Mr. Tiger
Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es ist eine buddhistische Geschichte, die ihr vielleicht schon kennt, sie ist jüngeren Ursprungs, aber hat den Vorteil, authentisch zu sein. Ich hörte sie von Madame Z, die, wie ihr wahrscheinlich wisst, eine berühmte Buddhistin ist, besonders da sie die erste Europäerin war, die Lhasa aufsuchen konnte. Ihre Reise nach Tibet war sehr gefährlich und aufregend, und sie erzählte mir einen der Vorfälle dieser Reise. Davon werde ich heute Abend berichten.
Sie reiste mit einigen Gefährten, die eine Art Karawane bildeten, und da man Tibet etwas leichter durch Indochina erreichen konnte, kamen sie von dort. Indochina ist von riesigen Wäldern überzogen, und diese Wälder sind voller Tiger, von denen einige zu Menschenfressern werden… und wenn dies geschieht, werden sie „Mr. Tiger“ genannt.
Eines späten Abends, als sie tief im Walddickicht waren – sie mussten den Wald durchqueren, um sicher kampieren zu können – sah Madame Z, dass es Zeit für ihre Meditation war. Sie pflegte zu bestimmten Zeiten – sehr regelmäßig – zu meditieren, ohne je auch nur eine Meditation auszulassen. Da es nun Zeit für ihre Meditation war, sagte sie ihren Gefährten: „Geht ihr nur voran, ich werde hier sitzen und meine Meditation halten, und wenn ich fertig bin, werde ich mich euch anschließen; indessen geht zur nächsten Etappe und bereitet das Lager vor.“ Einer der Träger sagte ihr: „Nein, Madame, das ist unmöglich – ganz unmöglich“ – natürlich sprach er in seiner eigenen Sprache, aber ihr müsst wissen, dass Madame Z fließend tibetisch verstand – „es ist ganz unmöglich, Mr. Tiger ist hier im Wald, und jetzt ist es seine Zeit, zu kommen und nach Nahrung Ausschau zu halten. Wir können Sie nicht allein lassen, Sie können nicht hier bleiben!“ Sie antwortete, das kümmere sie gar nicht, die Meditation sei ihr viel wichtiger als Sicherheit, sie könnten gehen und sie bliebe allein zurück.
Sehr widerstrebend machten sie sich auf den Weg, denn man konnte nicht mir ihr argumentieren – wenn sie beschlossen hatte, etwas zu tun, konnte sie nichts davon abhalten. Sie gingen fort, und sie setzte sich bequem an den Fuß eines Baumes und vertiefte sich in ihre Meditation. Nach einer Weile spürte sie eine recht unerfreuliche Gegenwart. Sie öffnete ihre Augen, um zu sehen, was es war… und drei oder vier Schritte entfernt, direkt vor ihr stand Mr. Tiger! – mit Augen voller Begierde. Nach Art einer guten Buddhistin sagte sie sich: „Nun gut, wenn ich auf diese Weise Nirvana erlangen soll, sehr gut. Ich muss mich nur vorbereiten, um meinen Körper in der richtigen Weise, im rechten Geist zu verlassen.“ Und ohne sich zu rühren, selbst ohne das geringste Zittern, schloss sie wieder ihre Augen und trat wieder in die Meditation ein; dies war eine tiefere, intensivere Meditation, wobei sie sich völlig von der Illusion der Welt löste und bereit war, in das Nirvana einzutreten… Es vergingen fünf Minuten, zehn Minuten, eine halbe Stunde – nichts geschah. Dann, als die Zeit für die Meditation abgelaufen war, öffnete sie ihre Augen… und kein Tiger war zu sehen! Als er einen so reglosen Körper sah, muss er ohne Frage gedacht haben, dass er sich nicht zum Verzehr eigne! Denn Tiger – wie alle wilden Tiere außer der Hyäne – greifen nicht einen toten Körper an und fressen ihn nicht. Beeindruckt wahrscheinlich von dieser Reglosigkeit – ich wage nicht zu sagen, von der Intensität der Meditation! – hatte er sich zurückgezogen, und sie fand sich ganz allein und außer Gefahr. Sie ging ruhig ihres Weges, und als sie das Lager erreichte, sagte sie: „Da bin ich also.“
Die Mutter
