EINFÜHRUNG
Gemäß Sri Aurobindo „ist es im wesentlichen eine Evolution des Bewusstseins, die in der Natur stattgefunden hat“. (19:846) Das innere Wachsen des menschlichen Wesens ist schlechthin eine Fortsetzung der Evolution des Bewusstseins, die bislang fortschreitend in dem Auftauchen des Lebens aus der Materie und des Mentals aus dem Leben resultierte. In anderen Worten, Bewusstsein hat stets höhere Formen seiner Manifestation auf Erden entwickelt – vom Mineral zur Pflanze, zum Tier, zum Menschen, dem mentalen Wesen. Was in diesem Buch mit innerem Wachsen bezeichnet wird, bezieht sich auf die Evolution des Bewusstseins jenseits des Mentals.
Vor dem Erscheinen des menschlichen oder mentalen Wesens war die Evolution ein langsamer, unterbewusster Prozess. Das Auftauchen des Mentals bezeichnet den Beginn eines neuen Prozesses der Evolution, durch welchen das menschliche Wesen durch einen bewussten Willen und ein bewusstes Streben nach innerem Wachstum ein bewusster Teilnehmer und Helfer in der Evolution des Bewusstseins wird. Solcherart ist inneres Wachsen ein Vorgang bewusster Evolution. Jedes System fundierter Methoden zur Erzielung inneren Wachsens ist Yoga; denn Yoga ist „eine methodische Bemühung zur Selbstvervollkommnung, indem man den latenten Entwicklungsmöglichkeiten des Wesens Ausdruck verleiht.…“ (Sri Aurobindo, 20:2)
Hinsichtlich der zwei Arten der Evolution – unbewusste Evolution durch die Vorgänge der Natur und bewusste Evolution durch Yoga – schreibt Sri Aurobindo:
„Alle Natur ist ein Versuch, die verborgene Wahrheit mehr und mehr zu enthüllen.… Doch das, worauf die Natur in langsamer Evolution für die Masse abzielt, wird durch den Yoga für den Einzelnen in rapider Revolution bewirkt.…“ (20:24)
„… letzten Endes ist ihr Ziel eins. Die allgemeine Verbreitung des Yoga in der Menschheit muss der letzte Sieg der Natur über ihre eigenen Verzögerungen und Verhüllungen sein. So wie sie derzeit durch das progressive Mental in der Wissenschaft die gesamte Menschheit für die volle Entwicklung des mentalen Lebens bereit zu machen sucht, wird sie durch den Yoga unausweichlich danach trachten, die ganze Menschheit für die höhere Evolution bereit zu machen, für die zweite Geburt, für das spirituelle Dasein.“ (Ebenda)
Selbst nach dem Auftauchen des Mentals bleibt das Wachsen des Bewusstseins im menschlichen Wesen ein mehr oder weniger unbewusster Prozess, da die Wurzeln der Materie, des Lebens und des Mentals im Unbewussten liegen, aus dem sie sich entfaltet haben. Das erste Stadium des Auftauchens aus der uranfänglichen Unbewusstheit besteht in der Entwicklung eines bewussten Egos – einer separaten und unabhängigen Individualität. Solange eine Individualität nicht geformt wurde, bleibt der Mensch ein amorphes Wesen, mehr oder weniger mit der unbewussten Totalität des Daseins verschmolzen. Durch die Entwicklung eines bewussten Egos – „… die Individualisierung des Wesens im Werden“ (Sri Aurobindo, 18:367) – wird eine Person eine Individualität. Das Ego ist die Identifizierung unseres Wesens mit dem oberflächlichen, äußeren Selbst, das aus dem Körper, der vitalen Natur und dem Mental besteht. Aufgrund des Egos wird eine bestimmte Gestaltung der physischen, vitalen und mentalen Erfahrung vom übrigen Wesen unterschieden und als das „Selbst“ betrachtet. Auf diese Weise dient das Ego dazu, das Auftauchen aus der Unbewusstheit durch ein fortschreitendes Bewusstwerden der physischen, vitalen und mentalen Aspekte des Wesens zu bewirken.
Sobald das trennende Ego hinreichend entwickelt wurde, kann die Evolution des Bewusstseins durch ein Wachsen in eine andere Dimension beschleunigt werden – jener, die in der Transzendierung des Egos liegt, der Befreiung von der unwissenden Identifizierung mit der eigenen oberflächlichen Natur und der Entdeckung des wahren Selbstes. Inneres Wachsen bedeutet daher eine neue Dimension der Evolution.
Das meiste, was heute ‚persönliches Wachsen‘ genannt wird, und worauf die verschiedenen psychotherapeutischen Methoden abzielen (wie Transaktionsanalyse, Gestalt-Therapie, Rational-Emotive Therapie usw.) sowie die verschiedenen Techniken, die mit der ,Human Potential Movement‘ assoziiert sind (wie Encounter Group, Sensitivitätstraining, Assertiveness Training etc.) bezieht sich auf das, was soeben als die Entwicklung des Egos und der Individualität beschrieben wurde. Inneres Wachsen andererseits, worauf die östlichen und westlichen spirituellen Schulen abzielen (wie Yoga, Zen, Sufismus, Christlicher Mystizismus) besteht aus einer transpersonalen Entwicklung jenseits des Egozustandes und stellt eine völlige Umkehr des normalen, egoverhafteten Bewusstseinszustandes dar. Es ist daher unbedingt erforderlich, zwischen persönlichem und innerem Wachsen zu unterscheiden.
Der Unterschied zwischen dem gegenwärtigen normalen Zustand des Bewusstseins und des mehr entwickelten Bewusstseinszustandes, auf welchen inneres Wachsen abzielt, spiegelt sich in ihren gegensätzlichen Eigentümlichkeiten, von denen einige untenstehend angeführt sind.
(a) Der normale Zustand des Bewusstseins ist mehr oder weniger von Unbewusstheit überflutet: im normalen Zustand ist sich eine Person der tieferen und höheren Ebenen des Wesens vollkommen unbewusst und selbst weitgehend unbewusst des oberflächlichen Wesens, das aus dem Körperbewusstsein, den Gedanken und den Gefühlen besteht. Mit dem inneren Wachsen des Wesens geht ein wachsendes Bewusstsein Hand in Hand, denn Bewusstsein ist die eigentliche Natur und Essenz des Wesens.
(b) Eines der hauptsächlichen Merkmale des normalen Bewusstseinszustandes ist Ablenkbarkeit. Die wechselnden Eindrücke und Sinneswahrnehmungen von außen und der Fluss der Gedanken und Gefühle von innen rufen einen Zustand fortwährender Ablenkung hervor. Das innere Bewusstsein andererseits ist zentriert oder konzentriert. In dem Maße, wie Bewusstsein wächst und man mehr und mehr im tieferen Bewusstsein zu leben lernt, erfährt man einen Zustand der Zentriertheit oder Konzentration.
„Das höhere Bewusstsein ist ein konzentriertes Bewusstsein … nicht zerstreut und dieser oder jener menschlichen Idee nachjagend oder vitalem Begehren oder physischem Erfordernis wie es das gewöhnliche menschliche Bewusstsein ist – also nicht überflutet von hundert zufälligen Gedanken, Gefühlen und Impulsen, sondern Meister seiner selbst, zentriert und harmonisch.“ (Sri Aurobindo, 23:744)
(c) Assoziiert mit Ablenkung ist noch ein anderes Merkmal des normalen Bewusstseinszustandes, angedeutet in der oben zitierten Passage, nämlich Zerstreuung. Im normalen Zustand ist Bewusstsein gleichsam in den oberflächlichen Teilen und Bewegungen des Wesens zerstreut, physisch, vital und mental. Wie die Mutter bemerkt:
„Man wirft sich die ganze Zeit hinaus; die ganze Zeit lebt man gleichsam außerhalb seiner selbst in solch oberflächlicher Empfindung, dass es beinahe so ist als wäre man außerhalb seiner selbst. Sobald man sich nur ein wenig beobachten will, sich ein wenig kontrollieren will, einfach wissen will, was geschieht, ist man immer gezwungen, sich zurückzuziehen oder auf sich selbst zu richten, etwas nach innen zu ziehen, das fortwährend an der Oberfläche ist. Und dieses Ding an der Oberfläche ist es, das allen äußeren Kontakten begegnet und das dich mit ähnlichen Vibrationen von anderen in Berührung bringt. Das geschieht beinahe außerhalb deiner selbst. Das ist die fortwährende Zerstreuung des gewöhnlichen Bewusstseins.“ (Die Mutter, 8:193)
Die zerstreute Natur des normalerweise vorherrschenden Bewusstseins steht in scharfem Gegensatz zu der nach innen gerichteten und gesammelten Natur des tieferen Bewusstseins.
(d) Der normale Bewusstseinszustand ist ein Zustand fortwährender Unruhe und Erregung aufgrund seiner dauernden Ablenkbarkeit und Zerstreuung. In dem Maße, wie das Bewusstsein wächst, gewahrt man immer mehr ein tieferes Bewusstsein, das als der Nährboden von Ruhe und Frieden empfunden wird.
„… selbst wenn es tätig ist, wird hinter dieser Tätigkeit oder in ihr eine vollkommene Ruhe oder ein vollkommenes Schweigen gefühlt. Je mehr man sich konzentriert, desto mehr wachsen diese Ruhe und dieses Schweigen. Das ist der Grund, weshalb innen alles ruhig zu sein scheint, obwohl dort alle möglichen Dinge vor sich gehen können.“ (Sri Aurobindo, 23: 1000)
(e) Im normalen Zustand ist Bewusstsein in seinen Instrumenten involviert und mit ihnen identifiziert – mit dem Körper, der vitalen Natur und dem Mental; man fühlt, dass man der Körper ist, man identifiziert sich mit den Gedanken, den Gefühlen. In dem Maße, wie Bewusstsein sich entfaltet, erfährt es sich selbst als mehr und mehr losgelöst und getrennt von der äußeren physischen, vitalen und mentalen Natur. Statt mit den Regungen der äußeren Natur identifiziert zu sein, betrachtet es sich als unbeteiligter Zeuge – Sakshi, um einen Ausdruck der Gita zu gebrauchen.
„Es [das Bewusstsein] kann losgelöst sein, es kann verstrickt sein. Das menschliche Bewusstsein ist in der Regel immer verstrickt, doch hat es die Fähigkeit erlangt, sich loszulösen – etwas, wozu die niedere Schöpfung nicht fähig zu sein scheint. In dem Maße, wie das Bewusstsein sich entwickelt, entwickelt sich ebenfalls diese Fähigkeit der Loslösung“. (Sri Aurobindo, 23:686)
(f) Aufgrund der Identifizierung mit seiner instrumentalen Natur ist das gewöhnliche Bewusstsein mit den „Gegensatzpaaren“ behaftet – Hitze und Kälte, Vergnügen und Schmerz, Anziehung und Abstoßung usw. –, die ein der physischen, vitalen und mentalen Natur eigentümliches Merkmal sind. Daher ist das Bewusstsein normalerweise in einem mehr oder weniger konstanten Zustand der Störung und Unausgeglichenheit. Im Gegensatz dazu ist das höhere Bewusstsein ungerührt, fixiert oder stetig – sthira, um einen anderen Ausdruck der Gita zu gebrauchen. Mit dieser Eigenschaft ist samata – Gleichmut – verbunden, der auf einer gleichmütigen Reaktion auf die Gegensatzpaare beruht.
(g) Ein grundlegendes Merkmal des normalen Bewusstseins ist sein Gefühl, ein separates Selbst oder Ego zu sein, gleichsam eine Individualität, die vom übrigen Universum getrennt besteht. Im Gegensatz dazu ist das größere Bewusstsein, wie es von jenen beschrieben wird, die es dauernd erreicht oder vorübergehend erfahren haben, einheitlich, universal und transpersonal, ohne Trennung oder Teilung.
„… die Grenzen des Ego, des persönlichen Mentals und Körpers verschwinden, und man erkennt eine kosmische Weite … Es ist nicht so, dass Ego, Körper und persönliches Mental aufhören zu bestehen, doch empfindet man sie als einen nur geringfügigen Teil seiner selbst. Man beginnt auch andere als Teil seiner selbst oder als andersartige Wiederholungen seiner selbst zu erkennen, des gleichen Selbstes, das von der Natur in anderen Körpern abgewandelt ist.“ (Sri Aurobindo, 22:316)1
Vom Standpunkt des Yoga aus mag der Unterschied zwischen persönlichem Wachsen und innerem Wachsen in etwas anderen Worten folgendermaßen ausgedrückt werden: Persönliches Wachsen ist die Entwicklung des Individuums als menschliches Wesen, wohingegen inneres Wachsen, welches das Ziel des Yoga ist, in der Umwandlung und Transzendierung des menschlichen Bewusstseinszustandes besteht.
„Yoga ist nicht die Vervollkommnung der menschlichen Natur als solcher, sondern eine seelische und spirituelle Umwandlung aller Wesensteile durch die Tätigkeit eines inneren und später eines höheren Bewusstseins, das auf sie einwirkt, ihre alten Bewegungen ausstößt oder sie in das Ebenbild seiner eigenen [Bewegungen] verwandelt und auf diese Weise die niedrigere Natur in die höhere umformt. Es ist weniger die Vervollkommnung des Intellektes als vielmehr seine Transzendierung, eine Umwandlung des Mentals, die Einsetzung eines umfassenderen und größeren Wissensprinzips – und dies gilt für das ganze übrige Wesen.“ (Sri Aurobindo, 23:848-849)
„Die höhere Vervollkommnung ist die spirituelle Vervollkommnung, die integrale Einung mit dem Göttlichen, die Identifizierung mit dem Göttlichen, ist frei zu sein von allen Begrenzungen der niederen Welt. Das ist spirituelle Vervollkommnung, die Vervollkommnung, die durch den Yoga erreicht wird.… Und die niedere Vervollkommnung besteht darin, das menschliche Wesen in seiner gegenwärtigen Form, in seinem Körper, in seiner Beziehung zu allen irdischen Dingen zu befähigen, das Äußerste zu tun, dessen es fähig ist. Das trifft zu auf alle großen Menschen von Genius: künstlerischem Genius, organisatorischem Genius, die großen Herrscher, jene, die physische Fähigkeiten zu ihrer maximalen Vervollkommnung geführt haben, die menschliche Entwicklung bis zur Grenze ihrer Möglichkeiten.… Und von jedem Standpunkt aus, vom Standpunkt physischer Stärke, intellektueller Verwirklichung, physischer Qualitäten der Energie und des Mutes, der Selbstlosigkeit, der Güte, der Freigiebigkeit: die alle menschlichen Eigenschaften bis zu ihrer äußersten Grenze geführt haben. Das ist die niedere Vollkommenheit." (Die Mutter, 9:90-91)
Ein wichtiger Punkt in dem oben angeführten Abschnitt ist, dass selbst moralische Entwicklung – die oft mit Spiritualität verwechselt wird – Teil jenes Wachstums ist, das zum menschlichen Zustand gehört: es ist nicht inneres Wachsen, das auf einen Daseinszustand jenseits des menschlich egogebundenen Zustandes zielt.2
Inneres Wachsen muss ebenfalls unterschieden werden von dem, was gemeinhin das Wachsen der Wahrnehmung genannt wird, das verschiedene moderne psychologische Methoden und Techniken zu fördern suchen. Der Ausdruck ,Wahrnehmung‘, wie er in der modernen Psychologie gebraucht wird, hat einen weiten Bereich von Bedeutungen und Nebenbedeutungen angenommen, die von der Feststellung eines sehr schwachen Sinnesreizes, wie zum Beispiel schwachem Licht, bis hin zur Erwerbung von Einsicht in die unbewusste Dynamik reichen, welche die eigenen Taten motiviert. Vom Standpunkt der Yogaphilosophie aus bezieht sich das, was in der Gestalt-Therapie oder anderen ähnlichen Theorien psychologischen Wachsens Wahrnehmung genannt wird, auf die Wahrnehmung des äußeren oder Oberflächenwesens, bestehend aus den physischen, vitalen und mentalen Teilen der menschlichen Natur; das Wachsen solcher Wahrnehmung besteht darin, mehr und mehr seines Körpers, seiner Gefühle und seiner Gedanken gewahr zu werden. Inneres Wachsen dagegen bezieht sich auf das fortschreitende Erwachen und Wahrnehmen der inneren und höheren Teile des Wesens.
Im normalen Bewusstseinszustand, in dem wir mit dem äußeren Wesen identifiziert sind – dem Körper, den Impulsen und Gefühlen, sowie dem Mental – sind wir uns des inneren Wesens und seines fortwährenden Wirkens auf das Oberflächenbewusstsein praktisch nicht bewusst. Manchmal, während der Körper schläft, erwachen wir in das Bewusstsein des inneren Wesens und bewahren für das normale Wachbewusstsein einige unserer Erfahrungen dieses inneren Bewusstseins während des Schlafes; diese haben dann die Form von klaren symbolischen oder warnenden Träumen – obwohl die meisten unserer verworrenen und unzusammenhängenden Träume nicht dem inneren Bewusstsein, sondern dem Unbewussten angehören.3 Wir können auch einen flüchtigen Eindruck des inneren Bewusstseins durch gewisse Bildnisse empfangen, die wir entweder spontan oder bei der Übung von Visualisierung wahrnehmen oder, in seltenen Fällen, durch Visionen oder innere Stimmen. Auch im Zustand der Meditation gewahren wir manchmal das innere Wesen als ein abgelöstes, ruhiges und beobachtendes Bewusstsein. Abgesehen von diesen gelegentlichen flüchtigen und fragmentarischen Erfahrungen ist das innere Wesen vom äußeren durch die dicke Wand oder Hülle des normalen Oberflächenbewusstseins abgeschlossen. Der Vorgang des inneren Wachsens besteht aus dem allmählichen Niederbrechen der Wand und dem Entfernen des Schleiers sowie dem Erwachen zum Bewusstsein des inneren Wesens. Sri Aurobindo schreibt:
„Im menschlichen Wesen bestehen immer zwei verschiedene Arten von Bewusstsein, eines, nach außen gerichtet, in dem es normalerweise lebt, und ein anderes, innerlich und verborgen, von dem es nichts weiß. Während man die Sadhana ausübt, beginnt sich das innere Bewusstsein zu öffnen, und man lernt, sich nach innen zu wenden und dort alle Arten von Erfahrung zu haben. In dem Maße, wie die Sadhana fortschreitet, wird man mehr und mehr in diesem inneren Wesen leben, während das äußere mehr und mehr oberflächlich wird. Zuerst scheint das innere Bewusstsein der Traum zu sein und das äußere die wache Realität. Dann wird das innere Bewusstsein zur Realität, und das äußere wird von vielen als Traum oder Täuschung empfunden, oder auch als etwas Oberflächliches und Äußerliches.“ (Sri Aurobindo, 22:307)
Ein herausragender Aspekt von Sri Aurobindos Yoga hinsichtlich der Psychologie inneren Wachsens ist seine Auffassung der inneren und höheren Ebenen des Bewusstseins als dynamische Kräfte. Obwohl dem äußeren Oberflächenbewusstsein verborgen, üben die inneren und höheren Teile des Wesens auf die Oberflächenteile des Wesens einen fortwährenden Einfluss und Druck aus und drängen zur Evolution und zum Wachsen des Bewusstseins. Auf den „entscheidenden Anteil der höheren Ebenen [des Bewusstseins] an der Erdevolution“ hinweisend, schreibt Sri Aurobindo:
„Unsere Entwicklung findet zum sehr großen Teil durch ihre [der höheren Ebenen] überlegene, doch verborgene Einwirkung auf die Erdebene statt. Alles ist im Unbewussten oder Unterbewussten enthalten, jedoch potentiell; es ist das Wirken von oben, das ein Auftauchen hervorruft. Eine Fortdauer jenes Wirkens ist notwendig, um die Weiterentwicklung der mentalen und vitalen Formen, die unsere Evolution in der stofflichen Natur annimmt, zu gestalten und zu bestimmen; denn diese fortschreitenden Bewegungen können ihr volles Momentum nicht gewinnen oder hinreichend ihre Auswirkung gegen den Widerstand4 einer unbewussten oder trägen oder unwissenden stofflichen Natur entwickeln, wenn nicht durch fortwährende, doch okkulte Zuhilfenahme von überphysischen Kräften ihrer eigenen Art. Diese Zuhilfenahme, das Wirken dieser verhüllten Verbindung, findet hauptsächlich in unserem unterschwelligen (subliminalen) Wesen statt und nicht an der Oberfläche: es ist von dorther, dass die aktive Macht unseres Bewusstseins zutage tritt, und alles, was sie verwirklicht, sendet sie fortwährend zurück in das unterschwellige Wesen, damit es gespeichert und entwickelt werden kann, um danach in kräftigeren Formen wieder aufzutauchen. Diese Wechselwirkung zwischen unserem größeren verborgenen Wesen und unserer Oberflächenpersönlichkeit ist das hauptsächliche Geheimnis der rapiden Entwicklung, die im Menschen wirkt, wenn er einmal die niederen Stadien des in die Materie verstrickten Mentals überwunden hat." (Sri Aurobindo, 19:801-02)
Hinsichtlich des Einflusses der inneren Bewusstseinsebenen auf das äußere Leben des Einzelnen schreibt Sri Aurobindo:
„Es ist ein Fehler zu glauben, dass wir nur physisch leben, also mit dem äußeren Mental und Leben. Wir leben und handeln die ganze Zeit über auf anderen Bewusstseinsebenen, treffen andere Menschen dort und wirken auf sie ein – und was wir dort tun und fühlen und denken, die Kräfte, die wir sammeln, die Ergebnisse, die wir vorbereiten, haben eine unschätzbare und uns unbekannte Wichtigkeit für unser äußeres Leben und wirken darauf ein. Nicht alles davon dringt durch, und was durchdringt, nimmt eine andere Form im Physischen an – obwohl manchmal eine genaue Übereinstimmung besteht; dieses Wenige aber befindet sich an der Basis unseres äußeren Daseins. Alles, was wir im physischen Leben werden und tun und ertragen, wird hinter dem Schleier in uns vorbereitet.“ (Sri Aurobindo, 23:993-94)
„Es [das innere Wesen] ist, gemäß unserer Psychologie, mit der kleinen äußeren Persönlichkeit durch bestimmte Bewusstseinszentren verbunden, derer wir uns durch den Yoga bewusst werden. Von unserem inneren Wesen dringt nur wenig durch diese Zentren in das äußere Leben, dieses Wenige aber ist unser bester Teil – wir verdanken ihm unsere Kunst, Dichtung und Philosophie, unsere Ideale, religiösen Bestrebungen und Bemühungen um Wissen und Vollendung.“ (Sri Aurobindo, 24:1164-65)
Um es zusammenzufassen: das innere Wachsen des Einzelnen, ähnlich der Evolution des Universums, ist der Prozess, durch welchen das Höchste Bewusstsein – die Wahrheit des Daseins oder die Wirklichkeit des Seins –, das durch einen vorangegangenen Prozess der Involution in der Unbewusstheit der Materie verstrickt ist, sich aufgrund des ihm innewohnenden evolutionären Schubes in fortschreitend höheren Stufen seines Seins manifestiert.
In Sri Aurobindos Yoga wird das Höchste Bewusstsein, die Höchste Wahrheit oder Realität als das Göttliche bezeichnet, „das Höchste Wesen, von dem alle stammen und in dem alle sind“. (Sri Aurobindo, 23:1081) Der Teil des Göttlichen Bewusstseins, der sich im Verlauf der Evolution entwickelt, wird die Seele oder seelische Essenz genannt. Sie wächst und wird eine deutlich wahrnehmbare Individualität, die als das seelische Wesen bezeichnet wird. Durch dieses seelische Wesen löst die evolutionäre Dynamik, die dem Höchsten Bewusstsein innewohnt, das innere Wachsen des Einzelnen aus. Die Natur der seelischen Wesenheit und den Prozess ihrer Evolution erklärend, schreibt Sri Aurobindo:
„Zu Beginn ist die Seele in der [menschlichen] Natur, die seelische Wesenheit, deren Entfaltung der erste Schritt auf eine spirituelle Wandlung hin ist, ein gänzlich verhüllter Teil von uns, obwohl sie es ist, durch die wir existieren und als individuelle Wesen in der Natur fortbestehen. Die anderen Teile unserer natürlichen Zusammensetzung sind nicht nur veränderlich, sondern auch vergänglich; doch die seelische Wesenheit in uns besteht fort und ist grundlegend immer die gleiche; sie enthält alle essentiellen Möglichkeiten unserer Manifestation, wird aber nicht von ihnen geformt; sie ist nicht begrenzt durch das, was sie manifestiert, nicht beschränkt durch die unvollständigen Formen der Manifestation, nicht befleckt durch die Unvollkommenheiten und Unreinheiten, die Mängel und Verderbtheiten des Oberflächenwesens. Es ist eine immerdar reine Flamme der Gottheit in den Dingen und nichts, das ihr begegnet, nichts, das in unsere Erfahrung eintritt, kann ihre Reinheit beflecken oder die Flamme auslöschen. Die spirituelle Substanz ist rein und lichthaft, und da sie makellos lichthaft ist, nimmt sie unmittelbar, zuinnerst und direkt die Wahrheit des Wesens und die Wahrheit der [menschlichen] Natur wahr; sie ist sich zutiefst der Wahrheit und des Guten und der Schönheit bewusst, denn die Wahrheit und das Gute und das Schöne sind ihrem eigenen eingeborenen Wesen verwandt, Formen von etwas, das ihrer eigenen Substanz innewohnt. Sie nimmt auch alles wahr, was diesen Dingen widerspricht, alles, was von seinem eigenen ursprünglichen Charakter abweicht, die Falschheit und das Übel und das Hässliche und das Ungehörige; doch wird sie weder zu diesen Dingen, noch wird sie berührt oder verändert von diesen Gegensätzen ihrer selbst, welche so machtvoll ihre äußeren Instrumente, Mental, Leben und Körper beeinflussen.…“
„In dem Maße, wie die Evolution fortschreitet, beginnt die Natur langsam und versuchsweise unsere okkulten Teile zu offenbaren; sie bringt uns dahin, mehr und mehr nach innen zu sehen, oder beginnt, deutlicher erkennbare Andeutungen und Formungen von ihnen an der Oberfläche in die Wege zu leiten. Die Seele in uns, das seelische Prinzip, hat bereits begonnen, eine geheime Form anzunehmen; sie bringt eine Seelenpersonalität hervor und entwickelt sie, ein selbständiges seelisches Wesen, das die Seele vertritt.“ (Sri Aurobindo, 19:891-92)
„Unser seelischer Wesensteil stammt direkt vom Göttlichen und steht in Kontakt mit dem Göttlichen. Seinem Ursprung nach ist er ein Zentrum voller göttlicher Möglichkeiten, das diese niedere dreifache Manifestation von Mental, Leben und Körper trägt. Es gibt dieses göttliche Element in allen lebenden Wesen, doch ist es hinter dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgen, ist zunächst nicht entwickelt, und selbst wenn es entwickelt ist, tritt es nicht immer und auch nicht häufig hervor; es verleiht sich in dem Maße Ausdruck, wie es die Unvollkommenheit seiner Instrumente erlaubt, und ist an deren Mittel und Begrenzungen gebunden. Es wächst an Bewusstsein durch die auf Gott gerichtete Erfahrung und gewinnt jedes Mal Kraft, wenn eine höhere Regung in uns ist; schließlich wird durch die Anhäufung dieser tieferen und höheren Regungen eine seelische Individualität entwickelt – das, was wir gewöhnlich das seelische Wesen nennen.“ (Sri Aurobindo, 22:288)
Zahlreich sind die Pfade, die entdeckt wurden, um inneres Wachsen zu bewirken und die Wahrheit zu verwirklichen. Die verschiedenen psychologischen Pfade können in drei hauptsächliche Gruppen eingeteilt werden, die den drei grundlegenden psychologischen Aspekten des menschlichen ,make-up‘ entsprechen: dem Pfad des Wissens, der dem erkennenden oder denkenden Aspekt entspricht; dem Pfad der Hingabe, der der liebevollen oder emotionellen Seite der menschlichen Natur entspricht; und dem Pfad der Werke oder der Tat, der auf des Menschen strebenden Aspekt gründet, der mit Mühen und Wollen zu tun hat. Fast alle Pfade enthalten Elemente jedes der drei eben erwähnten hauptsächlichen Typen, obschon ein besonderes Typenelement – Wissen, Hingabe oder Werke – vorherrschen mag. Der Suchende wird zu dem einen oder anderen Pfad hingezogen, je nachdem, was in seinem psychologischen ,make-up‘ vorherrscht. Was den besten Pfad anbelangt, dem man folgen soll, so ist die Regel in den berühmten Worten der Gita enthalten:
„Besser ist Swadharma – das Gesetz des eigenen Wesens –, selbst wenn als solches fehlerhaft, als ein fremdes Gesetz gut befolgt; der Tod gemäß dem eigenen Gesetz des Seins ist besser, gefährlich ist es, einem Gesetz zu folgen, das der eignen Natur fremd ist.“
Obwohl die verschiedenen Pfade sich in ihren Methoden und Abläufen stark unterscheiden, sind gewisse Elemente ihnen allen gemeinsam. Solch ein universales Element ist zum Beispiel ein gewisses vorbereitendes Klären oder Läutern der äußeren Natur, die aus dem physischen, vitalen und mentalen Bewusstsein besteht. Ein Versuch, in das innere Bewusstsein einzutreten, ohne das äußere hinreichend von seiner Turbulenz befreit zu haben, wird wahrscheinlich fehlschlagen; wenn man überhaupt bis zu einem gewissen Grad erfolgreich ist, wird man voraussichtlich ohne die hinreichende Grundlage einer ruhigen Reinheit im äußeren Wesen durch die Erfahrungen des inneren Bewusstseins verwirrt, irregeführt oder überwältigt werden.
Ein weiteres Element, das allen Pfaden inneren Wachsens gemeinsam ist, besteht darin, eine nach innen gerichtete Haltung zu entwickeln, einen Zustand innerer Konzentration, der fortschreitend den Zustand der äußeren Zerstreuung, so typisch für das normale Bewusstsein, ersetzt. Der nach innen gesammelte Zustand wird meist durch die Ausübung der Meditation herbeizuführen versucht. Aus diesem Grund ist für viele Menschen das spirituelle Leben beinahe gleichbedeutend mit der Ausübung der Meditation: „… wenn sie an das spirituelle Leben denken, denken sie sofort an Meditation.“ (Die Mutter, 9:88) Solche Haltung tendiert dazu, eine falsche Aufteilung des Lebens herbeizuführen, eine Trennung und einen Gegensatz zwischen dem spirituellen und dem gewöhnlichen Leben. Wahre Spiritualität besteht jedoch nicht in einer bestimmten Form der Ausübung, sondern darin, in einem bestimmten Bewusstseinszustand zu leben, der das ganze Leben und alle Aktivitäten durchdringt. Meditation im Sinne einer festgesetzten Übung ist nicht unerlässlich für die Hervorbringung eines solchen spirituellen Zustandes innerer Konzentration; Tätigkeit und Arbeit, im rechten Bewusstsein verrichtet, rufen ebenfalls einen Zustand der Meditation hervor.
Die Form, in welcher man die Wahrheit erfährt und erkennt, hängt von der Natur des Pfades ab, dem man folgt. Solchermaßen führen die Pfade des Advaitin und des Buddhisten zu der Erfahrung von Nirvana und der Verwirklichung der Wahrheit als einem unpersönlichen Prinzip – ein Unpersönliches Absolutes Dasein (Advaita) oder ein Unpersönliches Absolutes Nicht-Dasein (Buddhismus). Andererseits führen die Pfade, die auf Selbstweihung durch Arbeit und Tätigkeit gründen, wie der Pfad der Gita, und die Pfade der Hingabe und des Gebetes, wie die der christlichen Mystiker, zu der Erfahrung der Wahrheit als einem Persönlichen Wesen, Ishvara, der Herr. Sri Aurobindo sagt, dass eine integrale Annäherung zur Verwirklichung der Wahrheit in ihrem persönlichen und unpersönlichem Aspekt führt. Er schreibt:
„… wenn wir sowohl unser Herz als auch unseren folgernden Verstand zum Höchsten emporheben, erkennen wir, dass wir ihn sowohl durch die absolute Person erreichen können als auch durch eine absolute Unpersönlichkeit.… In seinem universalen Aspekt treffen wir ihn auch in verschiedenen Formen der göttlichen Persönlichkeit; in Formulierungen von Beschaffenheit, die uns auf verschiedene Weise seine Natur erklären; in unendlicher Beschaffenheit, anantaguna; in der göttlichen Person, die sich durch unendliche Beschaffenheit ausdrückt; in absoluter Unpersönlichkeit, in einem absoluten Dasein oder einem absoluten Nicht-Dasein, das dennoch die ganze Zeit das unausgedrückte Absolute dieser göttlichen Person ist, dieses bewussten Wesens, das sich durch uns und durch das Universum manifestiert.“ (Sri Aurobindo, 21:560)
Wie immer der Pfad auch sei, dem man folgt, der Vorgang des inneren Wachsens bezieht eine Umwandlung des normalen Bewusstseinszustandes mit ein, ein progressives Erwachen innerer und höherer Wesenszustände, das in einer totalen Wende des Bewusstseins gipfelt, einer neuen Geburt.
Ein Wesenszug der Bewusstseinswende, welcher sie eher als eine plötzliche Umwälzung denn als eine allmähliche Wandlung erscheinen lässt, besteht darin, dass sie einen Vorgang miteinbezieht, der dem gleicht, was man ,unbewusste Inkubation‘ genannt hat. Der Ausdruck ,Inkubation‘ wurde in der Psychologie benützt, „um eine Zeitspanne zu bezeichnen, während der keine bewusste Bemühung erfolgt, um ein Problem zu lösen, die jedoch mit der Lösung endet“. (Daher auch der Rat, über einem unlösbaren Problem zu schlafen und darauf zu warten, dass die Lösung sich zeigen möge.) Ein etwa ähnliches Phänomen ist in der Wende des Bewusstseins mit eingeschlossen. Es ist ein plötzliches Geschehen, dem eine mehr oder weniger lange Zeit der Vorbereitung hinter dem Schleier des Oberflächenbewusstseins vorangeht, und die der Suchende daher nicht wahrnimmt.
„Lange Zeit hast du den Eindruck, dass nichts geschieht, dass dein Bewusstsein das gleiche ist wie immer und, selbst wenn du ein intensives Streben spürst, fühlst du einen Widerstand, als würdest du gegen eine Wand pochen, die nicht weicht. Doch wenn du innerlich bereit bist, eine letzte Bemühung – das Picken in der Schale des Wesens –, und alles öffnet sich und du bist in ein anderes Bewusstsein projiziert.“ (Die Mutter, 4:18-19)
A. S. DALAL
1 Einige haben sogar von einem noch höheren Bewusstseinszustand gesprochen, der das kosmische Bewusstsein transzendiert, und es folgendermaßen beschrieben: „… auf der anderen Seite des kosmischen Bewusstseins gibt es, erreichbar für uns, ein Bewusstsein, das noch transzendenter ist – nicht nur das Ego transzendierend, sondern den Kosmos selbst, gegen das sich das Universum wie ein unbedeutendes Bild vor einem unermesslichen Hintergrund abhebt.“ (Sri Aurobindo, 18: 17)
2 Jedoch, ebenso wie die Entwicklung des Egos für das Auftauchen aus der Unbewusstheit unerlässlich ist, so ist auch die moralische Entwicklung, welche einer der höchsten Aspekte menschlichen Wachsens ist, ein notwendiger Schritt auf einen neuen Bewusstseinszustand hin, der jenseits des menschlichen liegt.
3 Das Unterbewusste wird das Unbewusste in der modernen Psychologie genannt.
4 Der psychoanalytische Begriff des Widerstandes ist auch in Sri Aurobindos Yogaphilosophie ein zentraler Begriff. Die Psychoanalyse sieht ihn als von unbewussten Faktoren verursacht; im analytischen Prozess besteht er [der Widerstand] darin, sich der Bewusstmachung des Unbewussten zu widersetzen. Gemäß Sri Aurobindos metapsychologischer Auffassung ist Widerstand eine Kraft des Unbewussten, die dem Wachsen und der Umwandlung des Bewusstseins entgegenwirkt.