Intuition und ihre Entwicklung

Mutter, wie kann die Fähigkeit der Intuition entwickelt werden?

Es gibt verschiedene Arten der Intuition und wir tragen diese Fähigkeiten dazu in uns. Sie sind bis zu einem gewissen Grad immer aktiv, aber wir nehmen sie nicht wahr, weil wir nicht genügend darauf achten, was in uns geschieht. Hinter den Emotionen, tief in unserem Wesen, auf einer Ebene des Bewusstseins, die in der Nähe des Zentrums des Solarplexus liegt, existiert eine Art des Voraus-Wissens, eine Fähigkeit der Vorausschau, aber nicht in der Form von Ideen, die man entwickelt, sondern eher in Form von Gefühlen, beinahe eine Art Kenntnis der Sinnesempfindungen. Wenn man z.B. dabei ist, etwas Bestimmtes zu tun, entsteht dort manchmal eine Art Unbehagen oder innere Weigerung und normalerweise, wenn man auf diesen inneren Hinweis hört, wird einem klar, dass er gerechtfertigt war.

In anderen Fällen ist es etwas, das einen zu etwas drängt, nachdrücklich darauf hinweist und darauf besteht – ich rede nicht von Impulsen, versteht ihr, nicht von den Regungen, die vom vitalen Gefühl oder aus noch niederen Regionen herrühren – sondern von Anzeichen, Hinweisen, die sich hinter dem Gefühl befinden, die aus dem emotionalen Teil des Wesens kommen; von dort aus kann man auch einen ziemlich genauen Hinweis auf das erhalten, was zu tun ist. Diese Hinweise sind Ausdrucksformen der Intuition oder eines höheren Instinktes, die durch Beobachtung oder auch durch ihr Studium und das Analysieren und Vergleichen der Resultate dieser Hinweise entwickelt werden können. Natürlich muss das sehr aufrichtig, objektiv und ohne Voreingenommenheit durchgeführt werden. Wenn man die Dinge von vorne herein nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise betrachten möchte, gleichzeitig aber diese Art der distanzierten Beobachtung praktizieren will, ist der ganze Versuch zwecklos. Man muss die Vorgänge, die sich in einem selbst abspielen, so beobachten, als sei man ein Außenstehender.

Das ist eine Art der Intuition und vielleicht diejenige, die sich zuerst zeigt.

Es gibt noch eine andere Form der Intuition, die jedoch sehr viel schwieriger zu erkennen ist für diejenigen, die daran gewöhnt sind, sich vom Verstand leiten zu lassen und nicht nur impulsiv, sondern verstandesmäßig zu handeln, also zu reflektieren, bevor sie etwas tun. Schwierig deshalb, weil im halb bewussten Denken ein extrem schneller Übergang von der Ursache eines Gedankens zu Schlussfolgerung auf das Ergebnis stattfindet, der einen wegen der Schnelligkeit des Prozesses davon abhält, die vollständige Reihe der gedanklichen Folgerungen zu beobachten, und deshalb hält man diesen Prozess nicht für eine Kette von Folgerungen, sondern für Intuition und das ist sehr trügerisch. Man hat den Eindruck einer Intuition, aber es ist keine Intuition, sondern ein extrem schnelles, unterbewusstes Folgern, das ein Problem aufgreift und direkt Schlüsse daraus zieht. Diesen Prozess darf man nicht mit Intuition verwechseln. In der normalen Funktionsweise des Gehirns ist die Intuition etwas, das plötzlich wie ein Tropfen von Licht einfällt. Wenn man anfänglich die Fähigkeit der mentalen Vision entwickelt, erweckt das die Wahrnehmung von etwas, das von oben oder von außen kommt wie der leichte Eindruck eines Tropfens von Licht auf das Gehirn und das vollzieht sich völlig unabhängig von allem Schlussfolgern. Es ist einfacher, das wahrzunehmen, wenn man sein Denken zum Schweigen bringen kann und es still und aufmerksam hält, indem man das übliche Funktionieren der Denkvorgänge einstellt, so als ob man das Denken in eine Art Spiegel verwandeln würde, der in anhaltender und aufmerksamer Schweigsamkeit auf eine höhere Fähigkeit ausgerichtet ist. Auch das kann man lernen zu praktizieren. Tatsächlich muss man es lernen, es ist eine notwendige Disziplin.

Wenn man ein Problem zu lösen hat, was immer es sein mag, konzentriert man seine Aufmerksamkeit gewöhnlich hier (sie zeigt auf die Stelle zwischen den Augenbrauen), im Zentrum, direkt über den Augen, dem Zentrum des bewussten Willens. Aber wenn man es so versucht, ist man nicht in Verbindung mit der Intuition. Man kann an dieser Stelle in Kontakt mit dem Ursprung von Willen, von Bemühung und sogar einer bestimmten Art des Wissens gelangen, das liegt jedoch im äußeren, beinahe materiellen Bereich; während man das da (Mutter zeigt auf die Stirn) vollkommen reglos halten muss, wenn man Verbindung zur Intuition aufnehmen will. Aktive Gedanken müssen so weit wie möglich eingestellt werden und die gesamte mentale Denkfähigkeit muss am Scheitel des Kopfes und wenn möglich ein wenig darüber eine Art Spiegel bilden, der sehr ruhig, sehr still, in schweigender, sehr stark konzentrierter Aufmerksamkeit nach oben auf eine höhere Fähigkeit gerichtet ist. Wenn dir das gelingt, kannst du – vielleicht nicht sofort – Tropfen von Licht wahrnehmen, die aus einer noch unbekannten Region auf den Spiegel fallen und sich als bewusster Gedanke ausdrücken, der keine Verbindung zu dem ganzen übrigen Denken hat, weil du fähig bist, das still zu halten. Das ist der wirkliche Anfang der intellektuellen Intuition.

Das ist eine Disziplin, die man verfolgen muss. Für lange Zeit versucht man es vielleicht vergeblich, aber sobald es einem gelingt, einen „Spiegel“ zu formen, erhält man immer ein Ergebnis – nicht unbedingt als klare Form eines Gedankens, aber als Empfindung eines Lichts, das von oben kommt. Wenn man dieses Licht von oben empfangen kann, ohne sofort in einen Strudel von Aktivität zu geraten, sondern in Ruhe und Stille und es tief in sein Wesen eindringen lässt, dann drückt es sich nach einer Weile entweder als leuchtender Gedanke oder als ein sehr genauer Hinweis, hier (Mutter deutet auf ihr Herz) in diesem Zentrum aus.

Natürlich müssen zuerst diese zwei Fähigkeiten entwickelt werden; denn sobald sich ein Resultat zeigt, muss man dies sorgfältig beobachten, wie ich schon sagte, und die Beziehung der Intuition zu den Ereignissen und Konsequenzen in der Wirklichkeit erkennen: Man muss sehr aufmerksam, fast wissenschaftlich beobachten, ob etwas in diese Intuition eingedrungen ist und eine Verfälschung erzeugt und was man eventuell durch mehr oder weniger bewusstes Schlussfolgern oder Dazwischenkommen eines eigenen, tiefer gelegenen Wunsches, wiederum auch wieder mehr oder weniger bewusst, selbst zu dieser Intuition hinzugefügt hat. Durch ein sehr eingehendes Studium – das beinahe in jedem Moment, auf jeden Fall jedoch täglich und sehr häufig praktiziert werden muss – gelingt es einem, die Intuition zu entwickeln. Das dauert sehr lange. Das braucht sehr viel Zeit und man kann dabei aus dem Hinterhalt überfallen werden: Man kann sich selbst etwas vormachen, indem man unbewusste Wünsche, die sich durchsetzen möchten, für Intuitionen hält oder auch versteckte Hinweise von Impulsen, denen man sich verweigert hatte – tatsächlich können alle Arten von Schwierigkeiten auftauchen. Darauf muss man vorbereitet sein. Aber wenn man durchhält, wird man ganz sicher Erfolg haben.

Nach einer gewissen Zeit spürt man eine Art innerer Führung, etwas, was einen sehr deutlich wahrnehmbar in allem anleitet, was man unternimmt. Aber dann muss man sich natürlich dieser Führung bewusst überlassen, damit sie ihre maximale Wirkung erzielen kann, man muss aufrichtig dazu entschlossen sein, dem Hinweis zu folgen, der von der höheren Kraft kam. Wenn man das macht… kann man sich Jahre des Studiums ersparen, denn man begreift die Lösungen von Problemen extrem schnell. Die Ergebnisse von Aufgaben zeigen sich sehr viel schneller. Aber um das zu erreichen, muss man es mit Aufrichtigkeit und einer Art innerer Spontaneität praktizieren. Wenn man es ohne dieses innere Sich-Überlassen versuchen möchte, kann man damit auch erfolgreich sein – wie man auch damit Erfolg haben kann, seinen persönlichen Willen zu entwickeln und zu einer beachtlichen Kraft zu machen – aber es dauert dann lange und man trifft auf viele Hindernisse und das Ergebnis ist sehr ungewiss, man muss dann sehr beständig, hartnäckig und ausdauernd sein und wird auch bestimmt Erfolg haben, aber nur nach einer sehr großen Anstrengung.

Überlasse es der höheren Kraft mit einer aufrichtigen, vollständigen Selbsthingabe und du wirst mit voller Geschwindigkeit vorankommen, du wirst viel schneller weiterkommen – aber du musst dabei nicht berechnend sein, denn das verdirbt alles.

DIE MUTTER, CWM 9:357