Fliege

Musca Domestica

Freddie war eine Fliege. Für das gewöhnliche Auge war er nicht mehr als eine normale „hole-die-Fliegenklappe-und-gib-ihr-eins-drauf-Hausfliege“. Jene Art Geschöpf, das du tötest in dem Moment, wo du es siehst, nicht nur zum eigenen Besten, sondern zum Schutze deiner Mitmenschen. Außerhalb der hohen Bewertung, die ich ihm gab, war Freddie ganz ohne Rang in der Gesellschaft. Das einzige, was ihn ein klein wenig auszeichnete, war der Name, den ein schwedischer Naturforscher seiner Spezies im achtzehnten Jahrhundert gab: er nannte sie Musca domestica.

Meine erste Begegnung mit Freddie fand eines frühen Morgens in meinem Badezimmer statt, als ich mich rasierte. Plötzlich landete eine Fliege mitten auf dem Vergrößerungsspiegel, in den ich blickte, und rief die Illusion hervor, dass sie sich tatsächlich auf meiner Nasenspitze befand.

Während ich mich rasierte, beobachtete ich den Gesellen ein wenig mit schielenden Augen und fragte mich, warum er denn mitten auf meinem Spiegel landen musste, wenn es doch so viele andere Landeplätze für Fliegen im Badezimmer gab. Ich fragte mich auch, was er wohl im Sinn hatte. Ich kam zu dem Schluss, dass er – da er in Hollywood war, mit seinen mächtigen Einflüssen von Show und Vorspiegelung – dort posierte wie ein Schauspieler, der die Aufmerksamkeit auf sich ziehen will, indem er sich narzisstisch an den vergrößernden Eigenschaften des Spiegels erbaute und mich als Publikum gebrauchte.

Ich stellte dann Spekulationen an, wie es sein konnte, dass ein so gewöhnlicher kleiner Störenfried wie eine Hausfliege das Privileg hatte, seinen Körper mit solcher Freiheit, Leichtigkeit und Freude durch den Raum zu bewegen, während ich, der ich doch eigentlich so unvergleichlich überlegen sein sollte, mit meinen eigenen Pferdekräften kaum auch nur vom Boden abheben konnte, es sei denn in den lächerlichsten kleinen Sprüngen. Warum besaßen Fliegen die Fähigkeit, auf Mauern und Wänden herumzuwandern, auf ihnen zu spielen, zu meditieren und sogar zu schlafen, während mir dieses Privileg versagt war?

Später, als ich in meiner kleinen Küche frühstückte, blickte ich von meiner Zeitung auf und sah auf dem Rand des Tellers eine weitere Musca domestica. Ich fragte mich, wie die Fliegen in das Haus hereinkamen. Nach dem Frühstück ging ich ins Wohnzimmer, um mit meinen täglichen literarischen Arbeiten zu beginnen, und dann entdeckte ich dort eine weitere Fliege, die auf einem Stapel gelben Schreibmaschinenpapiers stand.

„Wenn es drei Fliegen in diesem Haus gibt, dann ist das eine Sache,“ sagte ich mir selbst. „Aber wenn die drei Fliegen, die ich heute morgen gesehen habe, nur eine Fliege sind, dann ist das etwas anderes.“

Ich eilte ins Badezimmer, aber dort fand sich keine Fliege auf dem Spiegel. Ich ging in die Küche, keine Fliege zu sehen. Zurück an den Schreibtisch, keine Fliege auf dem gelben Papier. So setzte ich mich und wartete. Vielleicht vergingen zwei Minuten; dann erschien eine Fliege. Sie kam aus der Richtung der Küche und ritt auf einem Sonnenstrahl wie ein kleines Flugzeug, das von einer Mission zurückkehrt. Es sah so aus, als ob die drei Fliegen im Haus nur eine Fliege wären, und sie schien mir zu folgen wie ein einsamer kleiner Hund, der nach verständnisvoller menschlicher Gesellschaft Ausschau hielt.

Der kleine Geselle kreiste herum und herum, direkt über meinem Kopf; dann tauchte er herab, setzte auf und landete wieder auf dem Stapel gelben Papiers. Eine Weile betrachteten wir einander ohne die geringste äußere Bewegung, aber eine Menge Dinge gingen uns durch den Kopf. Dann setzte ich vorsichtig einen Zeigefinger auf den Rand des gelben Papiers und fragte ihn mit aller Freundlichkeit, die mir zu Gebote stand, ob er nicht an Bord kommen wolle, damit wir einander besser kennenlernten. In einer Bewegung, die schneller war als dass das menschliche Auge ihr folgen könnte, war er runter vom Papier und auf meinem Finger.

Ich hob den Finger auf Augenhöhe und begann den Gesellen durch ein Vergrößerungsglas zu beobachten. Einige Minutenlang war er sehr ruhig; vielleicht plante er, was er als nächstes tun sollte. Dann begann er mit einem raschen Schritt, der so charakteristisch für Fliegen ist, die volle Länge meines Fingers auf und ab zu paradieren, als ob er nach der Musik einer unsichtbaren Kapelle marschierte. Dann und wann hielt er inne und nahm dann seine Parade wieder auf. Es hatte den Anschein, dass er sich ausgezeichnet unterhielt und dasselbe auch von mir hoffte.

Inmitten der schnellen körperlichen Bewegung hielt er abrupt inne, wandte sich vollständig um, marschierte zur Mitte des Fingers und begann seine Beine über dem Kopf zu reiben, was zur Folge hatte, dass dieser in meiner Richtung heftig auf und ab schwenkte. Da ich annahm, dies könnte seine Art und Weise sein, sein Wohlgefallen auszudrücken, und da ich mich in meinem eigenen Haus in Sachen gute Manieren nicht in den Schatten stellen lassen wollte, zumal nicht von einer Fliege, begann ich mich ebenso höflich zu ihm zurück zu verbeugen. Ich war froh, dass mich keiner meiner Nachbarn durchs Fenster beobachten konnte.

Da ich gern sehen wollte, wie er reagieren würde, schleuderte ich den kleinen Gesellen abrupt in die Luft. Das störte ihn nicht im mindesten; vielmehr schien es ihm zu gefallen. Er kreuzte langsam direkt über meinem Kopf in Kreisen, aber als ich meinen Finger in seine Richtung wies, kam er herunter, landete auf der Fingerspitze, wie wenn er und ich solche Dinge seit langer Zeit praktizierten. Ich tat dies immer wieder, aber jedes Mal, wenn er weggeschleudert wurde, kehrte er stets zum ausgestreckten Finger zurück und begann wieder zu paradieren, zu posieren und den Kopf zu schwenken.

Als wir nach einer dieser Landungen pausierten, reichte ich langsam mit einem anderen Finger herüber und berührte ihn. Er rutschte ein wenig, trotz der äußerst sanften Berührung, aber erhob nicht ab und zeigte auch nicht das geringste Zeichen von Furcht. Ich begann langsam die Ränder seiner Flügel zu streicheln und still zu ihm zu sprechen. Nicht wie zu einer „Fliege“ mit all den limitierenden Vorurteilen, die wir Menschen gewöhnlich Fliegen entgegenbringen, sondern wie zu einem intelligenten Mitwesen. Während die Welt um uns herum tief in Missverständnis, Furcht und Zerstörung steckte, standen die Dinge äußerst gut zwischen jener kleinen Hausfliege und mir, zumindest vorläufig…

Einige Tage, nachdem ich ihn kennengelernt hatte, gab ich ihm den Namen Freddie – Freddie die Fliege. Ich weiß, dass er es zu schätzen wusste, denn er reagierte stets auf den Namen, wenn ich ihn rief, ganz gleich ob ich es mental oder stimmlich tat. Wir machten uns sozusagen zu Versuchstieren, um zu sehen, wieweit wir dahin gelangen könnten, einander wirklich als Mitwesen zu verstehen. Es gab keine schriftlichen Anweisungen für solche irreguläre Prozedur, keine Kooperation, keine Ermutigung, nicht einmal ein freundliches Nicken jener, die gewöhnlich solche abstrusen Dinge in aufmerksamer Neugier verstehen. Mein Partner im Unternehmen war „eine gewöhnliche kleine Hausfliege“, und dies hatte automatisch zu Folge, dass praktisch nicht mit Billigung vonseiten der Menschen zu rechnen war. Möglicherweise mit Ausnahme des Wetters stand alles gegen uns, aber das gab dem Abenteuer nur umso mehr Interesse und Eifer.

Das erste, was ich tat, nachdem ich die weitreichende Bedeutung von all dem verstand, war, Freddies Image als Fliege völlig reinzuwaschen. Ich löschte alle unvorteilhaften Bewertungen, alle Urteile, die mit ihm als Fliege zu tun hatten. All das verschwand, was ich je über Fliegen gehört, gelesen oder gedacht hatte und was im geringsten einschränkend oder unfreundlich war. Es war eine gründliche Reinigung. Von nun an bestimmte ich selbst und nicht „die öffentliche Meinung“ über Freddies Lebensstatus. Von nun an wurde er für mich, was ich, und nur ich allein, über ihn dachte. Und jene ständige Haltung gegenüber meinem kleinen Gefährten öffnete das Tor für all die bemerkenswerten Dinge, die dann geschahen.

Ein weiterer Faktor, der uns über die Barrieren hinweghalf, welche Menschen und Fliegen daran hinderten, einander wirklich zu verstehen, war dieses Motto: „Wenn du das Geheimnis wirklicher Beziehung erfassen möchtest, schau nur nach dem Guten, das heißt, dem Göttlichen in Menschen und Dingen aus, und überlasse alles Übrige Gott.“

Der Gebrauch dieses alten Rezeptes war in all meinem Umgang mit Freddie wie das Schwenken eines Zauberstabs. Es verwandelte ihn in etwas, das wie eine Fliege ausschaute, sicher jedoch nicht in ihrer Gemeinschaft mit mir als solche handelte. Durch die ständige Bemühung, nur nach dem Guten Ausschau zu halten, wurde Freddie so etwas wie eine Figur aus den Schriften von Hans Christian Andersen.

Unsere empfindliche und heikle Beziehung aufrechtzuerhalten, war jedoch nicht immer einfach. Sie erforderte, dass ich versuchte, seinen Standpunkt in allem, was wir taten, zu verstehen, und dass jeder noch so geringe Gedanke, den ich in seine Richtung sandte, die sorgfältigste Zensur erforderte. Ich fand, dass ich nicht zulassen durfte, dass irgendetwas Unhöfliches, Rücksichtsloses oder Nachteiliges in meine mentale Haltung ihm gegenüber hereinkommen durfte; in dem Augenblick, wo es geschah, wurde unser Verhältnis gestört…

Wohin ich auch im Haus ging, Freddie kam auch mit und nahm nach bestem Vermögen an der jeweiligen Tätigkeit teil, wobei er oft auf einer meiner Schultern ritt und manchmal mir voraus flog, indem er Akrobatik vorführte. Wenn ich in Eile war und durch die Zimmer raste, schoss er stets voraus und zeigte mir, wie wenig fortgeschritten ich wirklich in Geschwindigkeit und Wendigkeit war. Wenn ich plötzlich stoppte, drehte er gewöhnlich einige observierende Schleifen und kehrte dann zu meiner Schulter zurück.

Wenn ich mir irgendetwas im Radio anhören wollte, pflegte sich Freddie auf das Gerät zu stellen und scheinbar auch zuzuhören. Wenn etwas aus einem Bücherschrank oder Aktenschrank zu nehmen war, überwachte er den Vorgang von einer beobachtenden Position in der Nähe. Während ich etwas schrieb, pflegte er seine Zeit zuzubringen, indem er entweder in der Nähe herumkreuzte oder auf dem Schreibtisch herumschnüffelte.

Während Freddie die Erlaubnis hatte, zu tun was immer er wollte, bestand ich doch auf einer Regel des Zusammenlebens, die er einhalten musste. Er durfte nicht auf meinem Gesicht, meinen Händen oder anderen exponierten Hauptoberflächen herumwandern. Ich erklärte ihm sorgfältig, dass ein solches Herumwandern auf der menschlichen Epidermis die Tendenz habe, die Angehörigen meiner Spezies zu wütenden Stimmungen und Handlungen zu veranlassen. Er muss mich offenbar verstanden haben, denn während der Zeit unseres Zusammenlebens verletzte er diese Regel kein einziges Mal. Er wanderte über meine Kleider, die zu „offenem Territorium“ erklärt worden waren, und wanderte am Kragenrand und an den Rändern der Ärmel entlang, aber nie berührten seine Füße meine Haut ohne Genehmigung.

Hier hatten wir eine echte gemeinschaftliche Kooperation vonseiten „einer gewöhnlichen kleinen Hausfliege“, die nie irgendeine Art von Ausbildung hatte, die weder lesen noch schreiben konnte, die keine Fragen stellen konnte, die nie irgendwohin gegangen war oder gesehen hatte, wie die übrige Welt lebt, und die keine Emily Post hatte, um ihr ein Verhaltensmuster zu empfehlen. Aber er benötigte keine solchen menschlichen Stützen. Er hatte eine angeborene Fähigkeit, zu wissen, zu sein und zu teilen.

Einmal geschah es spät in der Nacht, als ich bereits einige Stunden im Bett lag, dass jemand heftig an die Tür klopfte, wie wenn die Polizei gekommen wäre. Es stellte sich heraus, dass es ein Freund von mir war, ein Schauspieler, und er war voll aufgeregter Neugier. Er hatte gerade bei einer Dinner-Party von Freddie der Fliege gehört. Er war sehr interessiert an den Berichten, aber nicht bereit, sie ohne persönliche Nachprüfung zu glauben.

Ich sagte ihm, es wäre unmöglich für ihn, Freddie zu jener Stunde zu treffen, da ich nicht wusste, wo der kleine Geselle die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang verbrachte. Ich schlug vor, dass er am nächsten Tag zurückkäme, wenn ich Freddies Erscheinen garantieren könne. Aber das war unmöglich; der Schauspieler musste am nächsten Morgen nach New York abreisen. Er bat mich und plädierte inständig, nur einen Blick auf Freddie werfen zu dürfen. Dann schließlich erklärte ich mich wider besseres Wissen bereit, den Versuch zu unternehmen, ihn zu produzieren.

Der Schauspieler machte es sich in der Mitte einer großen Couch bequem, von wo er den Raum voll überblicken konnte. Ich saß in einem Klubsessel, dessen Lehne einer der Lieblingsstandorte Freddies war. Mein Freund begann mich in derselben Weise anzustarren, wie die Leute den großen Magier Houdini anzustarren pflegten.

Ich saß sehr still und begann ohne den geringsten äußeren Hinweis darauf, was ich wirklich tat, Freddie einen stillen Notruf zu senden.

Wir warteten und warteten und warteten. Kein Freddie erschien. Wenn man die sehr angespannte Natur des Schauspielers in Betracht zieht, so war er enorm geduldig. Trotzdem begann aber eine Atmosphäre der Skepsis von ihm auszugehen. Ich setzte die stillen Rufe fort.

Viel mehr Zeit verging und nichts geschah. Dann, als ich gerade die ganze Sache abbrechen wollte, kam ein Funken intensiven Lebens aus der Dunkelheit des Schlafzimmers geschossen. Es war Freddie. Er begann langsame Kreise etwas über meiner Augenhöhe zu drehen.

„Ist das wirklich Freddie?“ keuchte der Schauspieler heraus.

Einige Minuten beobachteten wir beide die kleine Fliege, wie sie langsam herumkreuzte, um zu sehen, was auf dem Programm stand. Dann wies ich einen Zeigefinger in seiner Richtung. Herunter kam er, landete sanft und elegant auf der Fingerspitze. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Schauspielers war solcherart, wie ich ihn vorher sicher nie gesehen hatte. Eine Weile sprach ich stimmlich mit Freddie, dankte ihm für sein Kommen, erklärte ihm die ganze Situation. Und dann stellte ich ihn – als krönenden Abschluss – dem Schauspieler vor.

J. Allen Boone