Eine andere Seele erkennen; sich selbst betrachten

Süße Mutter, ist es möglich mit dem menschlichen Verstand die Seele eines anderen zu erkennen?

Diese Dinge sind nicht so klar und eindeutig voneinander getrennt als wenn man darüber redet. Das ist genau der Grund, warum es so schwierig ist, in sich selbst die einzelnen Teile des Wesens klar und deutlich zu erkennen, wenn man nicht ein langes Training und eine lange Disziplin des Studiums und der Beobachtung dafür aufgewendet hat. Es gibt keine wasserdichten Abteilungen zwischen der Seele und dem Verstand, dem Gefühl und sogar dem Körperlichen. Die Seele dringt in das Denken ein. Diese Durchlässigkeit ist in manchen Menschen ganz beachtlich, sie ist spürbar. So, der Teil des Denkens, der über diese Art von Sensibilität verfügt, diesen subtilen Kontakt zu dem psychischen Wesen, kann auch die Anwesenheit der Seele in anderen Menschen fühlen.

Die Menschen, die die Fähigkeit haben, bis zu einem gewissen Grad in das Bewusstsein anderer Menschen hineinzukommen, bis zu dem Punkt, an dem sie direkt die Gedanken oder die mentalen Aktivitäten von anderen fühlen, diejenigen, die in die mentale Atmosphäre anderer gelangen können, ohne dass sie Worte dazu benutzen müssen, um sich verständlich zu machen, können leicht zwischen jemandem unterscheiden, dessen Seele aktiv ist, und jemandem, dessen Seele schläft. Die Aktivität der Seele gibt der Aktivität des Denkens eine bestimmte Färbung – es ist leichter, umfassender und brillanter-, sodass man es fühlen kann. Zum Beispiel, wenn du jemandem in die Augen schaust, kannst du mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass diese Person eine lebendige Seele hat oder dass du seine Seele in seinen Augen nicht sehen kannst. Viele Menschen können das fühlen – mit „viele“ meine ich diejenigen unter den entwickelten Menschen – und sie können das sagen. Aber natürlich, um genau wissen zu können, wie weit die Seele eines Menschen wach und aktiv ist, wie stark sie sein Wesen leitet und dessen Meister ist, muss man in sich selbst das psychische Bewusstsein entwickelt haben, denn nur das kann es sicher beurteilen. Es ist jedoch nicht ganz unmöglich, die Art von innerer Schwingung zu entwickeln, die einem sagt: „Oh, diese Person hat eine Seele.“

Nun ist aber das, was die meisten Menschen die Seele nennen – außer wenn sie innerlich wissend sind – eindeutig die Aktivität des vitalen Gefühls. Wenn jemand ein starkes, lebhaftes, eigenwilliges vitales Gefühl besitzt, das die Aktivitäten seines Körpers bestimmt, durch das er in einem sehr lebhaften und intensiven Austausch mit Menschen, Dingen und Ereignissen steht, wenn er über einen ausgeprägten Sinn für Kunst verfügt, für jeden Ausdruck von Schönheit, dann sind wir im Allgemeinen dazu verleitet zu sagen und zu glauben: „Oh, er hat eine lebendige Seele!“

Aber es ist nicht seine Seele, sondern sein vitales Wesen, das so lebhaft die Aktivitäten seines Körpers dominiert. Dieser Ausdruck des vitalen Gefühls bei jemandem, der beginnt sich zu entwickeln, ist der erste Unterschied zu denen, die noch in der Trägheit und dem Tamas des rein materiellen Lebens verharren. Das verleiht der Erscheinung und auch der Aktivität eine Art Intensität der Vibration, die oft den Eindruck erweckt, dass diese Person eine lebendige Seele besitzt; aber das ist es nicht, sondern es ist das Vitale, das entwickelt ist, das über eine besondere Fähigkeit verfügt, die stärker als die körperliche Trägheit ist und eine Intensität der Schwingungen des Lebens und der Aktion verleiht, das diejenigen, deren vitales Gefühlswesen nicht entwickelt ist, nicht besitzen. Diese Konfusion zwischen der vitalen Aktivität und der Seele passiert sehr häufig… Die Schwingung des vitalen Wesens ist für das menschliche Bewusstsein viel leichter wahrnehmbar als die Schwingung der Seele.

Um die Vibration der Seele in einem Menschen wahrnehmen zu können, muss das Denken in der Regel sehr still sein – sehr still, denn wenn es aktiv ist, werden seine Schwingungen gesehen, nicht die der Seele!

Und dann, wenn du jemanden anschaust, der sich seiner Seele bewusst ist und in ihr lebt, hast du den Eindruck, als ob du in ihn hinabsteigst, tief, tief, tief in seine Person gehst, weit, weit, weit, weit in sie hinein.

Wenn du normalerweise jemandem in die Augen schaust, kommst du sehr schnell an die Oberfläche seines Wesens, die vibriert und deinem Blick antwortet, aber du hast nicht das Gefühl, nach unten zu gehen, hinunter, hinunter, tief hinunter in eine Höhle, die sehr, sehr, sehr weit innen liegt, und du bekommst eine kleine, sehr leise Antwort. Sonst – gewöhnlich siehst du in den Augen – es gibt auch Augen, die sich dir innerlich nicht öffnen, sie sind geschlossen wie eine Tür – doch es gibt auch Augen, die sind innerlich offen – du kommst hinein und dann, gleich innen gelangst du an etwas, das dort vibriert, etwa so und manchmal leuchtet und wenn du einen Fehler machst, sagst du: „Oh, er hat eine lebendige Seele!“ – aber sie ist es nicht, es ist sein vitales Gefühl.

Um deine Seele zu finden, musst du diesen Weg gehen (sie macht eine Geste des tief in sich Hineingehens), du musst dich von der Oberfläche zurückziehen, dich tief nach innen zurückziehen und eindringen, eindringen, eindringen, tief hinunter, nach unten, bis in eine sehr tiefe Öffnung, die still und bewegungslos ist, und dort findest du eine Art von… etwas Warmes, Ruhiges, reich an Substanz und sehr still und sehr erfüllt, wie eine innere Süße – das ist die Seele. Und wenn man eindringt und bewusst ist, dann findet man dort eine Art von Fülle, die das Gefühl einer Vollständigkeit vermittelt, die unergründliche Tiefen enthält und viele Geheimnisse preisgeben würde, wenn man in sie hineingehen würde… wie die Spiegelungen in sehr stillen Gewässern, von etwas das ewig ist. Dann fühlt man sich nicht länger durch die Zeit begrenzt. Man hat das Gefühl, immer schon gelebt zu haben und für Ewigkeiten weiter zu leben.

Dann hat man das Innerste der Seele berührt.

Und wenn die Verbindung bewusst und vollständig genug war, befreit sie dich von den Bindungen an die äußere Form; du fühlst nicht länger, dass du nur deshalb lebst, weil du einen Körper hast. Das ist normalerweise das gewöhnliche Lebensgefühl, so an die äußere Form gebunden zu sein, dass, wenn man „ich selbst“ denkt, man an seinen Körper denkt. So ist es gewöhnlich. Die persönliche Realität ist die Realität des Körpers. Erst wenn man die Bemühung einer inneren Entwicklung unternommen hat und versucht hat, etwas in seinem Wesen zu finden, das etwas beständiger ist, kann man anfangen zu fühlen, dass dieses „Etwas“, das durch alle Zeiten und alle Veränderungen hindurch andauernd bewusst ist, dass dieses „Etwas“ man selbst sein muss. Aber dazu ist schon eine eher tiefe Selbsterforschung nötig. Ansonsten, solange du denkst: „Ich werde dies oder jenes machen“, „Ich brauche dies oder das“, ist es immer dein Körper, der dich antreibt, eine Art unterschwelliger willentlicher Impuls, der aus einer Mischung von Empfindungen besteht, aus mehr oder weniger verworrenen gefühlsmäßigen Reaktionen und noch mehr verwirrten Gedanken, die sich vermischen, und durch einen Impuls, eine Anziehungskraft, einen Reiz oder einen Wunsch ausgelöst werden, durch irgend eine Form des Wollens. All das zusammen wird kurzzeitig zu dem „ich selbst“ – aber nicht direkt, denn man nimmt dieses „mich selbst“ nicht unabhängig wahr vom Kopf, dem Körper oder den Armen und Beinen und allem, was sich bewegt – sondern man ist eng damit verbunden.

Erst, nachdem man viel nachgedacht hat, viel beobachtet hat, sich selbst sehr lange studiert und verstanden hat, dass das eine vom anderen mehr oder weniger unabhängig ist, und mit dem Willen, der sich dahinter befindet, kann man es entweder aktiv werden lassen oder nicht und man beginnt, sich nicht völlig mit den Bewegungen, dem Fluss von Aktivitäten des Körpers zu identifizieren. Aber du musst lange beobachten, um das zu erkennen.

Und dann musst du noch viel mehr beobachten, um wahrzunehmen, dass dieses zweite Ding, diese Art von bewusstem aktiven Willen, durch „etwas Anderes“ in Bewegung versetzt wird, das selbst zuschaut, beurteilt, entscheidet und versucht, seine Entscheidungen auf Wissen zu gründen – das passiert sogar erst sehr viel später. Und dann, wenn du beginnst, dieses „etwas Anderes“ zu sehen, wirst du erkennen, dass es die Macht hat, dieses zweite Ding, was ein aktiver Wille ist, in Bewegung zu versetzen; und nicht nur das, sondern dass es einen sehr direkten und sehr wichtigen Einfluss ausübt auf die Reaktionen, die Gefühle und die Empfindungen und dass es letztlich über alle Aktivitäten des eigenen Wesens Kontrolle ausüben kann – dieser Teil in dir, der zuschaut, beobachtet, beurteilt und entscheidet.

Das ist der Anfang von Selbstkontrolle.

Wenn man sich dessen bewusst wird, hat man den Anfang des Fadens gefunden und wenn man dann von Kontrolle spricht, weiß man: „Ah! Ja, dieser Teil ist es, der die Macht der Kontrolle besitzt.“

So lernt man, sich selbst zu erkennen.

DIE MUTTER, CWM 9:308

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