Der Mensch – das höhere Wesen
Worin liegt das Menschsein des Menschen? Darin, sich selbst zu übersteigen…
„In welcher Weise ist der Mensch also vom Standpunkt der Form anderen Tieren überlegen?“
Ich denke, das lässt sich recht leicht herausfinden.
Sri Aurobindo spricht von der Form, die imstande ist, den Geist (Spirit) zu manifestieren. Die ureigene Natur der Manifestation des Geistes ist Bewusstsein, Verstehen und schließlich Meisterschaft. Es ist offensichtlich, dass man vom Standpunkt der Ästhetik und rein physischen Erscheinung gewisse Tierformen schön finden kann und vielleicht sogar schöner als die menschliche Form in ihrem gegenwärtigen Zustand der… Degeneration, so meine ich. Es gab Zeiten, wo die menschliche Rasse schöner und harmonischer gewesen zu sein scheint; aber als Ausdrucksmittel des Geistes ist ihre Überlegenheit jenseits aller Zweifel. Denn die bloße Tatsache, dass der Mensch auf-recht steht, zeigt symbolisch die Fähigkeit, Dinge von oben zu betrachten. Er dominiert, was er sieht, anstatt stets seine Nase am Boden zu haben. Natürlich kann man sagen, dass Vögel fliegen, aber mit Flügeln kann man schwerlich ein Mittel zum intellektuellen Selbstausdruck haben!
Die aufrechte Haltung ist sehr symbolisch. Wenn du versuchst, auf allen Vieren zu gehen, wirst du sehen, dass diese Haltung, mit Augen und Nase notwendigerweise zum Boden gewandt, dir nicht das Gefühl vermittelt, Dinge von einer anderen Ebene oder sogar von oben zu betrachten. Die ganze Struktur des menschlichen Körpers ist so gestaltet, dass sie mentales Leben ausdrückt. Die Proportionen des Gehirns, zum Beispiel die Struktur des menschlichen Kopfes, die Struktur von Armen und Händen, all dies ist vom Standpunkt des Ausdrucks des Geistes fraglos ganz und gar überlegen, und es scheint ausschließlich zu dem Zweck konzipiert und konstruiert worden zu sein, Intelligenz auszudrücken.
Sicher ist der Mensch vom Standpunkt der Kraft, Geschmeidigkeit und Wendigkeit nicht das begabteste der Tiere, aber im Ausdruck des Geistes lässt sich kein anderes Tier mit ihm vergleichen. Alles ist mit Hinblick darauf konstruiert. Wir mögen dieser Möglichkeit andere Dinge hinzufügen wollen, die nur um des mentalen Lebens willen geopfert worden zu sein scheinen – aber gerade auch wegen dieser Fähigkeit, ein mentales Leben auszudrücken, ist der Mensch in der Lage, in sich Fähigkeiten zu entwickeln, die nur latent sind. Der Mensch hat eine Fähigkeit, zu erziehen: sein Körper kann entwickelt, erzogen werden. Er kann gewisse Fähigkeiten ausbauen. Man könnte sich nicht ein Tier vorstellen, selbst unter jenen, die wir am meisten bewundern, das zum Beispiel zur Körpererziehung fähig ist, rein physisch – ich meine hier nicht, zur Schule gehen oder Dinge lernen, sondern nur bloße Körpererziehung, eine systematische Entwicklung der Muskeln. Das Tier wird geboren und macht guten Gebrauch von dem, was es hat, und es wächst nach seinem eigenen Gesetz, aber es erzieht sich nicht oder tut es in einer sehr rudimentären Weise, in einem extrem begrenzten Bereich, wohingegen der Mensch durch eine normale und systematische Entwicklung seine Defekte und Mängel beheben kann. Der Mensch ist sicher in einer organisierten Weise das erste progressive Tier, das seine Kapazitäten, seine Möglichkeiten, seine Fähigkeiten erhöhen und Dinge erlangen kann, die er nicht spontan besaß. Es gibt kein einziges Tier, das dies vermag.
Ja, unter dem Einfluss des Menschen haben Tiere Bewegungen gelernt, die sie sonst nicht spontan machten, aber das geschah unter dem Einfluss des Menschen. Sicher hätten Hunde oder Pferde nie gelernt, zu tun, was sie durch Kontakt mit dem Menschen erlernten. Daher ist es offensichtlich, dass die menschliche physische Form die bestgeeignete ist, um den Geist auszudrücken. Sie mag uns unangemessen erscheinen, aber doch eben deshalb, weil wir uns imstande fühlen, mehr aus unseren Körpern herauszuholen, als sie spontan ohne erziehenden Willen gegeben hätten. Und mit dieser Möglichkeit, Intelligenz auszudrücken, Beobachtung, Begreifen, Deduktion – all die mentalen Eigenschaften –, hat der Mensch allmählich gelernt, die Gesetze der Natur zu verstehen, und hat versucht, sie nicht nur zu verstehen, sondern zu meistern.
Wenn wir das, was er ist, vergleichen mit dem höheren Wesen, das in der Wahrheit lebt und zu dem wir werden wollen, können wir offensichtlich in einer sehr herabwürdigenden Art über den Menschen sprechen, so wie er gegenwärtig ist, und über seine Unvollkommenheit klagen. Aber wenn wir uns an die Stelle der Tiere versetzen, die ihm in der Evolution unmittelbar vorausgehen, sehen wir, dass er mit Möglichkeiten und Kräften ausgestattet ist, die die anderen kaum ausdrücken können. Die bloße Tatsache, dass man den Willen hat, die Gesetze der Natur zu kennen und hinreichend zu meistern, um in der Lage zu sein, sie den eigenen Erfordernissen anzupassen und sie in einem gewissen Maß zu wandeln, ist etwas, was einem Tier unmöglich, unvorstellbar ist.
Die Mutter

Man könnte sagen, dass die Beherrschung des Feuers das symbolische Zeichen menschlicher Überlegenheit ist. Wo immer ein Mensch ist, wird ein Feuer entzündet.
Die beiden Dinge, die den Tieraktivitäten deutlich überlegen sind, sind die Fähigkeit zu schreiben und die Möglichkeit artikulierter Sprache. Und dies ist etwas, was so deutlich überlegen ist, dass alle hinreichend entwickelten Tiere gegenüber artikulierter Sprache äußerst sensitiv sind; sie fasziniert sie. Wenn du in einer sehr klaren, sehr modulierten, sehr gut artikulierten Weise zu einem wilden Tier sprichst, wird es sogleich hingezogen, es wird wirklich fasziniert – ich spreche nicht von jenen, die in der Nähe von Menschen lebten, sondern eben von Tieren, die nie zuvor einen Menschen trafen. Sie hören sogleich zu, sie fühlen die überlegene Kraft, die ausgedrückt wird.
Die Mutter

Der Mensch selbst nimmt das wundergleiche Spiel von Elektron und Atom auf, gestaltet durch die komplexe Entwicklung des Protoplasma das chemische Leben subvitaler Dinge, vervollkommnet das ursprüngliche Nervensystem der Pflanze in der Physiologie des abgeschlossenen Tierwesens, erfüllt und wiederholt rasch in seinem embryonischen Wachstum die vergangene Evolution der Tierform in die menschliche Vollkommenheit, und, wenn er einmal geboren ist, richtet er sich von der zur Erde und nach unten gewandten Tierneigung zur aufrechten Form des Geistes auf, der bereits zu seiner weiteren himmelwärtigen Evolution aufblickt. Die ganze irdische Vergangenheit der Welt ist dort im Menschen zusammengefasst, und nicht nur hat die Natur gleichsam das physische Zeichen gegeben, dass sie in ihm einen Auszug ihrer universalen Kräfte herangebildet hat, sondern psychologisch ist er auch in seinem unterbewussten Wesen eins mit ihrem obskureren subanimalischen Leben, enthält in seinem Mental und seiner Natur das Tier und steigt aus diesem ganzen Substrat zu seinem bewussten Menschsein auf.
Sri Aurobindo

Ein Baum am sandigen Flussstrand
Streckt seine höchsten Zweige empor
Wie Finger zu den Firmamenten, die sie nicht erreichen können,
Erdgebunden, himmelsstrebend.
Dies ist die Seele des Menschen.
Körper und Kopf, hungernd nach der Erde, verzögern unseren Himmelsflug.
Sri Aurobindo
