Der Schatten
Du sagtest: „Jeder Mensch besitzt zwei gegensätzliche Tendenzen in seinem Charakter…, die wie Licht und Schatten derselben Sache sind.1 Warum sind die Dinge so beschaffen? Kann es nicht nur das Licht geben?“
Ja, doch, wenn man den Schatten eliminiert. Aber er muss abgeschafft werden und das passiert nicht von selbst. Die Welt ist eine Mischung, so wie sie ist. Du findest kein Objekt in ihr, das von einer Seite Licht empfängt, ohne nicht auf der anderen einen Schatten zu werfen. So ist es und tatsächlich siehst du das Licht wegen der Schatten. So ist die Welt und um nur das Licht zu bekommen, muss man ganz bestimmt durch die ganze Disziplin hindurchgehen, die notwendig ist, um den Schatten zu eliminieren. Ich habe etwas später erklärt, dass dieser Schatten das bezeichnet, was du in deiner Natur besiegen musst, um das verwirklichen zu können, was du eigentlich in deinem Leben tun sollst. Wenn du eine Rolle zu spielen hast, wenn du eine Aufgabe erfüllen willst, wirst du immer die hauptsächliche Schwierigkeit in dir selbst tragen, die dich daran hindert, sie zu verwirklichen, deshalb liegt der Sieg über sie innerhalb deiner Reichweite.
Wenn du gegen eine Schwierigkeit zu kämpfen hättest, die überall auf der Welt vorhanden ist, würde das sehr schwierig sein (du bräuchtest dazu ein sehr weites Bewusstsein und eine sehr starke Macht), während es innerhalb deiner Möglichkeiten ist, wenn sie in dir selbst existiert und du die Auswirkungen dieses Problems immer vor dir siehst, du kannst dadurch direkt und unverzüglich dagegen ankämpfen. Das ist eine sehr praktische Einrichtung.
Hast du im Bulletin den Brief von Sri Aurobindo gesehen über: die „Böse Person?“2 Dort wird die Sache sehr gut erklärt.
DIE MUTTER, CWM 6:16

1 Jeder Mensch besitzt in großem Ausmaß – und das außergewöhnliche Individuum im zunehmenden Grad der Deutlichkeit, zu beinahe gleichen Anteilen, zwei gegensätzliche Tendenzen des Charakters, die wie das Licht und der Schatten derselben Sache sind. So wird jemand, der die Fähigkeit besitzt außergewöhnlich großzügig zu sein, plötzlich einen hartnäckigen Geiz in sich aufsteigen sehen, ein mutiger Mensch wird in einem anderen Teil seines Wesens ein Feigling sein und der gute Mensch wird plötzlich böse Impulse spüren. Auf diese Weise scheint das Leben jedes Menschen nicht nur mit der Möglichkeit ausgestattet zu sein, ein Ideal zu verwirklichen, sondern auch mit den gegenteiligen Elementen, die auf konkrete Art und Weise den Kampf repräsentieren, den er ausfechten muss, um den Sieg zu erreichen, damit seine Selbstverwirklichung möglich wird. Folglich ist das ganze Leben eine Erziehung des Charakters, die mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger bereitwillig verfolgt wird. (DIE MUTTER, Fragen und Antworten, 1954)
2 Die „Böse Person“: Was du über die „Böse Person“ berichtest, interessiert mich sehr, weil es meine andauernde Erfahrung bestätigt, dass eine Person, die für die Arbeit (des Yoga) sehr gut geeignet ist, beinahe immer – vielleicht sollte man keine zu starre universale Regel über diese Dinge aufstellen – eine Person in sich anhaften hat, die wie ein starker Wesenszug von ihr erscheint, der genau im Widerspruch zu dem steht, was sie innerlich in der Arbeit des Yoga realisieren will. Oder wenn dieser Teil seines Wesens zuerst nicht vorhanden ist und nicht an die Persönlichkeit gebunden ist, tritt eine Kraft dieser gegensätzlichen Art in die Umgebung dieser Person ein, sobald sie ihre Selbstverwirklichung beginnt. Die Absicht dieser Kraft scheint darin zu bestehen, Widerstände, Fehltritte und nachteilige Umstände zu verursachen, in einem Wort, das ganze Problem der Arbeit des Yoga vor ihr aufzutürmen, die sie angefangen hat. In der okkulten Ökonomie der Dinge scheint es so, als ob das Problem nicht anders gelöst werden könnte, als dadurch, dass das ausgewählte Instrument es zu seinem eigenen macht. Das würde viele Dinge erklären, die oberflächlich gesehen sehr beunruhigend erscheinen. (SRI AUROBINDO, Briefe über den Yoga)