Schlange

Die Schlange und der Naturwissenschaftler

Ein französischer Naturwissenschaftler hat in einem Buch eine Erfahrung beschrieben, die er im Jardin des Plantes hatte. Er wollte wissen, in welchem Grad Vernunft eine Wirkung auf Reflexe haben kann. Ich erinnere mich jetzt nicht – einige Jahre lang kannte ich seinen Namen; ich habe ihn vergessen, aber die Geschichte ist noch lebendig. Er war ein bekannter Naturwissenschaftler und hat in einem Buch sein Experiment beschrieben. Es wird oft als Beispiel zitiert. Er war sehr daran interessiert zu wissen, in welchem Grad Vernunft und Intelligenz mit klarer Erkenntnis eine Wirkung auf Reflexe haben könnten, das heißt, auf Bewegungen, die spontan dem Unterbewussten entspringen, automatische Bewegungen, und er unternahm dieses Experiment: er ging in den Jardin des Plantes in Paris, wo nicht nur Pflanzen, sondern auch Tiere gehalten werden. Und darunter waren auch große Schlangen. Es war eine Schlange dort (ich kannte sie, jene Schlange), die unter dem Ruf stand, sehr reizbar zu sein, das heißt, sie konnte sehr leicht zu Ärger provoziert werden. Es war eine sehr große Schlange und sehr schön; sie war schwarz. Und der Wärter hatte dem Wissenschaftler gesagt, dass diese Schlange sehr aggressiv sei. Diese Schlangen sind in große Glaskäfige eingesperrt, deren Glas dick genug ist, um ein Unglück zu verhindern, wie man sich gut vorstellen kann. So ging er zum Käfig dieser Schlange gerade zu der Zeit, wo sie hungrig war (sie hatte noch nicht gefressen; danach schlafen sie). Sie hatte noch nicht gefressen, daher war sie aktiv. Und er stand dort vor dem Käfig, ganz in der Nähe des Glases, und begann die Schlange zu reizen – ich erinnere mich jetzt nicht daran, was er tat – bis sie begann, provoziert zu werden. Dann rollte sie sich auf und schoss wie eine gelöste Feder gegen das Glas, gegen das Gesicht des Herrn, der sich auf der anderen Seite befand, und obwohl er wusste, dass das Glas da war und ihm nichts zustoßen konnte, sprang er zurück! Und er wiederholte das Experiment verschiedene Male, und nicht ein einziges Mal konnte er sein Zurückzucken unter Kontrolle halten. Er zuckte zurück – jedes Mal, wenn die Schlange sprang, zuckte er zurück!

So sprach er von seinem Experiment. Aber es fehlte ihm ein Element des Wissens, denn er wusste nicht, dass die physische Bewegung von einer beträchtlichen vitalen Projektion nervlicher Kraft der Schlange begleitet war, und dass dies ihn beeinflusste. Aus diesem Grund geschah es. Er versuchte vergebens, starr zubleiben, sich zu sagen: „Schließlich besteht doch keine Gefahr, es kann mir nichts passieren, das Glas, ist da; warum zucke ich denn zurück?“ Diese Kraft war es, die kam und ihm einen Schock versetzte; und so sprang er zurück.

Die Mutter

Die Löwenbändiger

Mir wurde einmal eine Frage gestellt, eine psychologische Frage. Sie wurde mir von einem Mann gestellt, der einen Handel mit wilden Tieren betrieb. Er hatte eine Menagerie, und pflegte wilde Tiere überall aufzukaufen, in allen Ländern, wo sie gefangen werden, um sie auf dem europäischen Markt wieder zu verkaufen. Ich glaube, er war Österreicher. Er war nach Paris gekommen und sagte mir: „Ich habe es mit zwei Arten von Dompteuren zu tun. Ich würde gern wissen, welcher von beiden mutiger ist. Es gibt jene, die Tiere sehr lieben, sie lieben sie so sehr, dass sie in den Käfig eintreten ohne die geringste Vorstellung, dass es sich als gefährlich erweisen könnte, wie ein Freund in das Haus eines Freundes eintritt, und sie lassen sie tätig werden, bringen ihnen bei, wie man die Dinge tut, und sie tun dies ohne die geringste Furcht. Ich kannte einige, die nicht einmal eine Peitsche in der Hand hielten; sie kamen herein und sprachen ihren Tieren so freundlich zu, dass alles gut ging. Das verhinderte jedoch nicht, dass sie eines Tages gefressen wurden. Aber dies ist die eine Art. Die andere Art sind jene, die sich vor dem Eintreten so fürchten, dass sie zittern; dadurch wird ihnen gewöhnlich ganz unwohl. Aber sie unternehmen eine Anstrengung, sie unternehmen eine beträchtliche seelische Anstrengung, und ohne jegliche Furcht an den Tag zu legen, treten sie ein und lassen die Tiere vorführen.“

Dann sagte er mir: „Ich habe zwei Meinungen gehört: einige sagen, es sei viel mutiger, Furcht zu überwinden, als sie gar nicht zu haben… Hier haben wir das Problem. Welcher von beiden ist also wirklich mutig?“

Es gibt vielleicht eine dritte Art, die wahrlich mutig ist, noch mutiger als sie beide. Das ist jener Dompteur, der sich der Gefahr vollkommen bewusst ist, der sehr gut weiß, dass man diesen Tieren nicht trauen kann. Eines Tages, wenn sie in einem sehr erregten Zustand sind, können sie ohne weiteres tückisch auf dich springen. Aber für die Dompteure bedeutet es keinen Unterschied. Sie gehen dorthin um der Freude an der Aufgabe willen, ohne zu fragen, ob es ein Unglück geben wird oder nicht, und in voller geistiger Ruhe, mit all der notwendigen Kraft und dem erforderlichen Bewusstsein im Körper. Dies war in der Tat der Fall dieses Mannes selbst. Er hatte einen so enormen Willen, dass er die Tiere ohne Peitsche, durch bloßen beharrlichen Willen dazu brachte, alles zu tun, was er wollte. Aber er wusste sehr wohl, dass es ein gefährlicher Beruf war. Er hatte keine Illusionen. Er sagte mir, dass er diese Arbeit mit einer Katze erlernt hatte, – einer Katze!

Er war ein Mann, der abgesehen von seiner Arbeit als Tierhändler auch ein Künstler war. Er zeichnete gern, liebte die Malerei, und hatte eine Katze in seinem Studio. Und es geschah auf diese Weise, dass er Interesse an Tieren zu entwickeln begann. Diese Katze war ein äußerst unabhängiges Wesen und hatte keinen Sinn für Gehorsam. So wollte er zum Beispiel ein Porträt der Katze anfertigen. Er setzte sie auf einen Stuhl und setzte sich an die Staffelei. Frrr… die Katze rannte davon. Dann ging er sie suchen, brachte sie zurück, setzte sie wieder auf den Stuhl, ohne auch nur die Stimme anzuheben, ohne sie zu tadeln, ohne irgendetwas zu sagen, ohne sie natürlich zu peinigen oder zuschlagen. Er nahm sie und setzte sie wieder auf den Stuhl. Die Katze nun wurde immer cleverer. Im Studio lagerten in einigen Winkeln Leinwände, die dort verborgen lagen und aufeinander geschichtet waren, hinten in den Ecken. So ging die Katze dorthin und saß hinter ihnen. Sie wusste, dass ihr Meister einige Zeit brauchen würde, all diese Leinwände zu entfernen und sie zu fangen; der Mann entfernte sie ruhig eine nach der anderen, fing die Katze und setzte sie wieder an ihren Platz.

Er sagte mir, dass er dies einmal ohne Unterlass von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang tat. Er aß nicht, und auch die Katze nicht, er tat dies den ganzen Tag; am Ende des Tages blieb er siegreich. Als ihr Meister sie auf den Stuhl setzte, blieb sie dort und versuchte hinfort nie wieder wegzulaufen. Dann sagte er sich: „Warum nicht dasselbe mit den größeren Tieren versuchen?“ Er versuchte es, und es gelang ihm.

Natürlich konnte er nicht in derselben Weise einen Löwen nehmen und auf einen Stuhl setzen, das sicher nicht, aber er wollte sie dahin bekommen, Bewegungen zu machen – unsinnige Bewegungen, gewiss, wie sie es im Zirkus machen: sie setzen ihre Vorderbeine auf einen Hocker, oder setzen sich mit allen vier Pfoten eng zusammen auf eine sehr kleine Stelle, alle Arten von unsinnigen Dingen, aber so ist es ja Mode, das wollen sie zur Schau stellen; oder sie stellen sich vielleicht wie ein Hund auf die Hinterbeine, oder brüllen sogar – wenn man einen Finger vor den Löwen hält, beginnt er zu brüllen – Dinge dieser Art, ganz und gar töricht. Es wäre viel besser, die Tiere sich frei herumbewegen zu lassen, das wäre viel interessanter. Aber wie ich schon sagte, ist jenes die Mode.

Aber er brachte es ohne jedes Peitschen fertig, er trug nie eine Pistole in seiner Tasche, und er ging mit dem vollen Bewusstsein in den Käfig, dass die Tiere ihm eines Tages, wenn sie nicht gut gestimmt wären, den tödlichen Schlag versetzen könnten. Aber er tat dies ruhig und mit derselben Geduld wie mit der Katze. Und wenn er seine Tiere ablieferte – er gab seine Tiere den Zirkussen, den Dompteuren – dann waren sie wunderbar.

Natürlich fühlen jene Tiere – überhaupt alle Tiere –, wenn man Angst hat, selbst wenn man es nicht zeigt. Sie fühlen es sehr stark, mit einem Instinkt, den Menschen nicht besitzen. Sie fühlen, dass du Angst hast, dein Körper erzeugt eine Schwingung, die eine äußerst unangenehme Empfindung in ihnen hervorruft. Wenn es starke Tiere sind, so macht es sie wild; wenn es schwache Tiere sind, so versetzt es sie in Panik. Aber wenn du keinerlei Furcht hast, wenn du mit einem absoluten Vertrauen hingehst, einem großen Vertrauen, wenn du freundlich zu ihnen bist, wirst du sehen, dass sie keine Furcht haben; sie fürchten sich nicht, sie haben keine Angst vor dir und verachten dich nicht; sie sind dann auch voller Zutrauen.

Das soll euch nicht ermutigen, in die Käfige aller Löwen, die ihr besucht, einzutreten, aber so stehen die Dinge. Wenn ihr einem bellenden Hund begegnet, wird er euch beißen, wenn ihr Angst habt; wenn ihr keine Angst habt, wird er weggehen. Aber ihr müsst wirklich frei von Furcht sein, es soll nicht nur der Anschein der Furchtlosigkeit sein, weil es nicht der Schein ist, der zählt, sondern die Schwingung.

Die Mutter

Der eitle Löwe

Stellt euch nur vor, es gibt Pflanzen, die eitel sind! Ich spreche von Pflanzen, die man für sich selbst pflanzt. Wenn man ihnen Komplimente macht, mit Worten oder Gefühlen, wenn man sie bewundert, dann strecken sie sich hoch – mit Eitelkeit! Dasselbe geschieht auch bei Tieren. Ich werde euch eine kurze, amüsante Geschichte erzählen.

In Paris gibt es einen Garten, der den Namen „Pflanzengarten“ trägt: es sind dort auch Tiere, ebenso wie Pflanzen. Sie hatten gerade einen herrlichen Löwen bekommen. Natürlich war er im Käfig. Und er war wild. Es befand sich eine Tür im Käfig, hinter der er sich verbergen konnte. Und er pflegte sich gerade dann zu verbergen, wenn die Besucher kamen, um ihn zu sehen! Ich bemerkte das, und eines Tages ging ich zum Käfig und begann mit ihm zu sprechen (Tiere sind sehr sensitiv gegenüber gesprochener Sprache, sie hören wirklich zu). Ich begann meinem Löwen sanft zuzureden und sagte ihm: „Oh! Wie hübsch du doch bist, wie schade, dass du dich so verbirgst, wie gern würden wir dich sehen…“ Er hörte zu. Dann allmählich schaute er mich fragend an, streckte langsam seinen Hals vor, um mich besser sehen zu können; später brachte er seine Pfote hervor und drückte schließlich seine Nasenspitze gegen das Gitter, wie wenn er sagen wollte: „Hier ist nun endlich jemand, der mich versteht!“

Die Mutter