Kapitel 9

Maya

Die Welt existiert als ein Symbol Brahmans; aber das Mental legt den Dingen falsche Werte bei oder lässt sie gelten, und hält das Symbol für die eigentliche Wirklichkeit. Darin besteht die Unwissenheit oder die kosmische Illusion, der Irrtum des Mentals und der Sinne, dem zu entrinnen uns der Magier selbst, der Meister der Illusion, aufruft. Diese falsche Wertung der Welt ist die Maya der Gita; man kann sie überwinden, ohne sein Handeln oder seine Existenz in der Welt aufzugeben. Abgesehen davon ist das Ganze des universalen Daseins in dem Sinne eine Illusion der Maya, dass es sich dabei um keine unveränderliche, transzendente und letzte Wirklichkeit handelt, sondern nur um eine symbolische. Es ist eine Wertung der Wirklichkeit Brahmans in den Begriffen des kosmischen Bewusstseins. Alle diese Gegenstände, die wir sinnlich oder mental als objektiv existierend erfassen, sind lediglich Formen des Bewusstseins. Sie sind das Ding-an-sich, das zunächst in Begriffe und Ideen umgesetzt wurde, die aus einer Bewegung oder einem rhythmischen Prozess des Bewusstseins hervorgingen, und das daraufhin im Bewusstsein selbst zur Objektivierung kam – es existiert also nicht wirklich außerhalb des Bewusstseins. Sie besitzen deshalb eine festgelegte, konventionelle Wirklichkeit, aber keine immerwährende, wesentliche; sie sind Symbole, aber nicht gänzlich das Symbolisierte; sie sind Mittel der Erkenntnis, aber nicht der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis. Von einem anderen Gesichtspunkt aus gesehen hat das Sein oder Brahman zwei grundlegende Bewusstseinszustände: das kosmische Bewusstsein und das transzendente Bewusstsein. Für das kosmische Bewusstsein hat die Welt Wirklichkeit als ein erster, unmittelbarer Ausdruck dessen, was nicht ausgedrückt werden kann; für das transzendente Bewusstsein ist sie nur ein zweitrangiger und mittelbarer Ausdruck desselben. Mit dem kosmischen Bewusstsein sehe ich die Welt als die Manifestation meines Selbstes. Im transzendenten Bewusstsein erfahre ich die Welt nicht als mein manifestiertes Selbst, sondern als die Manifestation von etwas, das ich meinem Selbstbewusstsein gegenüber zu sein wünsche. Sie ist eine Konvention, die mich zum Ausdruck bringt, ohne mich zu binden; ich könnte sie auflösen und mich auf eine andere Weise darstellen. Sie ist ein Wort, das etwas in einer bestimmten Sprache ausdrückt, das genauso gut durch ein anderes Wort in einer anderen Sprache gesagt werden könnte. Auf Deutsch sage ich „Tiger“; ich hätte ebenso gut Sanskrit sprechen und das Wort sardula benützen können; es hätte weder für den Tiger noch für mich einen Unterschied bedeutet, sondern einzig und allein für mein Spiel mit den Symbolen der Sprache und des Denkens. Ebenso verhält es sich mit Brahman und der Welt, dem Ding-an-sich und seinen Symbolen mit ihren festen, konventionellen Inhalten, von welchen einige für das allgemeine Bewusstsein und einige für das individuelle Bewusstsein des symbolischen Seins Gültigkeit haben. Die Materie, das Mental und das Leben zum Beispiel sind allgemeine Symbole, die für Gott in Seinem kosmischen Bewusstsein einen festen, allgemeinen Inhalt haben; für mich, für eine Ameise, für eine Gottheit oder einen Engel haben sie dahingegen einen unterschiedlichen, individuellen Gehalt, rufen unterschiedliche Eindrücke hervor oder stellen sich unterschiedlich dar. Diese Erkenntnis des rein konventionellen Gehalts der Formen und der Namen im Universum wird in der Metaphysik durch die Formel zum Ausdruck gebracht, dass die Welt eine Schöpfung der Para Maya oder höchsten Kosmischen Illusion ist.

Daraus ergibt sich nicht, dass die Welt unwirklich ist oder kein eigentliches Dasein besitzt. Keine der alten Schriften des Hinduismus besteht auf der Unwirklichkeit der Welt; ebensowenig ist sie eine logische Konsequenz jener großen, aber fernen und schwierigen Wahrheit, bei deren Formulierung Worte sich als so unzulänglich erweisen. Wir müssen uns daran erinnern, dass alle diese Begriffe – Maya, Illusion, Traum, Unwirklichkeit, relative Wirklichkeit, konventioneller Wert oder Inhalt – nichts weiter als verbale Ausdrucksweisen sind, auf deren wörtlicher oder logischer Bedeutung man nicht allzu pedantisch bestehen darf. Sie gleichen dem Pinsel, den der Maler aus Verzweiflung gegen sein Gemälde schleuderte, weil es ihm nicht gelang, die gewünschte Wirkung zu erzielen. Sie sind nach der Wahrheit geworfene Steine und nicht etwa die Wahrheit selbst. Wir werden dies klar genug erkennen, wenn wir dazu übergehen, das Weltall von einem ganz anderen Standpunkt aus zu betrachten – nicht dem Standpunkt der Maya, sondern dem der Lila1. Es gab allerdings große Metaphysiker, die der Tatsache nicht ausreichend Rechnung trugen, dass Worte, wie alles andere auch, nur konventionelle Inhalte haben und Symbole einer an sich nicht auszudrückenden Wahrheit sind; sie haben aus den durch jene Worte angedeuteten Ideen die strengsten und konkretesten Schlüsse gezogen. So haben sie die ganze Welt als einen unglücklichen und verlogenen Traum verdammt, der ihnen um so hassenswerter und sinnloser erschien, als der scharfsinnigere Teil ihres Mentals ein gewisses Element unabdingbarer Wirklichkeit einzusehen und teilweise zuzugeben gezwungen war. Während die in ihren Prämissen enthaltene Wahrheit ihre Lehren zu einem mächtigen Werkzeug für die Befreiung großer und ernster Seelen gemacht hat, hat der Irrtum in ihren Schlüssen die Menschheit mit dem eitlen und sterilen Evangelium von der Eitelkeit nicht nur des unrechten weltlichen Daseins, sondern allen weltlichen Daseins belastet. Den extremen Formen dieser Anschauung zufolge sind sowohl die Natur als auch die Übernatur, sowohl der Mensch als auch Gott Lügen des Bewusstseins, Mythen eines kosmischen Traums, die es nicht verdienen, dass man ihnen Beachtung schenkt. Weltverbesserung ist eine Chimäre, Göttlichkeit ein Köder, und nur die Versenkung in eine überweltliche, unpersönliche Existenz ist der Mühe wert. Diejenigen, die Gott verehren, die nach menschlicher Vollkommenheit streben, die die Menschheit aus der Natur in die Übernatur erheben wollen, finden auf ihrem Weg zwei große Hindernisse. Das eine ist der niedere Hang der Natur, bei ihren vergangenen Errungenschaften zu verharren, welcher in dem rauschhaften Naturalismus des Pragmatikers und des weltlichen Menschen seinen Ausdruck findet. Das andere besteht in diesem erhabenen Hinausschießen über das Ziel, das sich nicht nur in dem vor der Welt fliehenden Asketen kundtut, der ja auf seine Weise im Recht ist, sondern auch in dem niederdrückenden Pessimismus der Unwissenden, die weder darauf aus sind, der Welt zu entfliehen, noch, falls sie es wären, sich zu der echten Größe der Askese aufschwingen könnten, die aber dennoch intellektuell und charakterlich im Schatten dieser erhabenen und fatalen Lehren stehen. Ein besseres Zeitalter für Indien wird anbrechen, wenn dieser Schatten sich aufgelöst hat und das indische Mental, ohne der Wahrheit der Maya abzuschwören, erkennt, dass es sich dabei nur um eine Teilerklärung des Daseins handelt. Das weltliche Dasein ist zwar weder für Gottes Sein noch für Gottes Seligkeit unentbehrlich, doch ist es darum kein eitles Scheingebilde; ebensowenig ist ein befreites Dasein in der Welt – befreit in Gott – ein unrechtes oder nichtiges Dasein.

Die herkömmliche Lehre von der Maya ist keine unreduzierbare Wahrheit, sondern stützt sich auf drei verschiedene spirituelle Erfahrungen. Die erste und bedeutendste unter ihnen besagt, dass die Welt eine Menge von Bewusstseinssymbolen konventionellen Inhalts ist. Dieser Erfahrung zufolge existieren alle Wesen einzig in Brahmans Selbstbewusstsein; die Einzelperson und das Ichbewusstsein sind nichts als Symbole und Bestandteile des universalen Symboldaseins. Wir sagten dies bereits, und wir werden sehen, dass diese Erfahrung uns keineswegs dazu zwingt, die Welt als einen Mythos oder eine wertlose Konvention abzutun. Nicht einmal der Mayavadin wäre zu dieser extremen Schlussfolgerung gelangt, hätte er nicht in die Reinheit dieser höchsten Seelenerfahrung seine beiden anderen Erfahrungen mit hineingebracht. Die zweite und oberflächlichste Erfahrung ist die der niederen oder Apara Maya, welche zu Beginn dieses Essays angesprochen wurde, d.h. die Erfahrung des Systems falscher Werte, die das Mental und die Sinne den symbolischen Gegebenheiten des Alls beigelegt haben. Auf einer gewissen Stufe unserer mentalen Entwicklung fällt es leicht zu erkennen, dass die Sinne täuschen, dass alle Meinungen und Urteile unzuverlässig sind, dass die Welt nicht in dem Sinne wirklich ist, in dem das Mental sie für wirklich ansieht, oder in dem die nur mit dem praktischen Wert der Dinge (ihrem vyavaharika artha) beschäftigten Sinne mit ihr wie mit einer Wirklichkeit umgehen. Wenn das Mental diese Stufe erreicht, gelangt es zu der Einsicht, dass alle von ihm der Welt beigelegten Werte vielleicht deshalb falsch sind, weil es gar keinen wahren Wert gibt oder höchstens einen dem Mental unbegreiflichen. Und mit der unserer menschlichen Natur eigenen Ungeduld geht es leicht von dieser Vermutung zu der Gewissheit über, dass es sich tatsächlich so verhält, und dass alles Sein oder zumindest alles weltliche Sein illusorisch ist, ein aus dem Nichts geborener Sinneseindruck, ein Spiel mit Nullen. Daraus ergeben sich der Buddhismus, der sensualistische Agnostizismus sowie der Mayavada. Ebenso fällt es von einem gewissen Grad sittlicher Entwicklung an leicht zu erkennen, dass die ethischen Bewertungen von Taten und Erfahrungen durch unsere Gefühle, Leidenschaften oder Sehnsüchte falsch sind, dass die Anlässe unserer Sünden der Sünde nicht wert sind, und dass unsere Werte und Prinzipien dem Ansturm der aktuellen Gegebenheiten nicht standhalten; auch sie sind Konventionen, an die die Natur bei ihrem unaufhaltsamen Vormarsch offensichtlich nicht gebunden ist. Von hier aus ist es natürlich und richtig, zur Unzufriedenheit (vairagya) mit einem Leben falscher Wertungen fortzuschreiten, aber auch sehr leicht – wiederum mit der unserer unvollkommenen menschlichen Natur eigenen Ungeduld – zu einem völligen vairagya überzugehen, d.h. von der Unzufriedenheit mit einem sittlich falschen Leben zu einem Widerwillen gegen jegliche Art von Leben und zu dem Schluss der Nichtigkeit alles weltlichen Daseins. Wir haben ein mentales vairagya, ein moralisches vairagya, und zu diesen mächtigen Motiven gesellt sich in den höheren Menschentypen das mächtigste von allen hinzu, das spirituelle vairagya. Auf einer gewissen Stufe der spirituellen Entwicklung gelangen wir nämlich entweder zu der Wahrnehmung der Welt als einem System bloßer Bewusstseinswerte in Parabrahman, oder in einen Zwischenzustand, in dem wir das reine, leuchtende und unpersönliche Sachchidananda jenseits, unberührt und scheinbar fern von allem kosmischen Sein erfahren. Diese letztere Erfahrung war sicher der ausschlaggebende Faktor im Denken so großer spiritueller Sucher wie Shankara. Untersucht man diese mächtige Erfahrung intellektuell mit Hilfe des Mentals, so ergibt sich als eine natürliche und beinahe unumgängliche Folgerung, dass jenes Reine und Leuchtende Eine das Universum für eine Sinnestäuschung ansieht, für etwas Unwirkliches, für einen Traum. Dies aber sind bloß die Bezeichnungen, Wortinhalte oder konventionellen Ideen, in die das Mental dann die Wirklichkeit der unberührten Transzendenz übersetzt, und zwar nur deshalb, weil es diese Bezeichnungen auf alles anzuwenden pflegt, was jenseits seiner selbst liegt, was ihm selbst fern ist, oder womit es selbst durch keine aktuellen Beziehungen in Berührung steht. Das ganz von der Materie in Anspruch genommene Mental lässt zunächst nur eine objektive Wirklichkeit gelten; alles, was nicht objektiviert oder dem Anschein nach zu keiner objektiven Äußerung fähig ist, nennt es eine Lüge, eine Fata Morgana, einen Traum, eine Unwirklichkeit oder, wenn es wohlmeinend veranlagt ist, ein Ideal. Wenn es später seine Ansichten korrigiert, kehrt es als erstes seine Werte um; nach Erreichen einer Region oder Ebene, von der aus das Leben in der materiellen Welt weit entfernt, unspirituell oder zu keiner spirituellen Erfüllung fähig zu sein scheint, wendet es hier sogleich seine alten Bezeichnungen an – Traum, Fata Morgana, Lüge, Unwirklichkeit oder bloßer Irrtum – und überträgt vom Gegenständlichen aufs Spirituelle seinen ausschließlichen und intoleranten Gebrauch der Wortsymbole. Fügen wir dieser Übersetzung der unberührten Transzendenz in die dem Mental eigenen konventionellen Wortinhalte die intellektuellen Folgerungen und gefühlsmäßigen Abneigungen eines mentalen und moralischen vairagya hinzu, die gemeinsam die Vorstellung von der Welt als einem System von Bewusstseinswerten verzerren, so erhalten wir die Lehre des Mayavada.

1 Illusion ist selbst eine Illusion. Was der Seele, die dabei ist, der Unwissenheit zu entkommen, als Maya erscheint, als Illusion oder als Traum, wird von der bereits freien Seele als die Lila Gottes und das Spiel des Geistes erkannt.