Kapitel 3
Selbst-Beobachtung und Selbst-Organisation
Worte der Mutter
„Nur durch sehr sorgfältige Beobachtung unserer inneren Regungen, indem wir sie gewissermaßen vor den Richterstuhl unseres höchsten Ideals stellen und uns dessen Urteil auch ehrlich unterwerfen wollen, können wir hoffen, in uns ein Unterscheidungsvermögen heranzubilden, das nicht irrt.“ (Die Mutter, „The Science of Living“, On Education)
Man muss sich über den Ursprung seiner Regungen klar werden, denn es gibt im Wesen widerstreitende Bestrebungen – die einen treiben dich hierhin, die anderen dorthin, was offenkundig Chaos ins Dasein bringt. Beobachtest du dich, so siehst du, dass der mentale Geist dich stets einen günstigen Grund zu deiner Rechtfertigung liefert, sobald dich bei deinem Tun etwas beschämt – denn dieses Mental ist fähig, alles zu beschönigen. Unter solchen Voraussetzungen ist es schwer, sich zu erkennen. Man muss ganz und gar aufrichtig sein, um es zu können und all die kleinen Lügen des mentalen Wesens zu durchschauen.
Wenn du die verschiedenen Regungen und Reaktionen deines Tageslaufs noch einmal durchgehst, aber nur so, wie man endlos dasselbe wiederholt, dann machst du keinen Fortschritt. Damit diese Durchsicht dich weiterbringt, musst du in dir etwas finden, in dessen Licht du über dich selbst richten kannst, etwas, das für dich das Beste deiner selbst darstellt, das ein wenig hell, ein wenig gutwillig und, ja eben, in den Fortschritt verliebt ist; du stellst das vor dich hin, und du lässt das alles vor dir abrollen wie einen Film, zuerst alles, was du getan hast, was du gefühlt hast, deine Antriebe, deine Gedanken usw.; dann versuchst du sie zu koordinieren, das heißt festzustellen, warum das eine aus dem anderen erfolgt ist. Und du betrachtest den hellen Bildschirm vor dir: manches geht gut durch, ohne Schatten zu werfen, anderes dagegen wirft einen kleinen Schatten, und wieder anderes wirft einen ganz schwarzen, abscheulichen Schatten. Das musst du ganz ehrlich tun, als wäre es ein Spiel: in der und der Lage habe ich derart gehandelt, habe so empfunden und so gedacht; vor mir steht mein Ideal der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung – stimmt jene Handlung mit meinem Ideal überein oder nicht? Wenn ja, dann lässt sie keinen Schatten auf dem Bildschirm, der transparent bleibt, und man braucht sich darum nicht zu kümmern. Wenn nicht, wird ein Schatten geworfen. Warum ist das geschehen? Was in dieser Handlung widersprach dem Willen, sich zu erkennen und zu meistern? Gewöhnlich wirst du feststellen, dass es einer Unbewusstheit entspricht – dann ordnest du es unter die unbewussten Dinge ein und beschließt, nächstes Mal zu versuchen, bewusst zu sein, bevor du etwas tust. In anderen Fällen dagegen siehst du, dass es ein ganz schwarzer, böser kleiner Egoismus war, der deine Tat oder deinen Gedanken entstellt hat. Nun hältst du diesen Egoismus vor dein „Licht“ und fragst dich: „Warum hat der das Recht, mich so denken und handeln zu lassen…?“ Und statt irgendeine Erklärung zu akzeptieren, suchst und findest du in einem Winkel deines Wesens etwas, das denkt, das sagt: „Aber nein! Ich nehme alles an, nur das nicht!“ Du wirst sehen, dass es eine kleine Eitelkeit, eine Regung von Eigenliebe, ein irgendwo verstecktes selbstsüchtiges Gefühl ist, hundert Dinge. Das alles betrachtest du also gut im Licht deines Ideals: „Stimmt es mit meiner Suche und der Verwirklichung meines Ideals überein, wenn ich diese Regung behalte, oder widerspricht es meinem Ideal? Ich halte diesen kleinen dunklen Winkel so lange dem Licht entgegen, bis es in ihn eindringt und ihn zum Verschwinden bringt.“ Dann ist die Posse aus. Allerdings bist du noch nicht mit der ganzen Komödie deines Tageslaufes fertig, denn es gibt ja vieles, was auf diese Weise vor dem Lichte abzuwickeln ist. Fährst du aber mit diesem Spiel fort – es ist wirklich ein Spiel, wenn du es aufrichtig tust –, so wirst du dich schon in einem halben Jahr nicht mehr wiedererkennen, das versichere ich dir, du wirst sagen: „Was, so war ich? Das ist doch nicht möglich!“
Man kann fünf, zwanzig, fünfzig oder sechzig Jahre alt sein und sich auf diese Weise umwandeln, indem man alles und jedes vor dies innere Licht stellt. Du wirst sehen, dass die Elemente, die mit deinem Ideal nicht übereinstimmen, im Allgemeinen nicht von der Art sind, dass du sie völlig abweisen musst (solche gibt es nur sehr wenige), sondern einfach Dinge, die nicht an ihrem Platz sind. Ordnest du alles – deine Gedanken, deine Gefühle, deine Impulse usw. – um das seelische Zentrum, das innere Licht herum an, dann stellst du fest, dass das ganze innere Durcheinander sich in eine leuchtende Ordnung wandelt.
Würde ein entsprechendes Verfahren von einem Volk oder gar von der ganzen Erde angewandt, so verschwände natürlich das meiste von dem, was die Menschen unglücklich macht, denn der größte Teil des Elends der Welt kommt daher, dass die Dinge nicht an ihrem Platz sind. Wäre das Leben so organisiert, dass nichts vergeudet würde und alles seinen Platz hätte, dann gäbe es die meisten Nöte nicht mehr. Ein alter Weiser hat gesagt:
„Es gibt nichts Böses, nur mangelndes Gleichgewicht. Es gibt nichts Schlechtes, nur Dinge, die nicht an ihrem Platz sind.“
Wäre in den Völkern, in der stofflichen Welt, in den Taten, den Gedanken, den Gefühlen der Einzelnen alles an seinem Platz, so verschwänden die meisten menschlichen Leiden.

Worte der Mutter
Man hat widersprüchliche Willensregungen in sich.
Ja, viele. Das ist eine der ersten Entdeckungen. Ein Teil will so; und dann, zu einem anderen Zeitpunkt, will man so; und zu einem dritten Zeitpunkt will man dann noch einmal etwas anderes! Und dann gibt es auch noch folgendes: Etwas, das will, und etwas anderes, das nein sagt. Was? Das muss man eben herausfinden, wenn man sich selbst auch nur im geringsten organisieren will! Warum sich nicht einmal auf eine Leinwand projizieren, wie im Kino, und sich dann zuschauen, wie man sich regt und bewegt? Das ist so interessant!
Das ist der erste Schritt.
Man projiziert sich auf eine Leinwand, und dann beobachtet man, und man sieht alles, was sich so bewegt und wie es sich bewegt und was passiert. Man macht eine schematische Skizze, also das wird sehr interessant. Und dann, nach einer gewissen Zeit, wenn man es schon gewöhnt ist, das zu sehen, kann man einen weiteren Schritt tun und einen Entschluss fassen. Oder dann noch einen größeren Schritt: Man stellt eine Ordnung her – man ordnet an, man greift all das auf, stellt jedes Ding an seinen Platz, organisiert so, dass man allmählich eine geradlinige Bewegung erhält, die eine innere Richtung hat. Und dann wird einem seine Orientierung bewusst und man kann sagen: „Sehr gut, so wird es sein. Mein Leben wird sich so und so entwickeln, denn es ist die Logik meines Wesens. Jetzt habe ich das alles in mir geordnet, alles steht an seinem Platz und dann ist es ganz natürlich, dass sich eine zentrale Orientierung bildet. Ich bin diese Orientierung. Und noch ein Schritt und ich weiß, was mir widerfährt, denn ich selbst bin es, die oder der entscheidet…“ Ich weiß nicht, ich erzähle dir das – mir kam das immer furchtbar interessant vor, das Interessanteste auf der Welt. Es gab nichts, rein gar nichts, das mich mehr interessiert hätte.
…Und ich bin überzeugt, dass jeder, der es so machen würde, mit jener Frische, jener Ehrlichkeit, zu aufregenden Ergebnissen gelangen würde… Das alles vor sich auf eine Leinwand bringen und schauen, was sich abspielt. Und der erste Schritt ist, alles zu wissen, was vor sich geht, und zudem darf man nicht versuchen, die Augen zu schließen, wenn einem etwas nicht so schön erscheint! Man muss sie ganz weit öffnen und alles offen vor der Leinwand ausbreiten. Also das ist eine sehr interessante Entdeckung. Und der nächste Schritt ist dann, dass man sich sagt: „Da sich das alles ja in mir abspielt, warum sollte ich dann nicht dieses so hinstellen, das so, und dann jenes so und etwas Logisches und Sinnvolles daraus machen? Warum sollte ich nicht das, was den Weg versperrt, diese widerstrebenden Willensregungen, wegrücken? Warum? Und was stellt das im Wesen dar? Warum ist es da? Wenn es dort hingestellt würde, wäre es nicht eine Hilfe statt zu schaden?“ Und so fort.
Und nach und nach, ganz allmählich sieht man klar, und dann sieht man, warum man so angelegt ist, welche Aufgabe man zu erfüllen hat – die, für die man geboren ist. Und da sich ja dann alles so gestaltet, dass diese Sache eintrifft, ist es ganz selbstverständlich, dass der Weg ganz gerade wird und man schon im voraus sagen kann: So und so wird es sein. Und wenn die Dinge von außen kommen und versuchen, das alles zu stören, vermag man zu sagen: „Nein, dies nehme ich an, weil es hilft; jenes weise ich zurück, weil es schadet.“ Und nach einigen Jahren hält man sich dann wie ein Pferd am Zügel: Man tut, was man will, wie man es will, und man geht dahin, wohin man will.

Kapitel 4
Visualisierung als Mittel zur Entdeckung des eigenen Wesens
Worte der Mutter
Wenn man sich auf den Weg zur Entdeckung des eigenen inneren Wesens begibt, all der verschiedenen Teile seines Wesens, hat man sehr oft das Gefühl, dass man tief in eine Halle oder einen Raum geht, und entsprechend der Farbe, der Atmosphäre, der Dinge, die er enthält, hat man eine sehr klare Wahrnehmung des Wesensteils, den man besucht. Und dann kann man von einem Raum in den anderen gehen, Türen öffnen und in immer tiefere Räume gehen, die alle ihren eigenen Charakter haben. Und oft können diese inneren Besuche während der Nacht unternommen werden. Dann nimmt es eine noch konkretere Form an, wie einen Traum, und man fühlt, dass man in ein Haus eintritt und dass dieses Haus einem sehr vertraut ist. Und entsprechend der Zeit, der Zeitdauer ist es innen unterschiedlich und manchmal kann es in einem Zustand sehr großer Unordnung sein, eines sehr großen Durcheinanders, wo alles drunter und drüber geht, manchmal sind da so gar kaputte Sachen; es ist ein richtiges Chaos. Zu anderen Zeiten sind diese Dinge gestaltet, an ihren Platz gebracht; es ist so, als ob man den Haushalt eingerichtet hätte, man räumt auf, bringt in Ordnung und es ist immer dasselbe Haus. Dieses Haus ist ein Bild, eine Art objektives Bild deines inneren Wesens. Und entsprechend dem, was du dort siehst oder tust, hast du eine psychologische Darstellung deiner psychologischen Arbeit. Es ist für eine Konkretisierung sehr nützlich. Es hängt von den Menschen ab.
Manche Menschen sind ganz intellektuell; für sie wird alles in Ideen ausgedrückt und nicht durch Bilder. Aber wenn sie in einen mehr materiellen Bereich herabsteigen sollen, nun, laufen sie Gefahr, die Dinge nicht in ihrer konkreten Realität zu erfassen und nur im Bereich der Ideen zu bleiben, im Mental zu bleiben und dort unbegrenzt zu bleiben. Dann denkt man, man mache Fortschritte, und mental hat man das getan, obwohl es etwas ganz Unbestimmtes ist.
Der Fortschritt des Mentals mag Tausende von Jahren in Anspruch nehmen, denn es ist ein sehr weites und ganz unbestimmtes Gebiet, das ständig erneuert wird. Aber wenn man im Vital und im Physischen einen Fortschritt machen will, nun, wird diese bildhafte Darstellung sehr nützlich, um die Arbeit festzulegen, sie konkreter zu machen. Natürlich geschieht das nicht vollkommen nach Wunsch; es hängt von der Natur jedes Einzelnen ab. Aber diejenigen, die die Kraft haben, sich mit Hilfe von Bildern zu konzentrieren, nun, sie haben eine Fähigkeit mehr.
In der Meditation vor einer geschlossenen Tür zu sitzen, als ob es eine schwere bronzene Tür wäre – und man sitzt mit dem Willen vor ihr, dass sie sich öffnen soll – und auf die andere Seite zu wechseln; und so wird die ganze Konzentration, die ganze Aspiration in einem Bündel zusammengezogen und stößt, stößt, stößt gegen diese Tür, und stößt mehr und mehr mit wachsender Kraft, bis sie plötzlich aufspringt und man eintritt. Das hat eine sehr kraftvolle Wirkung. Es ist so, als ob man in Licht getaucht wäre, und dann hat man die volle Freude eines plötzlichen und radikalen Bewusstseinswandels mit einer Erleuchtung, die einen ganzheitlich erfasst, und dem Gefühl, dass man ein anderer Mensch wird. Und das ist ein sehr konkreter und sehr kraftvoller Weg, mit seinem seelischen Wesen in Kontakt zu treten.

Worte der Mutter
Wenn ich euch zum Beispiel auffordere, in euch selbst hinabzusteigen, konzentrieren sich einige in einer Empfindung, manche werden aber schon den Eindruck haben, in einen tiefen Brunnen hinabzusteigen, und sie haben durchaus das Bild von Stufen, die in einen dunklen und tiefen Brunnen hinuntergehen, und sie steigen immer weiter und weiter hinunter, und manchmal kommen sie direkt vor eine Tür, sie lassen sich davor nieder mit dem Willen einzutreten, und manchmal öffnet sich die Tür, und dann geht man hinein und sieht gleichsam einen Saal oder ein Zimmer oder eine Grotte oder so etwas, und dann kann man von da aus, wenn man weitergeht, zu einer anderen Tür gelangen und wieder Halt machen, und mit einer Anstrengung öffnet sich die Tür und man geht weiter, und wenn man dies beharrlich genug macht und die Erfahrung weiterführen kann, kommt ein Augenblick, wo man sich vor einer Tür be findet, die … besonders fest oder feierlich ist, und mit einer großen Konzentrationsbemühung öffnet sich die Tür, und man tritt plötzlich in ein Zimmer aus Helligkeit, aus Licht; und dann hat man die Erfahrung mit seiner Seele in Berührung zu sein…

Kapitel 5
Erwecken des inneren Bewusstseins
Worte Sri Aurobindos
Du fragst, welcher Art die Disziplin sei, der man zu folgen habe, um das mentale Suchen in eine lebendige spirituelle Erfahrung zu wandeln. Das erste Erfordernis ist, dein Bewusstsein in der nach innen gerichteten Konzentration zu schulen. Das gewöhnliche menschliche Mental besitzt eine Oberflächenaktivität, die das wahre Selbst verhüllt. Doch gibt es ein anderes, ein verborgenes, inneres Bewusstsein hinter der Oberfläche, wodurch man das wirkliche Selbst und eine größere und tiefere Wahrheit der Natur erkennt, wodurch man das Selbst verwirklichen und die Natur befreien und umwandeln kann. Das Ziel dieser Konzentration ist, das Oberflächenmental zu beruhigen und zu beginnen, innerlich zu leben. Dieses wahre Bewusstsein, das sich von dem oberflächlichen unterscheidet, hat zwei hauptsächliche Zentren, eines im Herzen (nicht im physischen Herzen, sondern im Kardial-Zentrum in der Mitte der Brust) und eines im Kopf. Die Konzentration im Herzen öffnet den Weg nach innen, und wenn man diesem inneren Öffnen folgt und sich in die Tiefe wendet, wird man der Seele oder des seelischen Wesens gewahr, des göttlichen Elements im Menschen. Dieses, nachdem es enthüllt wurde, beginnt hervorzutreten und die Natur zu lenken und sie samt allen ihren Bewegungen der Wahrheit und dem Göttlichen zuzuwenden sowie alles in sie herabzurufen, was sich darüber [über der menschlichen Natur] befindet. Es bringt das Bewusstsein der Gegenwart, der Weihung des Wesens an den Höchsten und macht die Herabkunft einer größeren Kraft und eines größeren Bewusstseins, die über uns warten, in unsere Natur möglich. Der erste Schritt, wenn man ihn tun kann, das heißt der natürliche Anfang ist, sich im Herzen auf die Darbringung seiner selbst an das Göttliche zu konzentrieren, sowie das Streben nach diesem inneren Öffnen und nach der Gegenwart im Herzen. Denn ist einmal dies erreicht, wird der spirituelle Pfad weit einfacher und sicherer, als wenn man mit dem anderen Weg beginnen würde.
Jener andere Weg ist die Konzentration im Kopf, im mentalen Zentrum. Diese öffnet, wenn sie zur Stille des Oberflächenmentals führt, ein inneres, größeres und tieferes Mental, das bereitwilliger spirituelle Erfahrung und spirituelles Wissen empfängt. Ist man hier einmal konzentriert, dann muss man das schweigende mentale Bewusstsein nach oben hin für alles öffnen, was sich über dem Mental befindet. Nach einiger Zeit fühlt man, wie das Bewusstsein aufsteigt, wie es sich schließlich über jenes Lid erhebt, von dem es so lange Zeit im Körper festgehalten wurde, und ein Zentrum über dem Kopf findet, von wo es in das Unendliche befreit wird. Dort beginnt es mit dem universalen Selbst, mit dem Göttlichen Frieden, dem Licht, der Macht, dem Wissen, der Seligkeit in Kontakt zu kommen, dort einzutreten und zu all dem zu werden – und die Herabkunft dieser Dinge in die Natur zu fühlen. Dieser zweite Weg der Konzentration ist also, sich im Kopf auf das Streben nach der Stille im Mental zu konzentrieren sowie auf die Verwirklichung des Selbstes und des Göttlichen über sich. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass die Konzentration des Bewusstseins im Kopf nur eine Vorbereitung für sein Aufsteigen zu dem Zentrum darüber ist, andernfalls könnte man in seinem Mental und dessen Erfahrungen eingeschlossen werden oder bestenfalls zu einer Widerspiegelung der Wahrheit gelangen, statt sich in die spirituelle Transzendenz zu erheben, um dort zu leben. Für einige ist die mentale Konzentration leichter, für andere die Konzentration im Herz-Zentrum; einige sind fähig, beides abwechselnd zu tun – doch ist es wünschenswerter, mit dem Herz-Zentrum zu beginnen, wenn man es vermag.
Die andere Seite der Disziplin betrifft die Tätigkeiten der menschlichen Natur, des Mentals, des Lebens-Selbstes oder Vitals und des physischen Wesens. Das Prinzip ist hier, die menschliche Natur mit der inneren Verwirklichung abzustimmen, damit man nicht in zwei disharmonierende Teile gespalten wird. Dabei sind verschiedene Disziplinen oder Vorgänge möglich. Eine davon ist, alle Tätigkeiten dem Göttlichen darzubringen, um die innere Führung zu bitten und darum, dass die menschliche Natur von einer Höheren Macht aufgenommen wird. Sobald dann das innere Sich-Öffnen der Seele stattfindet, sobald das seelische Wesen hervortritt, besteht keine große Schwierigkeit mehr. Denn Hand in Hand damit geht die seelische Unterscheidung, eine fortwährende Eingebung und schließlich eine Führung, die alle Unvollkommenheiten enthüllt und still und geduldig beseitigt, die rechten mentalen und vitalen Regungen bringt und auch das physische Bewusstsein umformt. Eine andere Methode ist zurückzustehen, losgelöst von den Regungen des Mentals, des Lebens, des physischen Wesens, ihre Tätigkeiten nur als die gewohnten Gestaltungen der allgemeinen Natur im Menschen zu betrachten, die uns durch vergangenes Tun auferlegt sind und nicht zu unserem wirklichen Wesen gehören. In dem Maß, wie einem dies glückt, wie man sich ablösen kann und das Mental und seine Tätigkeiten, das Leben und seine Tätigkeiten, den Körper und seine Tätigkeiten als nicht zu sich gehörend betrachtet, wird man sich eines inneren Wesens bewusst – eines inneren Mentals, eines inneren Vitals, eines inneren Physischen –, das ruhig, ungebunden und nicht verhaftet ist, das das wahre Selbst über einem spiegelt und sein direkter Vertreter sein kann. Von diesem inneren, schweigenden Wesen geht eine Zurückweisung all dessen aus, was zurückgewiesen werden muss, und eine Billigung allein von dem, was bewahrt und umgewandelt werden kann, ein innerster Wille zur Vollendung oder ein Ruf an die Göttliche Macht, bei jedem Schritt das zu tun, was für die Veränderung der Natur erforderlich ist. Es [das innere Wesen] kann auch Mental, Leben und Körper der innersten seelischen Wesenheit und ihrem lenkenden Einfluss oder ihrer unmittelbaren Führung öffnen. In den meisten Fällen zeichnen sich diese beiden Methoden ab, arbeiten zusammen und verschmelzen schließlich in eine einzige. Doch kann man mit jeder von ihnen beginnen, am besten mit derjenigen, der zu folgen einem am natürlichsten und einfachsten erscheint.
Schließlich kann in allen Schwierigkeiten, in denen die persönliche Bemühung behindert ist, die Hilfe des Lehrers eingreifen und das herbeiführen, was für die Verwirklichung oder den unmittelbar nächsten Schritt erforderlich ist.

Worte der Mutter
Wir lesen, wir suchen zu verstehen, wir erklären und streben zu erkennen, aber eine einzige Minute wahrer Erfahrung lehrt uns mehr als Millionen Worte und Hunderte von Erklärungen.
In sich gehen, das ist der erste Schritt, und ist es einmal gelungen, genügend tief in sich zu gehen, um die innere Wirklichkeit zu spüren, dann: sich weiten, stufenweise und planmäßig, um so weit wie das Weltall zu werden und das Gefühl der Begrenztheit zu verlieren.
Das sind die beiden vorbereitenden Bewegungen. Und sie müssen in einer Ruhe, einem Frieden, einer Gelassenheit geschehen, so vollkommen wie möglich. Dieser Friede, diese Ruhe bewirkt im Mental die Stille und im Vital die Unbewegtheit.
Diese Bemühung, diesen Versuch muss man beharrlich und sehr regelmäßig wiederholen, und nach einer mehr oder weniger langen Zeit beginnt man eine andere Wirklichkeit wahrzunehmen als die im gewöhnlichen äußeren Bewusstsein erblickte.
Natürlich kann es durch Gnade geschehen, dass ein Riss im Schleier entsteht und man auf einmal in die wirkliche Wahrheit eintreten kann; aber auch dann muss man, um des vollen Wertes und der vollen Wirkung teilhaftig zu werden, sich in einem Zustand innerer Empfänglichkeit halten, und dafür ist tägliches In-sich-gehen unerlässlich.

Kapitel 6
Ausüben statischer Macht
Worte der Mutter
Es gibt auch statische Macht. Wie soll ich dir das erklären? Ja, zwischen statischer und dynamischer Macht besteht etwa der gleiche Unterschied wie zwischen einem Verteidigungsspiel und einem Angriffsspiel? Es ist dasselbe. Statische Macht ist etwas, das allem widerstehen kann, nichts kann auf es einwirken, nichts es anrühren, nichts es erschüttern – es ist unbewegt, aber es ist unbesiegbar. Dynamische Macht ist etwas Bewegtes, das nach außen tritt und gelegentlich Schläge erhalten kann. Wenn du also willst, dass deine Macht stets siegreich sei, muss sie von beträchtlicher statischer Macht gestützt sein, von einer unerschütterlichen Grundlage.
Ich weiß, was du meinst … dass ein Mensch Macht erst dann wahrnimmt, wenn sie dynamisch ist; ein Mensch zieht Macht nur dann in Betracht, wenn sie handelt; wenn sie nicht handelt, bemerkt er sie überhaupt nicht, er sieht nicht, was für eine gewaltige Kraft hinter dieser Untätigkeit steht – manchmal, ja sogar oft, eine gewaltigere Kraft als in der handelnden Macht. Du kannst es an dir selbst erproben, und du wirst feststellen, dass es vor etwas sehr Unangenehmem – gegen dich gerichtete Worte oder auch Taten – unendlich viel schwerer fällt, ruhig, unbewegt und unerschüttert zu bleiben, als ebenso gewaltsam zu erwidern. Nehmen wir an, jemand beschimpft dich; kannst du angesichts der Schmähungen ruhig bleiben (und zwar nicht nur äußerlich, sondern ganzheitlich), in keiner Weise erschüttert oder berührt: Du stehst da wie eine Kraft, gegen die man nichts vermag, und du antwortest nicht, machst keine Gebärde, sagst kein Wort, alle Anwürfe lassen dich völlig gleichgültig, innerlich wie äußerlich; du kannst deine Herzschläge völlig ruhig halten; deine Gedanken im Kopf ganz unbewegt und still, nicht im geringsten erschüttert – dein Kopf entgegnet also nicht gleich mit ähnlichen Schwingungen, und deine Nerven fühlen keinen Krampf, den sie mit ein paar Schlägen lösen müssen; wenn du so sein kannst, besitzt du eine statische Macht, und sie ist unendlich viel stärker als jene Art von Kraft, die dich Unglimpf mit Unglimpf, Schläge mit Schlägen, Aufregung mit Aufregung erwidern lässt.

Kapitel 7
Des Schattens bewusst werden
Worte der Mutter
Beobachtest du dich aufmerksam, so siehst du, dass man in sich stets das Gegenteil der Tugend trägt, die man verwirklichen muss (ich verwende „Tugend“ in der weitesten und höchsten Bedeutung). Du hast ein besonderes Ziel, eine besondere Sendung, eine besondere Verwirklichung, jeder Einzelne etwas ihm Eigenes, und du trägst in dir alle Hindernisse, die nötig sind, damit die Verwirklichung vollkommen sei. Immer wirst du feststellen, dass in dir Schatten und Licht zusammengehören: Hast du eine Fähigkeit, so hast du auch ihre Verneinung. Und wenn du ein ganz schwarzes Loch entdeckst, einen finsteren Schatten, dann darfst du sicher sein, dass da ein großes Licht ist. An dir liegt es, das eine zu nutzen, um das andere zu verwirklichen.
Das ist eine Tatsache, von der wenig gesprochen wird, die aber von grundlegender Bedeutung ist. Und bist du aufmerksamer Beobachter, so siehst du, dass es sich stets bei allem so verhält. Das führt uns zu paradoxen, aber völlig wahren Aussagen, zum Beispiel: dass der schlimmste Dieb der ehrlichste Mensch sein kann (damit will ich dich natürlich nicht zum Stehlen ermutigen!), und der schlimmste Lügner kann einer sein, der zum Wahrhaftigsten wird. Verzweifelt also nicht, wenn du in dir die größte Schwäche findest, denn dies mag das Zeichen der größten göttlichen Stärke sein. Sage nicht: „So bin ich, und anders kann ich nicht sein.“ Das ist nicht wahr. Du bist „so“, gerade weil du das Gegenteil sein musst. Und all deine Schwierigkeiten sind eben dazu da, dass du lernst, sie in die Wahrheit umzuwandeln, die sie verbergen.
Sobald man das einmal begriffen hat, verlassen einen viele Sorgen; und man wird sehr, sehr froh. Erkennt man, dass finstere Löcher in einem sind, so sagt man sich: „Das beweist, dass ich sehr hoch steigen kann“, ist der Abgrund tief: „Ich kann sehr hoch steigen.“ Ebenso vom allheitlichen Gesichtspunkt aus; um es in der Hindu-Terminologie zu sagen, mit der du vertraut bist: Gerade die größten Asuras sind die größten Lichtwesen. Und an dem Tag, wo diese Asuras sich bekehren, werden sie die höchsten Wesen der Schöpfung sein. Dies soll dich aber nicht ermutigen „asurisch“ zu sein, aber so ist es – das mag dein Gehirn etwas weiten und dich von den Vorstellungen von Gut und Böse, die sich entgegenstehen, befreien helfen; denn solange du in jener Kategorie steckst, besteht keine Hoffnung.

Worte der Mutter
Man kann sehen, wenn man sich selbst sehr aufmerksam studiert … zum Beispiel, wenn du dich selbst beobachtest, stellst du fest, dass du an einem Tag sehr großzügig bist … großzügig in deinen Gefühlen, großzügig in deinem Empfinden, großzügig in deinem Denken und sogar in materiellen Dingen; das heißt, du verstehst die Fehler der anderen, ihre Absichten, Schwächen, sogar hässliche Regungen. Du siehst das alles und bist erfüllt von guten Gefühlen, von Großzügigkeit. Du sagst dir selbst: „Nun … jeder tut sein Bestes!“ – in dieser Art.
An einem anderen Tag – oder vielleicht schon in der nächsten Minute – wirst du in dir selbst eine Art Dürre, Starrheit bemerken, etwas das bitter ist, streng urteilt, das soweit geht, Groll zu haben, Hass, den Übeltäter bestraft haben möchte, etwas das beinahe Rachegefühle hat; gerade das genaue Gegenteil der früheren Haltung! Den einen Tag verletzt dich jemand und du sagst: „Das macht nichts! Er wusste es nicht.“ … oder: „Er konnte nicht anders.“ … oder: „Das ist seine Natur.“ … oder: „Er konnte es nicht verstehen!“ Am nächsten Tag – oder vielleicht eine Stunde später – sagst du: „Er muss bestraft werden! Dafür muss er zahlen! Ihm muss klar gemacht werden, dass er falsch gehandelt hat!“ – in einer Art Wut; und du möchtest Dinge nehmen, du möchtest sie für dich selbst behalten, du hast all die Gefühle von Eifersucht, Neid, Enge, gerade das genaue Gegenteil des anderen Gefühls.
Das ist die dunkle Seite. Und so, in dem Moment, in dem man sie sieht, wenn man sie betrachtet und nicht sagt: „Das bin ich“, wenn man sagt: „Nein, das ist mein Schatten, es ist das Wesen, das ich aus mir hinauswerfen muss“, legt man das Licht des anderen Teils darauf, versucht man sie einander gegenüber zu stellen; und mit dem Wissen und dem Licht des anderen versucht man es nicht so sehr zu überzeugen – denn das ist sehr schwierig –, sondern man zwingt es, ruhig zu bleiben … zuerst abseits zu stehen, dann wirft man es sehr weit weg, so dass es nicht mehr zurückkehren kann –, indem man ein großes Licht darauf legt. Es gibt Gelegenheiten, in denen eine Wandlung möglich ist, aber das ist sehr selten. Es gibt Gelegenheiten, in denen man auf dieses Wesen – oder diesen Schatten – ein so intensives Licht legen kann, dass es gewandelt wird, und es verwandelt sich in das, was die Wahrheit deines Wesens ist.
Aber das ist eine seltene Sache … Es kann getan werden, aber es ist selten. Gewöhnlich ist es das Beste zu sagen: „Nein, das bin ich nicht! Ich will es nicht! Ich habe mit dieser Regung nichts zu tun, es existiert für mich nicht, es ist etwas Gegensätzliches zu meiner Natur!“ Und so, indem man darauf besteht und es beiseite schiebt, trennt man sich schließlich davon.
Aber man muss zuerst klar und aufrichtig genug sein, um zu sehen, dass der Konflikt in einem selbst ist. Für gewöhnlich schenkt man diesen Dingen keine Aufmerksamkeit. Man wechselt von einem Extrem zum anderen. Ganz einfach ausgedrückt kannst du sagen: an einem Tag bin ich gut, am nächsten Tag bin ich schlecht. Und das erscheint ganz natürlich … Oder du bist manchmal sogar für eine Stunde gut und in der nächsten Stunde bist du böse; oder manchmal bist du während des ganzen Tages gut und wirst plötzlich böse, für eine Minute sehr boshaft, viel schlechter als man gut war! Nur merkt man es nicht. Gedanken gehen einem durch den Kopf, gewalttätige, schlechte, hasserfüllte Dinge, gerade so … Gewöhnlich schenkt man dem keine Aufmerksamkeit. Aber das ist es, was geschnappt werden muss! Sobald es sich zeigt, musst du es so schnappen, (die Mutter macht eine Bewegung), mit ganz festem Griff, und dann halte es, halte es zum Licht und sage: „Nein! Ich will dich nicht! Ich – will – dich – nicht! Ich habe nichts damit zu tun! Du verschwindest jetzt hier und kommst nicht mehr zurück!“
(Nach einem Schweigen) Und das ist etwas – eine Erfahrung, die man jeden Tag haben kann, oder beinahe … Wenn man jene Bewegungen großer Begeisterung, großer Aspiration hat, wenn man plötzlich des göttlichen Ziels bewusst wird, des Drangs zum Göttlichen, des Wunsches, am göttlichen Werk teilzunehmen, wenn man aus sich selbst mit großer Freude und großer Kraft herauskommt … und dann, einige Stunden später fühlt man sich wegen einer Winzigkeit elend; man gibt einem so geringfügigen, engen, alltäglichen Eigennutz nach, hat solch einen dummen Wunsch … und all das andere hat sich verflüchtigt, als ob es nicht existiert hätte. Man ist an Widersprüche völlig gewöhnt; man schenkt dem keine Aufmerksamkeit und das ist der Grund, warum all diese Dinge ganz gemütlich als Nachbarn nebeneinander bestehen. Man muss sie erst entdecken und sie davor bewahren, dass sie sich ins Bewusstsein mischen: entscheide zwischen ihnen, trenne den Schatten vom Licht. Später kann man den Schatten loswerden.
