein elementarer Teil des neuen Lebens, aber der Funke ist da, – ihr tragt die Essenz in euch. Ich erinnere euch nur deshalb daran, um euch dessen bewusst zu machen. Auch habt ihr unter euch angehende Turner und Athleten: der Playground bringt euch dies zum Bewusstsein und bietet euch die Gelegenheit, eure Fähigkeiten zu entwickeln und zu vervollkommnen.
Nun sind Kinder im Allgemeinen überall in der Welt eine bevorzugte Klasse. Sie besitzen das, was das Alter, sogar die reiferen Jahrgänge nicht besitzen oder verloren haben. Ich erwähne zwei wesentliche Qualitäten, die hauptsächlich zu der Zeit jugendlicher Unerfahrenheit oder den „Salat-Tagen“ gehören. Glücksgefühl – ein Kind ist trotz gelegentlichen Weinens und Jammerns immer glücklich, und Glücklichsein bedeutet ein strahlendes Lächeln. Den alten Leuten habe ich oft gesagt: „Ihr solltet immer lächeln. Mutter hat uns gelehrt, in allen Situationen zu lächeln.“ Nun, das ist die normale Gabe der jungen Menschen. Ein Lächeln macht eure Lebensreise glatt und sanft. Auf keine andere Weise könnt ihr die Hindernisse, die euch im Weg stehen, besser forträumen. Und es ist auch der Hebel, der euer Bewusstsein hebt; es hat eine geheimnisvolle Macht, die euch automatisch von vielen Lebenslasten befreit, euch vieles leichter macht und euch in einen höheren Bereich führt. Denn Lächeln ist eine göttliche Qualität. Zum Glücklichsein, der natürlichen Eigenschaft eines Kind-Bewusstseins, kommt die Freiheit. Sie findet nirgendwo irgendein Hindernis, sie kann alles tun.
Diese beiden charakteristischen Eigenschaften der Kindheit entspringen selbst einer anderen grundlegenden Qualität der jugendlichen Natur – Einfachheit, ein spontanes Verströmen von Energie ohne jedes Nachdenken im Vor- oder Nachhinein: keine der Verwicklungen und Bedenken des Verstandes.
Auch in diesem Bereich haben wir für das Spiel dieser natürlichen jugendlichen Eigenschaften hier Möglichkeiten und Vorteile, die woanders nicht so leicht verfügbar sind. Die Atmosphäre der Freiheit, die wir genießen, ist unvergleichlich, – Mutter selbst hat uns das einmal gesagt.
Während ihr wachst, müsst ihr diese fundamentalen Eigenschaften beibehalten, und ihr werdet immer jung bleiben. Nun, sie beizubehalten, – das ist das Problem. Und dieses Problem hat Mutter hier für uns gelöst. Das ist es, was ich euch gerade erzählt habe. Das besondere Privileg, das wir hier genießen, welches denen gewährt ist, die hier sind, ist, dass wir zusätzlich zu den grundlegenden natürlichen Eigenschaften der Jugendlichkeit noch eine Gabe bekommen haben. Es ist das Bewusstsein, Mutters eigenes Bewusstsein. Es ist dieses zusätzliche Merkmal, welches der Atmosphäre hier eine besondere Ausprägung und Stimmung gegeben hat, und welches nicht nur im Grad, sondern auch in der Art der normalen jugendlichen Eigenschaften einen Wandel herbeigeführt hat. Ich spreche von eurem Seelen-Bewusstsein. Ich sage, dass ihr es mit eurem Gemüt oder Intellekt vielleicht nicht verstehen oder erkennen könnt, aber es ist da. Und ich sage auch, dass ihr es niemals verlieren werdet, was immer in eurem äußeren Leben passiert. Es wird euch schließlich zur höchsten Verwirklichung führen, zu einem unsterblichen Leben auf Erden. Es mag für das äußere Mental nicht gut sichtbar sein, aber es ist immer im Hintergrund da.
Ich komme jetzt zu dem Punkt zurück, mit dem ich angefangen habe. Die an die Wand gehefteten Leitworte und Schriften müssen sich als etwas Lebendiges in eurem Wesen zeigen – in eurem Bewusstsein, eurem Leben, sogar in eurem Körper. Das ist der größere Teil eurer Arbeit, ja, sogar der wichtigste Teil.
Heute zeigt sich ein neues Bewusstsein. Die Erdatmosphäre ist von einem neuen Geist erfüllt. Und hier hat uns die Mutter nicht nur ihr Bewusstsein hinterlassen, sondern ein bewusstes Wesen, einen Teil ihrer lebendigen Persönlichkeit in uns. Das ist das göttliche Vermächtnis, welches wir genießen. Wir dürfen nicht nur stolz darauf sein, sondern müssen auch versuchen, uns dessen würdig zu erweisen. Die Göttliche Persönlichkeit wird überall wachsen, aber unter euch sind die Pfadfinder und Vorreiter. Natürlich wird es in allen Gegenden und Ländern Formierungen des neuen Lebens geben. Aber die Muster und Normen werden von euch gesetzt werden, denn die Mutter war hier in ihrem physischen materiellen Körper.
Deshalb müsst ihr die Mantras, die ihr als göttliche Worte darstellt, zu lebendigen Kräften werden lassen, zu in euch verkörperten Gottheiten. Die Basis ist hier: Die Mutter hat hier die Fundamente für ihre Schöpfung gelegt, – die Wurzeln, aus denen Triebe und Zweige hervorgehen und sich außerhalb und überall ausbreiten sollen. In jedem Fall, hier oder anderswo, wie die Mutter mit ihrer eigenen Stimme verkündet hat:
Errichtet ist der goldene Turm, geboren ist das Flammenkind.
12. August 1974

Kapitel 2
Die goldene Kette
Ihr seid seit vielen Jahren hier, seit vielen, vielen Jahren. Seit der Kindheit sind die meisten von euch hier, vielleicht alle von euch. Einige von euch gehen nach draußen, andere bleiben wahrscheinlich, einige sind noch unentschieden. Wenn ihr gefragt werdet: „Was habt ihr durch euren langen Aufenthalt hier gewonnen?“, kann ich euch sagen, was ihr gewonnen habt. Es ist nicht irgendetwas Äußerliches, noch etwas von den Dingen, die ihr in der Schule gelernt habt, das Wissen, das ihr hier erworben habt. Es ist nicht das, sondern etwas anderes. Ihr könnt euch dessen sicher sein. Ihr selbst wisst es vielleicht nicht, aber es ist da in eurem Inneren. Ihr habt eure Zeit hier nicht umsonst verbracht, – ihr habt den Kontakt mit der Mutter.
Mutter hat viele Male gesagt: „Wer immer in Kontakt mit mir ist, wer immer eine Sekunde wahrer Aspiration, wahrer Liebe für mich hat, der hat es in diesem Leben geschafft, in allen Leben, – er ist an mich gebunden. Ich habe eine goldene Kette um seinen Hals gelegt. Sein Herz ist ewig an mich gebunden.“
Es ist etwas, das niemand sehen kann; ihr selbst seht es nicht, aber es ist eine Tatsache, es ist da. Wo immer ihr hingeht, zieht ihr die Kette mit euch; es ist eine Kette, die länger wird. Wie weit ihr auch gehen mögt, es ist eine elastische Kette, sie verlängert sich fortwährend, ohne jemals zu reißen. In schwierigen Lebensstunden, in Stunden von Zweifel und Verwirrung habt ihr sie zu eurer Unterstützung in euch. Wenn ihr euch dessen bewusst seid, umso besser; wenn es euch nicht bewusst ist, glaubt, dass es da ist. Die Liebe der Mutter, ihre Gegenwart ist immer da.
Das ist es, was ich euch sagen wollte.
In den Upanishaden gibt es eine Geschichte. Einmal ging Narada, – ich nehme an, es war Narada, – zu einem Rishi, um die Initiation zu erhalten. Der Rishi fragte ihn: „Was hast du gelernt? Was hast du in deinem Leben als Schüler gelernt, jetzt, wo du zu mir gekommen bist?“ Narada begann alle Vidyas, die er während seiner Ausbildung als Brahmachari gelernt hatte, aufzuzählen – alle Shastras, sogar Dhanurvidya, alle Arten von Erlerntem. Da sagte der Rishi: „Das ist alles Apara Vidya, nachrangiges Wissen. Kennst du Brahman?“ „Nein, Meister, ich kenne es nicht.“ „Das ist es, was man kennen muss. Ist dieses eine einmal erkannt, ist alles andere erkannt.“
Deshalb sage ich euch, dass ihr die eine notwendige Sache bekommen habt; ihr braucht euch nicht bemühen, sie zu erhalten. Ihr seid begünstigt, ihr habt Glück. Wir haben alle sehr viel Glück; Mutter hat uns hergerufen und sie hat es uns in ihrer Liebe gegeben, ihrer unendlichen Liebe, ungebeten, bedingungslos. Was immer ihr in eurem äußeren Charakter und Handeln seid, jenes wird nicht durch all diese äußere Natur beeinträchtigt. Es bleibt so, wie es ist, rein und unbefleckt.
Einige von euch waren bei meinem Vortrag über Dante anwesend. Ich sprach von Dantes Vision; es ist eine wunderbare Vision – die Vision der Mission der Göttlichen Mutter.
Dante sah eine leuchtende Kugel vor sich. Während er im Empyreum (Lichthimmel) vor der Göttlichen Dreifaltigkeit stand, sah er plötzlich, wie sich eine leuchtende Kugel vor ihm enthüllte, und in dieser leuchtenden Kugel sah er ein Licht sich bewegen, kreisen. Und während er in das kreisende Licht schaute, sah er sich selbst als wie dessen Spiegelung, dessen gespiegeltes Bild. Er sah sich selbst in dem kreisenden Licht – nicht so, wie er sich sehen würde, sondern wie das kreisende Licht - sein eigenes Bild – ihn sah. „Ich war wie von Ihm konzipiert dort in dem Bild, – nicht wie von mir erdacht.“
In unserer Sprache können wir sagen, dass die leuchtende Kugel das erhabene Göttliche war, und darin befand sich das wirbelnde kreisende Licht, – es war die Schöpferische Macht, die Göttliche Mutter in Ihrer schöpferischen Stimmung. Und darin „war ich selbst als Ihr Kind, in meiner eigentlichen Wirklichkeit, nicht so, wie ich mich selbst sehe, sondern wie Sie mich sieht. In jenem Bild sah ich mich.“
Dante sagte, dass es eine Erfahrung war, als ob er in ein Auge sah, einen großen Augapfel. In jenem Auge sah er sein gespiegeltes Bild, so wie das Göttliche ihn sieht, nicht „wie ich mich sehe, sondern wie mein wahres Selbst“. Ich sage, dass dies das Bild ist, das die Mutter euch – in euch – hinterlassen hat. Wie sehr ihr es auch versuchen würdet, ihr könnt es nicht verlieren; es wird da sein, bis es verwirklicht ist. Wann immer ihr euch entmutigt fühlt, – wenn ihr die Welt und die Geschehnisse anschaut, fühlt ihr euch natürlich sehr bekümmert und angeekelt, – dann erinnert euch daran, dass es eine andere verborgene Wirklichkeit gibt. Es ist Mutters Gegenwart, die all das erlöst. In jeder depressiven, trüben Stimmung und jeder Schwierigkeit seid euch bewusst, dass sie in euch ist, um euch zu unterstützen, euch Frieden und Kraft zu bringen, und dass sie immer hilft. So oft hat sie gesagt: „Alles in der Welt wird fehlschlagen, aber ich werde euch nie verlassen.“
26.Oktober 1976

Kapitel 3
Mutters Playground
Heute will ich euch vom Playground selbst als einem großen, von der Mutter geschaffenen Phänomen erzählen. Vielleicht erinnert ihr euch, dass wir einmal in unserem Theater ein von den Schülern aufgeführtes Stück gesehen haben. Es handelte vom Abenteuer einiger junger Leute, die ihr Zuhause verließen und in die Welt hinausgingen. Sie kamen schließlich zu einem Haus. Einer von ihnen öffnete beiläufig eine Seitentür des Gebäudes und alle gingen hinein und fanden sich in einem Märchenland wieder. Sie waren überrascht und verwundert: Sie entdeckten, dass sie die alte Welt verlassen hatten und in ein neues, fremdartiges, bezauberndes Märchenland gekommen waren.
Dasselbe Erlebnis hat man, wenn man die Tür zum Playground öffnet und eintritt. Wenigstens haben wir es in den Anfangstagen so empfunden. Sobald wir den Playground betraten, umgab uns eine neue Atmosphäre, ein neues Leben voller Freude, Glück, Vergnügen und Freiheit. Wenn wir unsere Gruppenkleidung anzogen, fühlten wir uns ganz anders als sonst. Alte Leute in unserer Gruppe mit ihren blauen Shorts, wirklich alte Leute, fühlten sich sehr jung, jugendlich, und sie trabten herum, als ob sie ihr Alter mit all seinen Beschwerden hinter sich gelassen hätten. Und die jüngeren Leute, die Jüngsten, brannten so darauf, der Gruppe beizutreten und ihre grünen Uniformen zu tragen. Viele von ihnen kamen, nachdem sie ihre grünen Shorts angezogen hatten, zu mir gerannt und sagten begeistert: „Heute habe ich meine Uniform bekommen und werde in die Gruppe gehen“. – Sie waren so glücklich, so frei und vergnügt.
Nun ein Wort zur Organisation der Gruppen im Playground. Natürlich muss man bezüglich des Altersunterschieds, Geschlechts und der Fähigkeiten etwas beachten. Das generelle von der Mutter geforderte Prinzip bei der Organisation bestand darin, keine Unterschiede bezüglich des Alters, insbesondere des Geschlechts zu machen, da alle Menschen grundsätzlich von gleicher Natur sind. Speziell bei den Sportwettkämpfen, die von Zeit zu Zeit veranstaltet wurden, waren die Gruppen alle gemischt. Die grünen und roten, die blauen und alle die anderen Farben bildeten sozusagen eine Melange. Heute ist es etwas anders, aber früher war es so, dass Auszeichnungen und Unterscheidungen hauptsächlich aufgrund der Fähigkeiten erfolgten, und das auch nur auf allgemeine und sehr oberflächlich Weise. Auch ich, eine betagte (ich sage nicht alte) Person, rannte und turnte mit jungen Leuten, auch mit Mädchen – nicht zum Spaß und Scherz, sondern sehr ernsthaft. Es sollte beispielhaft zeigen, dass es in eurem mentalen Geist, in eurem Bewusstsein kein Gefühl von Unterschied, Unter- oder Überlegenheit unter den Gesichtspunkten von Alter, Geschlecht – und sogar in gewissem Maße Leistungsfähigkeit – geben sollte.
In den allerersten Tagen, als wir nur sehr Wenige waren, ungefähr um die fünfzig, redeten wir uns immer mit unserem Namen an. Es gab kein daran angehängtes dada oder didi, nur: Nolini, Pavitra, Sahana, Lalita, – das war alles, schlicht und einfach. Wenn nun Leute von außerhalb kamen, fanden sie es ein bisschen seltsam und sagten: „Sie haben hier keinen Respekt vor dem Alter, keinen Respekt vor älteren Menschen und nehmen keine Rücksicht auf Frauen; sie sprechen sich einfach nur mit dem Namen an.“ Aber wie immer es von außen her gesehen wurde, das Bewusstsein und die Haltung dahinter waren in Wirklichkeit anders. Es gab einige Leute, die das spürten und anerkannten. Wenn jemand im Ashram mich mit meinem Namen ansprach oder eine ältere Frau mit ihrem, so war das Gefühl dahinter sichtbar voller Respekt und Rücksichtnahme, sogar Liebe. Nur die Form der Anrede war schmucklos und ohne besondere Kennzeichnung. Sogar jemand von außerhalb sah die Sache so, bewertete sie richtig, schrieb einen Artikel über den Ashram und erwähnte diesen Brauch: „Es ist sehr seltsam, dass junge Leute alte Menschen bloß mit ihrem Namen anreden, aber es hört sich gut und angebracht an, wenn es so aus ihrem Mund kommt.“
Dies waren die Leitprinzipien der Organisation der Sportgruppen. Zuerst einmal sollte es keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen geben. Alle sollten dieselben Übungen und dasselbe Programm durchlaufen. Das war früher, und ich denke, auch heute verbindlich für die jüngeren Gruppen: die grüne Gruppe und die rote und sogar noch etwas darüber hinaus. Aber es wurde oft gefragt: „Ist es nicht natürlich, verschiedene Programme anzubieten, da Jungen und Mädchen besonders im Hinblick auf ihr Geschlecht verschieden sind?“ In Wirklichkeit haben sich die Körper aber verschieden entwickelt, weil das Bewusstsein über Jahrtausende des Wachstums und der Evolution auf dem Unterschied bestand. Erst jetzt in dieser Epoche haben sich die Dinge etwas geändert. Einige von euch, die Älteren, können sich vielleicht erinnern, welche Schwierigkeiten die Mutter hatte, die Mädchen zu veranlassen, Shorts und Hemden für den Sport anzuziehen. Sie musste es sanft und langsam angehen lassen. Anfangs lernten die Mädchen, Hosen anzuziehen; sie marschierten und machten ihre Übungen in Hosen. Sogar heute sehen wir in der Welt außerhalb, besonders an vielen Orten in Indien, Frauen und Mädchen in Saris marschieren und Paraden abhalten. Die Frauen bei unserer Polizei verrichten sogar heutzutage ihren Dienst im Sari. Die Tradition ist sehr stark, und in dieser Hinsicht wollen wir hier Vorreiter dieser neuen Entwicklung sein, in der die physische Freiheit der Frauen der der Männer gleicht. Dies war die Lektion, die die Mutter uns gelehrt hat.
Vor langer Zeit, ungefähr vor fünfundzwanzig Jahren kam eine bekannte indische Führungsperson hierher, sah unsere Playground-Aktivitäten und machte die Bemerkung: „Ich bin durch ganz Indien gereist, habe verschiedene Bildungsinstitute besucht und Frauen Gymnastikübungen machen gesehen. Aber dies ist das erste Mal, dass ich hier im Ashram Mädchen Bockspringen und Übungen am Stufenbarren machen sehe. Das habe ich nirgendwo sonst gesehen.“ Natürlich versteht sich von selbst, das Zirkusmädchen anders sind. Aber die Leute glaubten, das Bockspringen und viele andere Körperübungen und Spiele hauptsächlich für Männer geeignet sind. Heute sieht man das allgemein als Aberglauben und Fehlurteil an. Die weiblichen Champions in Wimbledon bezeugen das Gegenteil. Das Allerwichtigste ist, dass ihr euer Bewusstsein ändern müsst. Natürlich gibt es dabei Schwierigkeiten, die Macht der Gewohnheit, die Macht von Rückschlägen in der Entwicklung. All das verlangt von euch eine Extradosis Bewusstsein oder ein neues Bewusstsein.
Was die den Frauen und der jüngeren Generation gegebene Freiheit anbetrifft, gibt es einen Unterschied zwischen dem, was hier getan wird und anderswo üblich ist. Mutter hat so oft wiederholt: Die Freiheit und Ungezwungenheit, die ihr hier genießt, ist außergewöhnlich; es gibt praktisch keinerlei Einschränkungen eurer Freiheit. Dies ist zwar gefährlich, denn der uneingeschränkte Gebrauch der Freiheit beinhaltet das Risiko, sie zu missbrauchen. Aber die Mutter ist das Risiko eingegangen, denn es ist der einzige Weg zu einer tiefgreifenden Lösung, und nicht ein Kompromiss auf halber Strecke. Nur wenn ihr frei seid, wenn ihr völlig, absolut frei seid – ihr müsst zwischen dem Guten und Schlechten wählen, und ihr wählt aus eigenem Willen das Gute, – dann ist das Gute für euch, euer Bewusstsein und eure Entwicklung von wirklicher Bedeutung. Andernfalls, wenn ihr dem Guten aufgrund von Zwang, Angst, gesellschaftlicher Sitte oder Eitelkeit folgt, – das heißt, wenn ihr, um gut zu sein, bestimmte Regeln befolgt oder das Gefühl habt, tugendhaft oder pflichtbewusst zu sein, – dann ist es nicht der richtige Weg, die richtige Haltung und das wahre Bewusstsein. Das wahre Bewusstsein bedeutet, das ihr das Richtige nicht aus Pflichtgefühl, um des Erfolges willen tut, oder weil es von euch erwartet wird, sondern weil euch eure Natur dazu drängt. Die Blume blüht ohne jedes Gefühl von Pflicht. Sie besitzt keinen Schönheitssinn, denn es ist ihre Natur zu blühen und schön zu sein.
Menschliche Wesen sollten auch so sein, spontan und natürlich in ihrem Handeln und Benehmen. Wenn ihr dann etwas Großes unternehmt, fühlt ihr nicht, dass ihr etwas Wunderbares vollbringt, eure Macht ausübt oder eure Pflicht tut, sondern weil es in eurer Natur liegt. Ihr könnt nicht anders. Ich gebe euch ein Beispiel. Ihr lernt Englisch und englische Grammatik. Jetzt sagt mir, was der Unterschied zwischen diesen beiden Behauptungen ist: „Ich muss das machen“ und „Ich sollte das tun“. „Ich muss das machen“ heißt „Ich bin verpflichtet es zu tun, gezwungenermaßen, es geht nicht anders.“ „Ich sollte es tun“ bedeutet „Es ist richtig für mich, das zu tun. Ich werde es tun; es ist sozusagen meine Natur.“ Etwas von der Art wird in der Gita gelehrt – das Ideal des kartavyam karma und nishkāma karma oder das Befolgen des eigenen Svadharmas. Kartavya wird gewöhnlich als Pflicht übersetzt, aber das ist nicht korrekt. Kartavya ist der eigene Dharma oder der spontane Ausdruck der eigenen Natur, – es ist das, was man tun sollte, nicht was man tun muss.
Mutter gab ihren Kindern diese unendliche Freiheit, weil das der einzige Weg war, eine neue Wesensart zu erschaffen. Sie zeigte auch den Unterschied zwischen dem richtigen und falschen Gebrauch der Freiheit. Den falschen Gebrauch findet man in den Freiheitsbewegungen draußen im normalen Leben, zum Beispiel in der Studentenbewegung oder der Frauenemanzipationsbewegung. Nun, wenn Frauen für den eigenen Frieden kämpfen, sehen sie sich als Frauen, die gegen Männer für den Frieden kämpfen. „Wir sind Frauen, ihr seid Männer; ihr genießt Privilegien und Rechte, uns verweigert man sie; wir wollen sie auch haben, wir fordern sie.“ Auch in der Jugendbewegung sagen die jungen Leute: „Alle Befugnisse, die die alten Leute haben, die Positionen und Einkünfte… So geht das nicht, wir wollen mit den Alten an diesen Dingen teilhaben.“ Mutter sagte: „Das ist nicht die richtige Haltung.“ Ihr müsst eure Haltung, eure Sicht der Dinge ändern. Wenn ihr auf einen Streit, einen Kampf aus seid, seht ihr euch selbst als andere Wesen mit anderen Kräften, Fähigkeiten und anderer Wesensart. Zuallererst müsst ihr euch, beide Parteien, als menschliche Wesen betrachten, nicht als zwei verschiedene Spezies.
Dieser Standpunkt ist heute ansatzweise anerkannt, aber Mutter sagt, dass das nicht genügt. Wenn ihr zufrieden damit seid, einfach nur menschliche Wesen zu sein, wird es immer wieder Unterschiede geben, und nicht nur Unterschiede, sondern schwere Differenzen. Die menschliche Natur ist mit diesen Unterschieden geschaffen, und Kultur und Zivilisation bedeuten nichts anderes als eine Aussöhnung, einen Kompromiss zwischen diesen Unterschieden zu schaffen. Wir sind einer Lösung noch nicht sehr nahe gekommen. Es muss eine tiefere Wahrheit gefunden werden, eine höhere und mächtigere Wahrheit. Wir müssen uns auf eine neue Ebene erheben. Mutter sprach immer davon, die Wahrheit zu finden, die Wahrheit eurer Seele. In der Wahrheit eurer Seele seid ihr weder Mann noch Frau, weder jung noch alt – tvam kumāra uta vā kumārī, tvam jīrna. Ihr seid dies alles nur dem Anschein nach, denn ihr seid mehr, ihr seid etwas anderes.
Ihr müsst euren Stand in eurer Seele nehmen – das ist die Lektion, die die Mutter im Playground-Unterricht zu lehren versuchte. Solange ihr im normalen Bewusstsein seid, verwurzelt in eurem Körperbewusstsein, und die Dinge von dort aus betrachtet, wird das Leben nach dem vom Körperbewusstsein geschaffenen Muster aufgebaut. Nach diesem Muster kann das Leben nur durch Unterschied und Abgrenzung, Kontrast und Widerspruch, Konflikt und Kampf voranschreiten. Solange ihr bei eurer gewohnten Haltung bleibt, wird es so sein. Das Heilmittel ist radikal: es bedeutet, eure Haltung umzukehren. Ihr dürft nicht auf euren Füßen, sondern müsst auf eurem Kopf stehen. Dann werdet ihr den Weg finden, auf dem ihr vorankommt: Nicht durch Trennung, sondern durch Einheit, nicht durch Verschiedenheit, sondern durch Identität. Solange ihr nur menschliche Wesen seid, kann es diese höchste Seelen-Einheit nicht geben. Ihr müsst die Unterschiede vergessen. Jemand fragte die Mutter bei einem der Playground-Gespräche: „Wie ist es möglich, diesen fundamentalen Unterschied zu vergessen, dass man ein Mann ist und jemand anderes eine Frau?“ Mutter antwortete: „Wie kannst du das sagen? Schau her. Glaubst du, wenn ich mit Tara spreche, betrachte ich sie als Frau und spreche demgemäß?“ Und sie hätte hinzufügen können: „Und wenn ich dir antworte, glaubst du, dass ich mit einer männlichen Person spreche?“
Ich kann hier ein kleines Ereignis erzählen, das mich betrifft. Es bezog sich auf die Frage des Alters. Als jemand Mutter informierte, dass sie meinen Geburtstag, vielleicht war es mein achtzigster Geburtstag, großartig mit einer festlichen Veranstaltung feiern wollten, brauste Mutter auf: „Nein, nein, ihr ruiniert meine Arbeit. Die ganze Zeit habe ich versucht, ihn sein Alter vergessen zu lassen, und jetzt versucht ihr, darauf zu beharren.“ Das Alter ist also eine Sache, die man vergessen sollte. Die Geburtstagsfeier ist nicht dazu da, das Voranschreiten unseres Alters zu vermerken, – wie wir Jahr für Jahr einen Fortschritt an Jahren machen, wie wir älter werden. Nein, sie soll den im inneren Wesen und Bewusstsein gemachten Fortschritt bezeichnen. Jeder Geburtstag soll ein Meilenstein des Voranschreitens eures Bewusstseins und nicht eurer Grauhaarigkeit sein. Der Kontakt mit eurer Seele wird euch nicht nur dazu inspirieren, die richtige innere Bewegung, das Erhellen eures Bewusstseins, vorzunehmen. Er lässt euch auch die richtige physische Bewegung machen, veranlasst euch sogar dazu, die passende Art von Körperübungen zu wählen und sie korrekt durchzuführen. Die Lektion, die gelernt werden muss, ist dann, zu eurer Seele in eurem Inneren zurückzukehren. Ihr werdet dort alles finden, was wertvoll für euch ist: Freiheit, Freude, Harmonie und sogar unbekannte Fähigkeiten.
Leute, die von außerhalb kommen, fragten früher sehr oft und sogar heute noch: „Was tut der Ashram für das Land, für die Welt? Sein Werk ist begrenzt auf nur wenige Leute. Ist es das wert?“ Mutter antwortete einfach: „Ich tue etwas, was sonst nirgendwo in der Welt getan wird. Ich wecke die Seele in meinen Kindern, die Seele, die alleine retten kann.“ Den Auswärtigen sagen wir: „Wenn ihr herkommt, kommt mit offenen Augen, mit Augen, die die Seele der Menschen hier sehen oder vielmehr in sie hineinsehen. Schaut nicht darauf, was sie lernen, tun oder sagen, sondern schaut in sie hinein, seht, was da tief im Inneren ist.“ Sogar heute sage ich: „Sie ist da in euch, ihr Werk steht nicht still. Das Tempo ihres Wirkens ist so groß und lebhaft, wie es sein kann, und seine Auswirkung wird immer klarer und offenkundiger werden.“
Deshalb wiederhole ich, die Seele ist weder Junge noch Mädchen, weder jung noch alt; sie hat nicht die körperlichen Charakteristika, die für den Menschen oder eher das Tier natürlich sind. Aber das bedeutet nicht, dass sie keinen Körper hat, dass sie etwas luftiges, nebulöses, dunstiges ist. Überhaupt nicht: Die Seele hat einen Körper, ihren eigenen Körper, so wirklich und deutlich erkennbar wie der physische Körper. Sie hat sogar einen materiellen Körper, obschon seine Materie von anderer Art ist. Haben nicht die westlichen Gelehrten angefangen, von unstofflicher Materie, von Antimaterie zu sprechen? Jenen Seelenkörper, den ihr sogar jetzt in eurem materiellen Körper tragt, könnt ihr so deutlich und lebhaft spüren wie euren äußeren Körper. Die Mutter erhält ihn in euch; ihr kommt durch euren Kontakt mit der Mutter mit ihm in Verbindung. Liebt die Mutter, seid eins mit ihr; dann werdet ihr eure lebendige Seele finden und sie selber sein.
Veröffentlicht im August 1978
