Kapitel 9

Identifikation

Worte der Mutter

Hast du noch nie versucht, in das Bewusstsein einer anderen Person einzutreten, um genau zu wissen, was dort vor sich geht? Es geht nicht darum, dein Bewusstsein in jemand anderes zu projizieren, denn dann findest du dich selbst in ihm wieder, und das ist nicht interessant – aber in Beziehung treten mit seinem Bewusstsein, das in ihm ist, zum Beispiel wenn ihr aus irgendeinem Grund nicht übereinstimmt; man sieht die Dinge auf die eine Weise, der andere auf andere Weise. Wenn Menschen vernünftig sind, streiten sie nicht. Aber wenn sie nicht vernünftig sind, beginnen sie zu streiten. Dann ist es das Beste, statt zu streiten, in das Bewusstsein des anderen einzutreten und sich selbst zu fragen, warum er das so sagt, was ihn dazu bringt, dies zu tun oder jenes zu sagen. Was ist der innere Grund, was ist seine Sicht der Dinge, die ihn diese Haltung einnehmen lässt? Es ist äußerst interessant. Wenn du das tust, hörst du sofort auf wütend zu sein. Als erstes kannst du nicht mehr wütend sein. Das ist schon ein großer Gewinn. Aber auch wenn der andere weiterhin wütend ist, hat das keine Wirkung auf dich.

Und dann kann man versuchen, sich noch vollkommener zu identifizieren und Bewegungen der Trennung und Entstellung zu vermeiden und den Streit zu beenden. Sehr nützlich.

Worte der Mutter

Man kann lernen, sich zu identifizieren. Man muss es lernen. Es ist unerlässlich, wenn man aus seinem Ego herauskommen will. Denn solange man in seinem Ego eingeschlossen ist, kann man keinen Fortschritt machen.

Wie macht man das?

Es gibt viele Verfahren. Ich will dir von einem berichten.

Als ich in Paris war, ging ich an viele Orte, wo Zusammenkünfte aller Art stattfanden und wo Leute waren, die alle möglichen Untersuchungen anstellten, spirituelle (sogenannte spirituelle), okkulte Untersuchungen und so weiter. Einmal wurde ich eingeladen, um eine junge Dame (ich glaube, es war eine Schwedin) kennenzulernen, die eine Methode zur Erlangung von Wissen gefunden hatte, eben ein Lernverfahren. Und sie erklärte es uns. Wir waren zu dritt oder viert (sie sprach nicht sehr gut Französisch, war aber doch sehr überzeugt davon!). Sie sagte: „Also, Sie nehmen einen Gegenstand, oder Sie machen ein Zeichen auf eine schwarze Tafel, oder Sie nehmen eine Zeichnung – das hat keine Bedeutung, nehmen Sie, was für Sie am praktischsten ist. Angenommen, ich zeichne Ihnen etwas…“ Sie hatte eine schwarze Tafel dabei und machte eine Zeichnung aus halb geometrischen Figuren. „Nun setzen Sie sich vor die Zeichnung und konzentrieren sich mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit darauf – auf diese Zeichnung da vor Ihnen. Sie konzentrieren und konzentrieren sich, ohne etwas anderes in Ihr Bewusstsein dringen zu lassen. Ihre Augen sind fest auf die Zeichnung gerichtet und schweifen nicht mehr umher. Sie sind sozusagen von der Zeichnung hypnotisiert. Sie schauen (und da saß sie so, schauend), Sie schauen, Sie schauen und schauen … Ich weiß nicht, es dauert mehr oder weniger lang, aber wenn man es gewohnt ist, geht es doch recht schnell. Sie schauen und schauen und schauen, und Sie werden diese Zeichnung, die Sie anschauen. Nichts auf der Welt existiert mehr außer der Zeichnung, und dann, plötzlich, gehen Sie auf die andere Seite hinüber; und wenn Sie auf die andere Seite hinübergehen, kommen Sie in ein neues Bewusstsein, und Sie wissen.“

Wir lachten viel, denn es war lustig. Aber das ist sehr wahr, es ist eine ganz ausgezeichnete Art und Weise, es praktisch durchzuführen. Anstatt eine Zeichnung oder einen Gegenstand zu nehmen, kann man natürlich auch einen Gedanken, einige Wörter nehmen. Du hast ein Problem, das dich beschäftigt, du weißt die Lösung des Problems nicht, nun, du stellst dir dein Problem im Geiste vor dich hin, du fasst es in möglichst klaren und deutlichen Worten, und dann konzentrierst du dich, du strengst dich an. Du konzentrierst dich nur auf diese Wörter und wenn möglich auf den Gedanken, den sie darstellen, das heißt auf das Problem – du konzentrierst und konzentrierst und konzentrierst dich, bis nichts mehr existiert als nur noch das. Und es ist wahr, man hat plötzlich das Gefühl, dass sich etwas öffnet – und man ist auf der anderen Seite. Auf der anderen Seite wovon?… Das bedeutet, du hast eine Tür deines Bewusstseins geöffnet, und augenblicklich hast du die Lösung deines Problems.

Das ist eine ganz ausgezeichnete Methode zu lernen, wie man sich identifiziert. Du bist zum Beispiel mit jemandem zusammen. Diese Person sagt etwas zu dir, du sagst genau das Gegenteil (wie es normalerweise vorkommt, einfach aus Widerspruch), und es beginnt eine Diskussion. Natürlich führt das nie zu etwas, es gibt nur Streit, wenn du ein schwieriger Mensch bist. Sagt man sich aber, statt zu diskutieren und andauernd in seinem Kopf oder in seinen Worten gefangen zu sein: „Halt inne! Ich will mal zu erkennen versuchen, warum der oder die mir das gesagt hat. Ja, warum wohl?“ Und du konzentrierst dich: „Warum, warum, warum?“ Du probierst es einfach mal so, und die andere Person hört nicht auf zu reden, nicht wahr, und sie ist sehr glücklich, weil du ihr nicht mehr widersprichst! Sie redet und redet und ist sich sicher, dass sie dich überzeugt hat. Du konzentrierst dich nun immer mehr auf das, was sie sagt, wobei du das Gefühl hast, dass du ganz allmählich durch ihre Worte hindurch in ihren Kopf eindringst. Damit dringst du plötzlich in ihre Denkweise ein, und stell dir vor, dann verstehst du, warum sie so redet! Und wenn du eine recht rasche Auffassungsgabe hast und das, was du jetzt verstehst, mit dem vergleichst, was du zuvor verstanden hast, dann hast du die beiden Verstehensweisen beisammen und kannst die Wahrheit finden, die die beiden versöhnt. Dann hast du wirklich einen Fortschritt gemacht. Und das ist die beste Art, sein Denken zu erweitern.

Wenn du eine Diskussion beginnst, schweige sofort, augenblicklich. Du musst schweigen, nichts mehr sagen und dann versuchen, die Sache so zu sehen, wie die andere Person sie sieht – dabei brauchst du gar nicht deine eigene Ansicht zu vergessen, sondern du kannst beide zusammenbringen. Dann hast du wirklich einen Fortschritt gemacht, einen echten Fortschritt.

Das gilt für alles. Alles, was du mit anderen Personen zu tun hast – wenn du nicht einverstanden bist, nimm es als göttliche Gnade, als eine wunderbare Gelegenheit, die dir gegeben ist, damit du einen Fortschritt machen kannst. Und es ist einfach: Anstatt auf dieser Seite zu sein, bist du auf der anderen. Anstatt sich selbst zu betrachten, gehst du in den Anderen hinein und schaust. Du brauchst ein ganz klein wenig Vorstellungskraft, etwas mehr Kontrolle über deine Gedanken, über deine Regungen. Aber das ist nicht sehr schwierig. Wenn du ein wenig versuchst hast, merkst du nach einer gewissen Zeit, dass es sehr leicht ist.

Du darfst nicht einfach nur schauen und dich dann mental anstrengen und dich fragen: „Warum ist es so und so? Warum tut er das, oder warum sagt er das?“ So erreichst du nie etwas. Du wirst nichts verstehen, du wirst dir allerlei Erklärungen vorstellen, die nichts taugen und bei denen du überhaupt nichts lernen wirst, außer dass du dir sagst: „Diese Person ist dumm, oder sie ist böse“, Dinge, die zu nichts führen. Wenn du dagegen nur diesen kleinen Schritt ausführst und versuchst, in den Anderen hineinzugehen, statt ihn nur wie einen fremden Gegenstand zu betrachten, kommst du da hinein, in diesen kleinen Kopf da vor dir, und ganz plötzlich befindest du dich auf der anderen Seite und betrachtest dich von dort aus und verstehst sehr gut, was der oder diejenige sagt – alles ist klar, das Warum, das Wie, der Grund, das Gefühl, das hinter dem Ganzen steht … Das ist eine Erfahrung, zu der du hundertmal am Tag Gelegenheit hast.

Zunächst gelingt es einem nicht so gut, aber wenn man beharrlich dabei bleibt, wird man schließlich sehr schöne Erfolge haben. Dadurch gewinnt das Leben viel an Reiz. Und zudem ist es eine Arbeit, die dich wirklich Fortschritte machen lässt, denn sie veranlasst dich, aus deinem kleinen Panzer herauszutreten, in dem du so fest eingeschlossen bist und mit dem du überall anstößt. Du kennst die Falter, die gegen das Licht stoßen…? So ist das Bewusstsein eines jeden, es stößt da an, stößt dort an, denn das sind die Dinge, die ihm fremd sind. Geht man aber hinein, statt dagegen zu stoßen, dann beginnt das allmählich, ein Teil von einem selbst zu werden. Man wird weit, man hat Luft zum Atmen, man hat Platz, sich zu bewegen, man stößt nicht an, man tritt ein, man kommt dahinter, man versteht. Und man lebt an vielen Orten zu gleicher Zeit. Das ist sehr interessant, man macht es automatisch.

Wenn du zum Beispiel ein Buch liest, das dich sehr interessiert, einen wunderbaren Roman voll spannender Abenteuer, wenn du ganz in der Geschichte „drin“ bist, vergisst du darüber manchmal, wann es Zeit ist für die Schule oder für das Essen oder für das Schlafengehen. Du lebst ganz in dem, was du liest. Nun, das ist ein Phänomen der Selbst-Identifikation. Und wenn du eine gewisse Vollkommenheit erreicht hast, ist dir schon im Voraus klar, was geschehen wird. Ist man ganz in die Geschichte vertieft, kommt ein Augenblick, in dem es einem gelingt zu wissen (ohne dass man versuchte, es herauszubekommen), zu welchem Ziel einen der Autor führt, wie er seine Geschichte entwickelt und zum Abschluss bringt. Dann hat man sich mit dem schöpferischen Denken des Autors identifiziert. Man macht das mehr oder weniger gut, ohne zu wissen, dass man es macht, aber das sind Phänomene der Selbst-Identifikation.

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