Individualität zu erreichen ist eine Eroberung

Der Körper mit seinen Begrenzungen ist eine Gussform, in die Seele und Denken gegossen werden, und diese Begrenzungen müssen andauernd durchbrochen und in weitere Grenzen umgeformt werden, bis eine Formel der Übereinstimmung zwischen dem Endlichen und seiner eigenen Unendlichkeit gefunden wird.

SRI AUROBINDO, Gedanken und Einblicke

Süße Mutter, wie sollen wir das verstehen: „Der Körper mit seinen Begrenzungen ist eine Gussform“?

Wenn du keinen Körper mit einer klar umrissenen Form hättest, wenn du keine ausgebildete Individualität besitzen würdest, die sehr bewusst über ihre eigenen Charaktereigenschaften verfügt, würdet ihr alle ununterscheidbar miteinander verschmolzen sein. Selbst wenn wir uns nur ein wenig in die inneren Ebenen begeben, in das materiellste Vitale, gibt es dort eine derartige Vermischung der Ausstrahlungen verschiedener Leute, dass es sehr schwierig ist, irgendjemanden von euch klar von den anderen zu unterscheiden. Und wenn ihr keinen Körper hättet, wäret ihr nichts anderes als eine Art von vermengtem Brei. Deshalb existiert die Form, diese klare und anscheinend rigide Form des Körpers, die euch voneinander unterscheidet. Diese Gestalt deines Körpers dient also als eine Gussform. (Sie spricht mit dem Kind). Weißt du was eine Gussform ist? Da schüttet man eine Masse in flüssigem oder halbflüssigem Zustand hinein und wenn diese flüssige Masse abkühlt, kann man diese Gussform zerbrechen und hat dann ein Objekt in fester Form. Nun, der Körper dient als eine Gussform, in der die vitalen und mentalen Kräfte der Natur eine genaue Form annehmen, sodass aus dir ein individuelles Wesen wird, das sich von den anderen unterscheidet.

Nur allmählich, sehr langsam, durch die Umstände des Lebens und durch eine mehr oder weniger gute und gründliche Erziehung fängst du an, diejenigen Gefühle und Ideen zu entwickeln, die deine persönlichen sind. Ein individualisiertes Denken ist extrem selten, es entwickelt sich erst nach einer langen Ausbildung, ansonsten sind Gedanken eine Art von Strömung, die durch dein Gehirn fließt und dann durch das Gehirn anderer Menschen und dann durch eine Vielzahl von anderen Gehirnen und das Ganze ist in ständiger Bewegung und besitzt keine eigene Individualität. Man denkt das, was andere denken, andere denken das, was wieder andere denken, und jeder denkt so, in einer starken Vermischung des Denkens, denn all das sind Ströme, Vibrationen von Gedanken, die von einem zum anderen fließen. Wenn du dich selbst aufmerksam betrachtest, wirst du sehr schnell merken, dass du sehr wenige persönliche Gedanken hast. Woher beziehst du sie dann? – Von dem, was du gehört hast, von dem, was du gelesen hast, was dich gelehrt wurde, aber wie viele dieser Gedanke sind das Resultat deiner eigenen Erfahrung, deiner eigenen Überlegung, deiner eigenen persönlichen Beobachtung? – Nicht viele.

Nur diejenigen, die ein intensives intellektuelles Leben haben, die die Angewohnheit entwickelt haben zu reflektieren, zu überlegen, zu beobachten und Ideen zusammenzufügen, bilden graduell eine mentale Individualität für sich selbst.

Die meisten Menschen – und nicht nur die ungebildeten, sondern sogar die belesenen – können die widersprüchlichsten, die gegensätzlichsten Gedanken in sich tragen, ohne sich überhaupt ihrer Widersprüche bewusst zu sein. Ich habe unzählige Beispiele dafür gesehen, von Leuten, die bestimmte Ideen gepflegt haben und sogar politische, soziale und religiöse Überzeugungen in den sogenannten höheren Sphären der menschlichen Intelligenz besaßen und die gleichzeitig absolut gegensätzliche Ansichten zu denselben Themen hatten, ohne dass sie es bemerkten. Und wenn du dich selbst beobachtest, wirst du feststellen, dass du viele Ideen hast, die mit einer Aufeinanderfolge von verwandten Ideen verbunden sein sollten, die das Ergebnis einer beachtlichen Erweiterung des Denkens sind, wenn sie nicht auf widersinnige Weise nebeneinander bestehen sollen.

Deshalb, bevor ein Individuum wirklich individualisiert wird und über seine eigenen Eigenschaften verfügt, muss es in einem Gefäß enthalten sein, sonst würde es sich wie Wasser ausbreiten und würde überhaupt keine Form bekommen. Manche Menschen auf einer niedrigen Entwicklungsstufe kennen sich selbst nur durch den Namen, den sie tragen. Sie wären nicht fähig, sich von ihren Nachbarn zu unterscheiden, ohne ihren Namen zu hören. Wenn sie gefragt werden: „Wer bist du?“ antworten sie: „Mein Name ist so und so.“ Ein wenig später erzählen sie dir dasselbe über ihren Beruf oder über ihr hauptsächliches Merkmal. Wenn sie gefragt werden: „Wer bist du?“ antworten sie: „Ich bin ein Maler“. Aber auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ist ihre einzige Antwort ihr Name…

Man lebt durch eine Art Gewohnheit, die kaum halbbewusst zu nennen ist… und man objektiviert nicht einmal das, was man macht, warum man es macht und wie man es macht. Man macht die Dinge aus Gewohnheit. Alle, die in einer bestimmten Umgebung geboren sind, in einem bestimmten Land, nehmen automatisch die Gepflogenheiten dieser Umgebung an, nicht nur die materiellen Gewohnheiten, sondern auch die Gewohnheiten der Gefühle und des Handelns. Sie machen es natürlich, ohne sich dabei zu beobachten, und wenn sie jemand darauf aufmerksam macht, sind sie erstaunt.

Eigentlich hat man die Angewohnheit zu schlafen, zu sprechen, zu essen, sich zu bewegen als etwas ganz Natürliches, ohne sich zu fragen, warum und wieso… Die ganze Zeit macht man die Dinge automatisch durch die Macht der Gewohnheit, man beobachtet sich nicht selbst dabei. Und so, wenn man in einer bestimmten Gesellschaft lebt, macht man automatisch alles so, wie es in dieser Gesellschaft gemacht wird. Und wenn jemand damit beginnt, sich selbst dabei zu beobachten, wie er denkt und fühlt, sieht er für die anderen aus wie eine Art gewaltiges Monster, verglichen mit der Umgebung, in der er lebt.

Deshalb ist Individualität überhaupt nicht die Regel, es ist eine Ausnahme und wenn du nicht diesen Umriss hättest, eine bestimmte Form, die deinen äußeren Körper und dein Erscheinungsbild bildet, würdest du dich kaum von den anderen unterscheiden.

Individualität erreicht man durch eine Überwindung der unbewussten Gewohnheiten. Und wie Sri Aurobindo sagt, ist die erste Eroberung nur die erste Stufe, und wenn du in dir so etwas wie eine persönliche Unabhängigkeit und ein bewusstes Wesen verwirklicht hast, musst du diese Form zerbrechen und weitergehen. Zum Beispiel, wenn du dich mental weiter entwickeln willst, musst du all deine Gedankengebilde mentaler Vorstellungen zerbrechen, um fähig zu sein, neue zu entwickeln. Zuerst ist eine enorme Mühe erforderlich, sich selbst zu individualisieren, und später muss man all das wieder niederreißen, um fähig zu sein, weitere Fortschritte zu machen.

Aber da du dich nicht selbst dabei beobachtest, wie du die Dinge machst, und weil es eine Gewohnheit ist – nicht überall natürlich, sondern lass uns sagen hier (im Ashram) – zu arbeiten, zu lesen, dich zu entwickeln, zu versuchen, etwas zu tun, dich selbst zu bilden, machst du das ganz natürlich und eben ohne darauf Acht zu geben, wie ich schon sagte.

Erst wenn es in diesen äußeren Betätigungen zu einer Reibung kommt, fühlst du, dass du anders bist als die anderen. Ansonsten bist du diese Person oder jene, entsprechend des Namens, den du hast. Nur wenn eine Reibung entsteht, wenn irgendetwas nicht glatt verläuft, wirst du dir eines Unterschieds bewusst und siehst dann, dass du von den anderen verschieden bist. Ohne das nimmst du es nicht wahr und du bist nicht anders als die anderen. Tatsächlich unterscheidest du dich sehr wenig von den anderen.

Wie viele Dinge machst du in deinem Leben wenigstens essentiell genauso wie alle anderen und nicht anders. Zum Beispiel schlafen, dich bewegen, essen und alle diese Dinge. Du hast dich niemals gefragt, warum du eine Sache auf diese Art und Weise machst und nicht auf eine andere. Du könntest es nicht sagen. Wenn ich dich fragen würde: „Warum handelst du auf diese Weise und nicht anders?“ Du wüsstest nicht, was du darauf antworten sollst. Das ist einfach deshalb so, weil du unter bestimmten Bedingungen geboren bist und es in dieser Umgebung so Brauch ist, so zu sein. Ansonsten, wenn du in einem anderen Zeitalter und unter anderen Bedingungen geboren worden wärest, würdest du vollkommen anders handeln, ohne den Unterschied überhaupt wahrzunehmen, es würde dir ganz natürlich erscheinen… Zum Beispiel – ein sehr sehr kleines Beispiel – in vielen westlichen Ländern und sogar in einigen östlichen nähen die Menschen von rechts nach links; in Japan nähen sie von links nach rechts. Nun, es scheint dir sehr natürlich von rechts nach links zu nähen, nicht wahr? So hast du es gelernt und du denkst nicht darüber nach, warum du auf diese Weise nähst. Wenn du dann nach Japan kommst und die Menschen dort sehen, wie du nähst, müssen sie darüber lachen, denn sie haben die Angewohnheit anders zu nähen. Dasselbe ist es mit dem Schreiben. Du schreibst so, von links nach rechts, aber es gibt Menschen, die schreiben von oben nach unten. Und wieder andere, die schreiben von rechts nach links, und sie machen das ganz natürlich. Ich spreche nicht von denen, die die verschiedenen Arten zu schreiben studieren, vergleichen und darüber nachgedacht haben. Ich spreche nicht von mehr oder weniger gebildeten Menschen, Nein, sondern von ganz normalen Menschen und vor allem von Kindern, die alles was um sie herum geschieht ganz spontan aufnehmen und es nachmachen ohne zu fragen. Aber dann, wenn sie durch Zufall oder die Umstände mit anderen Gewohnheiten als den eigenen konfrontiert sind, ist es eine gewaltige Enthüllung für sie, dass diese anders sein können als ihre eigenen.

Es sind ganz einfache Dinge, die dir auffallen, aber es geht bis ins kleinste Detail. Du machst die Dinge so, weil sie auf diese Weise an dem Ort und in der Umgebung, in der du lebst, so getan werden. Und du beobachtest dich nicht dabei, wie du sie tust.

Eigentlich war der Ursprung der Schöpfung eins und die Schöpfung sollte vielfältig sein. – Es muss ein sehr beachtlicher Aufwand an Arbeit in der Entwicklung der Schöpfung gewesen sein, dieser Vielfalt ihre Vielfältigkeit bewusst zu machen.

Und wenn man sehr genau beobachtet, wenn sich die gesamte Schöpfung die Erinnerung an die Einheit ihres Ursprungs erhalten hätte, wäre sie wahrscheinlich nie zu einer unterschiedlichen Vielfalt geworden. Im innersten Zentrum eines jeden einzelnen Wesens hätte die Wahrnehmung einer perfekten Einheit existiert und die unterschiedliche Vielfältigkeit hätte sich vielleicht niemals entwickelt.

Durch den Verlust der Erinnerung an diese innewohnende Einheit entstand die Möglichkeit, sich der Unterschiedlichkeiten bewusst zu werden; und wenn man ins Unterbewusste gelangt am anderen Ende des Bewusstseins, fällt man zurück in eine Art von innerer Einheit, die sich ihrer selbst nicht bewusst ist, in der die Vielfalt ebenso unausgedrückt ist wie in ihrem Ursprung. An beiden Enden des Bewusstseins existiert die gleiche Abwesenheit von Vielfältigkeit. An einem Ende ist das so wegen des höchsten Bewusstseins der Einheit von Allem, am anderen Ende wegen einer vollkommenen Unbewusstheit der Einheit.

Die Festigkeit der Form ist das Mittel, durch das die Individualität gebildet werden kann.

DIE MUTTER, CWM 9:44