Galaxie

Der kosmische Tanz

Vor fünf Jahren hatte ich eine schöne Erfahrung… Eines Nach- mittags im Spätsommer saß ich am Meer und sah den Wellen zu, wie sie anrollten, und fühlte den Rhythmus meines Atems, als ich plötzlich gewahr wurde, wie meine ganze Umgebung in einem mächtigen kosmischen Tanz begriffen war. Als Physiker wusste ich, dass der Sand, die Felsen, das Wasser und die Luft um mich herum aus vibrierenden Molekülen und Atomen bestanden, und dass diese aus Partikeln bestehen, die aufeinander einwirken, indem sie andere Partikel schaffen und zerstören. Ich wusste auch, dass die Erdatmosphäre ständig von Schauern „kosmischer Strahlen“ bombardiert wird, Partikeln von Hochenergie, die vielfach kollidieren, indem sie die Luft durchdringen. Mit all dem war ich vertraut von meiner Forschung in Hochenergie-Physik, aber bis zu jenem Augenblick hatte ich es nur durch Schaubilder, Diagramme und mathematische Theorien erfahren. Als ich nun dort am Strand saß, wurden meine früheren Erfahrungen mit Leben erfüllt; ich „sah“ Kaskaden von Energie, die vom äußeren Raum herabkamen, wobei Partikel in rhythmischen Wellen geschaffen und zerstört wurden; ich „sah“ die Atome der Elemente und jene meines Körpers teilhaben an diesem kosmischen Energietanz; ich fühlte seinen Rhythmus und ich „hörte“ seinen Ton, und in jenem Augenblick wusste ich, dass dies der Tanz Shivas war, des Herrn der Tänzer, angebetet von den Hindus.

Die Tendenz von Partikeln, auf Beengung mit Bewegung zu reagieren, impliziert eine grundlegende „Ruhelosigkeit“ der Materie, welche charakteristisch für die subatomare Welt ist. In dieser Welt sind die meisten materiellen Partikel an die molekularen, atomaren und nuklearen Strukturen gebunden und befinden sich daher nicht im Ruhezustand, sondern haben eine inhärente Tendenz, herumzuschweifen – sie sind wesenhaft ruhelos. Gemäß der Quantentheorie ist die Materie daher nie statisch, sondern befindet sich stets in einem Zustand der Bewegung. Makroskopisch mögen die materiellen Objekte um uns herum passiv und leblos erscheinen, aber wenn wir ein solches „totes“ Stück Stein oder Metall vergrößern, sehen wir, dass es voller Aktivität ist. Je näher wir es betrachten, desto lebendiger erscheint es. Alle materiellen Objekte in unserer Umwelt bestehen aus Atomen, die sich in verschiedener Weise miteinander verbinden, um eine gewaltige Vielfalt molekularer Strukturen zu formen, die nicht starr und bewegungslos sind, sondern entsprechend ihrer Temperatur und in Harmonie mit den thermischen Schwingungen ihrer Umwelt oszillieren. In den vibrierenden Atomen sind die Elektronen durch elektrische Kräfte an die Atomkerne gebunden, die sie so nahe wie möglich beieinander zu halten versuchen, und sie reagieren auf diese Beengung, indem sie äußerst schnell herumwirbeln. In den Atomkernen schließlich werden die Protonen und Neutronen von den starken nuklearen Kräften auf ein winziges Volumen zusammengepresst, und folglich rasen sie mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten herum. Die moderne Physik stellt also die Materie keineswegs als passiv und leblos dar, sondern als etwas, was sich in einer ständigen tanzenden und vibrierenden Bewegung befindet, deren rhythmische Muster durch die molekularen, atomaren und nuklearen Strukturen bestimmt werden. In gleicher Weise sehen auch die östlichen Mystiker die materielle Welt. Sie heben alle heraus, dass das Universum dynamisch zu erfassen ist, wie es sich bewegt, vibriert und tanzt; jene Natur befindet sich nicht in einem statischen, sondern einem dynamischen Gleichgewicht. Mit den Worten eines taoistischen Textes:

„Die Stille in der Stille ist nicht die wirkliche Stille. Nur wenn Stille in der Bewegung vorhanden ist, kann der spirituelle Rhythmus erscheinen, der Himmel und Erde erfüllt.“

In der Physik erkennen wir die dynamische Natur des Universums nicht nur, wenn wir in die kleinen Dimensionen gehen – in die Welt der Atome und Atomkerne – sondern auch, wenn wir uns großen Dimensionen zuwenden – der Welt von Sternen und Galaxien. Durch unsere starken Teleskope beobachten wir ein Universum in unaufhörlicher Bewegung. Rotierende Wolken von Wasserstoffgas schrumpfen zusammen, um Sterne zu bilden, wobei sie sich erhitzen, bis sie zu brennenden Feuern am Himmel werden. Wenn sie jenes Stadium erreicht haben, rotieren sie noch weiterhin, wobei einige von ihnen Material in den Raum ausstoßen, das in Spirallinien nach außen fliegt und sich zu Planeten kondensiert, die um den Stern herumkreisen. Nach Millionen von Jahren schließlich, wenn der größte Teil des Wasserstoffbrennstoffs aufgebraucht ist, dehnt sich ein Stern aus und schrumpft dann wieder im abschließenden Gravitationskollaps. Dieser Kollaps kann mit gigantischen Explosionen verbunden sein und kann den Stern sogar in ein „schwarzes Loch“ verwandeln. All diese Vorgänge – die Bildung der Sterne aus interstellaren Gaswolken, ihre Schrumpfung und anschließende Expansion sowie ihr abschließender Kollaps – können tatsächlich am Himmel beobachtet werden. Die herumwirbelnden, expandierenden oder explodierenden Sterne häufen sich in Galaxien verschiedener Formen an – flachen Scheiben, Sphären, Spiralen usw., welche wiederum nicht bewegungslos sind, sondern rotieren. Unsere Galaxie, die Milchstraße, ist eine immense Scheibe von Sternen und Gas, die sich wie ein großes Rad im Raum dreht, so dass all ihre Sterne – einschließlich der Sonne und ihrer Planeten – sich um das Zentrum der Galaxie bewegen. Das Universum ist voller Galaxien, die über den ganzen Weltraum verstreut sind, den wir sehen können; sie alle wirbeln wie unsere eigene.

Die Vorstellungen von Rhythmus und Tanz kommen uns ganz natürlich in den Sinn, wenn wir uns den Energiefluss vorzustellen versuchen, der durch die Strukturen geht, welche die Partikelwelt ausmachen. Die moderne Physik hat uns gezeigt, dass Bewegung und Rhythmus wesenhafte Eigenschaften der Materie sind; dass alle Materie, ob hier auf der Erde oder im äußeren Weltraum, in einem ständigen kosmischen Tanz begriffen ist. Die Mystiker des Ostens haben eine dynamische Betrachtungsweise des Universums, ähnlich jener der modernen Physik, und daher überrascht es nicht, dass auch sie das Bild des Tanzes gebraucht haben, um ihre intuitive Schau der Natur mitzuteilen. Ein schönes Beispiel eines solchen Bildes von Rhythmus und Tanz gibt Alexandra David-Neel in ihrem Buch Tibetan Journey, worin sie beschreibt, wie sie einen Lama traf, der sich selbst als „Meister des Tons“ bezeichnete und ihr die folgende Beschreibung seiner Schau der Materie gab:

„Alle Dinge… sind Ansammlungen von Atomen, die tanzen und durch ihre Bewegungen Töne erzeugen. Wenn der Rhythmus des Tanzes sich ändert, verändert sich auch der Ton, den er erzeugt… Jedes Atom singt ständig sein Lied, und der Ton schafft in jedem Augenblick dichte und subtile Formen.“

Die Ähnlichkeit dieser Betrachtungsweise mit jener der modernen Physik wird besonders augenfällig, wenn wir daran denken, dass jeder Ton eine Welle mit einer bestimmten Frequenz ist, die sich ändert, wenn der Ton sich ändert, und dass Partikel, das moderne Äquivalent des alten Konzepts der Atome, ebenfalls Wellen sind mit Frequenzen proportional zu ihren Energien. Nach der Feldtheorie „singt jede Partikel“ tatsächlich „ständig ihren Ton“ und produziert dabei rhythmische Energiestrukturen (die tatsächlichen Partikel) in „dichten und subtilen Formen“.

Die Metapher des kosmischen Tanzes fand ihren tiefsten und schönsten Ausdruck im Hinduismus, mit dem Bild des tanzenden Gottes Shiva. In einer seiner vielen Inkarnationen erscheint Shiva, einer der ältesten und populärsten indischen Götter, als der König der Tänzer. Nach dem Hindu-Glauben ist alles Leben Teil eines großen rhythmischen Prozesses von Schöpfung und Zerstörung, von Tod und Wiedergeburt, und Shivas Tanz symbolisiert diesen ewigen Rhythmus von Leben und Tod, der in endlosen Zyklen abläuft. Mit den Worten von Ananda Coomaraswamy:

„In der Nacht Brahmans ist die Natur leblos und kann nicht tanzen, bis Shiva es will: Er erhebt sich von Seiner Verzückung und sendet tanzend pulsierende Wellen erweckenden Tones durch die leblose Materie, und siehe! die Materie tanzt ebenfalls und erscheint als Glorie um ihn herum. Tanzend liegt er ihren vielfältigen Phänomenen zugrunde. Indem er in der Fülle der Zeit immer noch weiter tanzt, zerstört er alle Formen und Namen durch Feuer und erschafft neue Ruhe. Dies ist Dichtung, aber nichts desto weniger Wissenschaft.“

Der Tanz Shivas symbolisiert nicht nur die kosmischen Zyklen von Schöpfung und Zerstörung, sondern auch den täglichen Rhythmus von Geburt und Tod, der in der indischen Mystik als Daseinsgrundlage betrachtet wird. Gleichzeitig erinnert uns Shiva daran, dass die vielfältigen Formen in der Welt Maya sind – nicht fundamental, sondern illusorisch und immer sich wandelnd – während er sie ständig im unablässigen Fluss seines Tanzes schafft und zerstört. Wie Heinrich Zimmer es beschrieben hat:

„Seine heftigen und anmutigen Gesten führen die kosmische Illusion herbei; seine fliegenden Arme und Beine und das Schwanken seines Torsos erzeugen – ja sind – die ständige Schöpfung-Zerstörung des Universums, wobei Tod genau Geburt die Waage hält, Auslöschung am Ende jedes Hervorkommens steht.“

Fritjof Capra