Kapitel 8
Die Natur
Wenn dies die Natur des auszuführenden Unternehmens ist – nicht die Vollendung, sondern das Zerbrechen der gegenwärtigen menschlichen Gussform, um zu einem höheren Typus überzugehen –, welches ist dann die ausführende Kraft und das wirksame Vorgehen? Was ist diese Natur, von der wir so viel reden?1 Wir haben die Gewohnheit, von ihr zu sprechen, als wäre sie etwas Mächtiges und Bewusstes, das lebendig ist und Pläne macht. Wir unterstellen ihr ein Ziel, das zum Verfolgen dieses Ziels erforderliche Wissen sowie die zu seiner Verwirklichung erforderliche Macht. Sind wir angesichts der Gegebenheiten im Universum zu solch einer Formulierung berechtigt, oder ist dies bloß unsere eingefleischte Angewohnheit, menschliche Eigenschaften auf nichtmenschliche Dinge zu übertragen und Vorgängen ohne Intelligenz ein intelligentes Vorgehen zuzuschreiben? Ist es nicht eher so, dass diese Vorgänge deshalb richtig ablaufen, weil sie es müssen, und nicht deshalb, weil sie es wollen, und dass sie dieses großartige, geordnete Universum aus einer stummen, blinden und einsichtslosen Notwendigkeit heraus hervorbringen, die ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach unbegreiflich bleiben muss? Wenn dies zutrifft, hat diese blinde, gefühllose Kraft etwas Höheres als sie selbst hervorgebracht, etwas, das nicht im Voraus ausgedacht in ihr bereit lag oder ihr sonst irgendwie zu eigen war. Wir können nicht verstehen, was das Sein ist und was die Natur, und zwar nicht weil wir noch zu klein und zu begrenzt sind, sondern weil wir zu hoch über dem Sein und der Natur stehen. Unsere Intelligenz ist ein leuchtendes Monstrum in einer Finsternis, aus der sie unmöglich entstanden sein kann, da nichts in dieser Finsternis sich als Ursache ihrer Entstehung ausweist. Nur wenn das Mental der empfindungslosen Materie bereits innegewohnt hätte (in welchem Falle die Materie nur scheinbar empfindungslos wäre), hätte es der Materie möglich sein können, ein Mental zu entwickeln. Doch da uns dies zu einer Unmöglichkeit führt, kann es nicht die Wahrheit sein. Wir müssen also davon ausgehen, dass das Mental empfindungslos ist, da ja die Materie auch keine Empfindungen hat. Intelligenz ist eine Illusion. Es gibt nichts als ein Aufeinanderprallen materieller Einflüsse, das in der Materie Schwingungen und Reaktionen hervorruft, die sich in die Erscheinungsformen der Intelligenz umsetzen. Erkenntnis ist nichts weiter als eine Beziehung von Materie zu Materie. Sie unterscheidet sich nicht wesentlich vom ständigen Kollidieren der Atome oder einem handfesten Zusammenstoß zweier Ochsen auf der Weide, noch ist sie diesen Ereignissen grundsätzlich überlegen. Weil die beteiligten materiellen Ursachen und die bewirkten Erscheinungen verschieden sind, bezeichnen wir das Zurückprallen eines gehörnten Schädels vom anderen nicht als einen Akt der Erkenntnis oder der Intelligenz. Was sich jedoch ereignet hat, ist im Grunde das Gleiche. Die Intelligenz selbst ist träge und mechanisch, lediglich das physiologische Ergebnis eines physiologischen Vorgangs und birgt im altehrwürdigen Sinn der Worte Seele, soul, und Mental, mind, nichts Seelisches oder Mentales in sich. Dies ist die Ansicht des modernen wissenschaftlichen Rationalismus – zwar in eine andere Sprache gefasst als die des Wissenschaftlers, eine Sprache, die seine logischen Konsequenzen und Implikationen hervorhebt, doch nichtsdestoweniger die aktuelle Erklärung des Universums.
Dieser Erklärung zufolge besteht das Wesen eines Gegenstandes in seiner Zusammensetzung, den in dieser Zusammensetzung enthaltenen Eigenschaften und den durch diese Eigenschaften bedingten Wirkungsgesetzen. So setzt sich zum Beispiel Eisen aus gewissen Grundbestandteilen zusammen, besitzt infolge seiner Zusammensetzung gewisse Eigenschaften wie Härte usw. und verhält sich auf Grund dieser Eigenschaften unter gegebenen Umständen in einer bestimmten Weise. Wenden wir diese Analyse in einem größeren Rahmen an, stellt sich uns das Weltall als das Gefüge einiger elementarer Kräfte dar, die in gewissen materiellen Substanzen wirken. Es besitzt an sich und in diesen Substanzen gewisse primäre und sekundäre, allgemeine und besondere Eigenschaften, auf Grund derer es gemäß gewisser fester Tendenzen und unwandelbarer Prozesse agiert, denen wir den anthropomorphen Namen „Gesetze der Natur“ geben. Das ist die Natur. Bei sorgfältiger Analyse stellt sie sich als das Spiel zweier Prinzipien dar, Kraft und Materie. Wenn aber die Vorstellung von der Einheit des Universums richtig ist, werden sich die beiden eines Tages als ein einziges Prinzip erweisen, entweder reine Materie oder reine Kraft.
Selbst wenn wir diese zeitgenössische Ansicht über das Universum akzeptieren, die sich – wie man ohne Risiko voraussagen kann – im Verlauf eines Jahrhunderts in einer größeren Synthese aufgelöst haben wird, bleibt doch noch etwas zu der Frage des Vorhandenseins oder Nichtvorhandenseins von Intelligenz in der Natur zu sagen. Worin besteht denn eigentlich Intelligenz, woraus setzt sie sich zusammen, was sind ihre Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten? Was insbesondere ist die menschliche Intelligenz in ihrer Bedingtheit – die einzige Intelligenz, die wir von innen her zu studieren und deshalb zu verstehen vermögen? Sie zeichnet sich durch drei Qualitäten oder Vorgänge aus: die Fähigkeit oder den Vorgang einer zielgerichteten Anpassung im Handeln, die Fähigkeit oder den Vorgang des Unterscheidens zwischen den Sinneseindrücken und die Fähigkeit oder den Vorgang des mental bewussten Verstehens. Kurz gesagt ist die menschliche Intelligenz zielgerichtet, unterscheidend und mental bewusst. Über nichtmenschliche Wesen wie Tiere, Bäume, Metalle, Kräfte können wir von innen her nichts aussagen. Wir können das Fehlen oder Vorhandensein dieser Bewusstseinselemente nur aus einem durch äußere Beobachtungen gewonnenen Beweismaterial herleiten. In Ermangelung eines inneren Nachweises können wir nicht mit Bestimmtheit behaupten, dass ein Baum kein in der Materie eingeschlossenes Mental ist, das bloß unfähig ist, sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu äußern. Wir können nicht behaupten, dass er den Reaktionen von Freude und Schmerz nicht unterworfen ist. Auf Grund der äußeren Indizien schließen wir jedoch auf das Gegenteil. Unsere Schlussfolgerung ist zwar wahrscheinlich, sicher aber ist sie nicht. Sie könnte durch die künftigen Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis widerlegt werden. Werden die äußeren Indizien dennoch für sich genommen: Welcher tatsächliche Sachverhalt ergibt sich dann aus unserem Vergleich der intelligenten mit der nicht-intelligenten Natur?
Zunächst einmal besitzt die Natur in weit höherem Maße als der Mensch die teleologische Fähigkeit des zielgerichteten Handelns. Sich ein Ziel zu setzen, Mittel und Verfahrensweisen zu kombinieren, sie anzupassen oder abzuändern, um dieses Ziel zu erreichen, gegen Schwierigkeiten anzukämpfen und sie zu überwinden, Mittel und Wege zum Umgehen von Schwierigkeiten zu ersinnen, falls diese nicht überwunden werden können – dies alles gehört zu einem der vornehmsten, ja göttlichsten Elemente der menschlichen Intelligenz. Das Wirken der Intelligenz im Menschen ist jedoch nur eine spezielle Form ihres universalen Wirkens in der Natur. Im Menschen wird es von der Natur teilweise mit Hilfe der Vernunft vollzogen, in Tieren von sehr geringer oder rudimentärer Vernunft hauptsächlich durch die Instinkte, das Erinnerungsvermögen, die Triebe und die Sinneseindrücke, in Pflanzen oder anderen Dingen mit sehr geringer oder rudimentärer Vernunft hauptsächlich durch die Triebe und durch mechanisches oder, wie man sagt, unbeabsichtigtes Handeln. Doch überall ist ein Ziel und ein Anpassungsvermögen an die Zielsetzung vorhanden, und überall finden dieselben grundlegenden Hilfsmittel Anwendung. Auch im Menschen kommt die Vernunft nur bei einem Teil seiner Ziele und Verhaltens- oder Funktionsweisen zur Anwendung. In erster Linie benutzt die Natur die bereits im Tier vorhandenen Mittel Gedächtnis, Trieb, Empfindungsvermögen, Instinkt – zwar unterschiedlich ausgerichtete Instinkte von geringerem Einfluss und geringerer Spezifität als die tierischen, doch letztlich und für ihre Zwecke ebenso sichere. Und im Übrigen benutzt sie den gleichen rein mechanischen Antrieb und das gleiche unwillkürliche Handeln auf genau die gleiche Weise wie in ihren irrtümlich als unbelebt bezeichneten Formen. Ferner lässt sich nicht behaupten, dass die Verschwendungssucht der Natur, ihr Vergeuden von Materialien, ihr häufiges Scheitern oder ihre scheinbaren Ungereimtheiten und Eskapaden als Zeichen von Ziellosigkeit und nicht vorhandener Intelligenz zu werten sind. Der Mensch mit seiner Vernunft ist ja derselben Versäumnisse und Ausschweifungen schuldig. Weder der Mensch noch die Natur sind aus diesem Grunde ziellos oder ohne Intelligenz. Der Mensch selbst wird von der Natur gezwungen, nicht allzu sehr auf Nützlichkeit versessen zu sein, da sie es besser weiß als der Ökonom und der utilitaristische Philosoph. Sie ist eine universale Intelligenz und muss ihr Augenmerk sowohl im Ganzen als auch in jeder Einzelheit nicht nur auf das allgemeine, sondern auch auf das individuelle Ergebnis richten. Sie hat jede Einzelheit mit Rücksicht auf die Gruppe auszuarbeiten, und nicht nur auf die Gruppe, sondern auf die ganze Art, und nicht nur auf die ganze Art, sondern auf die gesamte Artenwelt. Der Mensch als eine durch seine Vernunft eingeschränkte individuelle Intelligenz ist dieser Weite nicht fähig. Er stellt seine speziellen Interessen allem anderen voran und bemerkt weder, wann es seinem allgemeinen Wohlergehen schadet, sich diesen ausschließlich zu widmen, noch hat er ein Gespür dafür, wann sie mit dem universalen Ziel in Konflikt geraten. Die Versäumnisse und Fehlschläge der Natur haben ihren Nutzen – es wird nicht allzu lange dauern, bis wir erkennen, welch großen Nutzen –, und hinter ihren Launen verbirgt sich eine große Ernsthaftigkeit. Vor allem denkt sie jedoch daran, dass für sie das eine große Ziel jenseits aller formbezogenen Zwecke die Verwirklichung einer allumfassenden Freude ist, die zwar auf der Organisation von Formen als einem Mittel aufbaut, aber weit über ihre Mittel hinausgeht. Darauf bewegt sie sich zu. Deshalb erfreut sie sich auf ihrem Weg, deshalb erfreut sie sich sowohl an ihrer Arbeit als auch jenseits ihrer Arbeit.
Aber in alldem greifen wir vor. Wir sprechen, als wäre die Natur sich ihrer selbst bewusst. Was wir herausgefunden haben ist, dass sie zielgerichtet ist, und zwar in größerem Umfang und auf vollkommenere Weise als der Mensch, ferner dass der Mensch selbst sich nur auf Grund dieser Eigenschaft der Natur teleologisch verhält, und dies unter Ausnutzung derselben grundlegenden Mittel und Vorgänge wie das Tier und die Pflanze, wenn auch neue, dem Mental eigene Mittel hinzukommen. Dies, so könnte man sagen, macht noch keine Intelligenz aus. Intelligenz ist nämlich nicht nur zielgerichtet, sondern sie macht auch Unterschiede und ist mental bewusst. Ein mechanisches Unterscheidungsvermögen ist der Natur jedoch gewiss im höchsten Grade zu eigen. Ohne es wären ihre teleologischen Leistungen nicht möglich. Eine Ranke wächst gerade durch die Luft, bis sie mit einer Schnur, einem Stock oder dem Stängel einer Pflanze in Berührung kommt. Sogleich ergreift sie ihn wie mit einem Finger, geht von einem geraden Wachstum zu einer gekrümmten, sich fest zusammenziehenden Bewegung über und windet sich um ihren Halt. Was führt diese Änderung herbei? Was erlaubt ihr, auf das Vorhandensein eines Halts und auf die Möglichkeit dieser neuen Bewegungsweise zu schließen? Es ist der Instinkt der Ranke, und er unterscheidet sich grundsätzlich in nichts von dem Instinkt eines neugeborenen Welpen, der sich sofort der Zitzen seiner Mutter bemächtigt, oder dem Instinkt eines Menschen in seinen mechanischeren Bedürfnissen und Handlungen. Wir sehen, wie der Mondlotus seine Blütenblätter dem Mond hin öffnet und sie bei Anbruch des Tages schließt. In welcher Weise weicht diese unterscheidende Bewegung von der einer eilends aus dem Feuer zurückgezogenen Hand ab oder von der nervlich zurückschaudernden Reaktion des Ekels und Missfallens bei einem abscheulichen Anblick oder von der mental zurückschaudernden Reaktion der Verweigerung und Abneigung angesichts einer abstoßenden Idee oder Meinung? Es scheint hier keinen wesentlichen Unterschied zu geben. Lediglich die Umstände sind verschieden. Während das Verhalten im einen Falle nicht von mentalem Selbstbewusstsein begleitet ist, ist es in den anderen Fällen mit diesem äußerst wichtigen Element versehen. Wir sind im Irrtum mit unserer Ansicht, dass dem Verhalten der Ranke und des Lotus kein Wille und kein Unterscheidungsvermögen zugrunde liegen. Es gibt da einen Willen, jedoch keinen mentalisierten Willen. Ebenso ist ein Unterscheidungsvermögen vorhanden, wenn auch kein mentalisiertes. Wir nennen es mechanisch – aber wissen wir, was wir damit meinen? Wir verwenden noch andere Bezeichnungen, nennen den Willen Kraft und das Unterscheidungsvermögen eine natürliche Reaktion oder eine organische Tendenz. Solche unterschiedlichen Bezeichnungen maskieren nur die Tatsache, dass sie sich auf ein und denselben Gegenstand beziehen.
Selbst wenn wir nicht weiter gelangen könnten, hätten wir doch einen Riesenschritt getan, denn wir haben bereits die folgende Vorstellung von dem, was wir die Natur nennen: Sie besitzt, birgt in sich oder ist identisch mit einer ungeheuren Willenskraft, die sich ein großes Hauptziel und Millionen mannigfaltig miteinander verknüpfte Nebenziele setzt, die bei deren Ausführung Findigkeit, Anpassungsvermögen, methodisches Vorgehen und eine unfehlbare Unterscheidungskraft bekundet und der ihr kompliziertes Werk in hohem Maße gelingt. Nach dieser Vorstellung wäre die menschliche Intelligenz nur eine begrenzte und untergeordnete Bewegung dieser ungeheuren Kraft, würde von ihr gelenkt und benutzt und diente selbst dann ihren Zwecken, wenn sie gegen diese anzukämpfen scheint. Wir können einer solchen Macht die Intelligenz abstreiten, da sie keine Merkmale mentalen Bewusstseins aufweist und nicht in jedem Bereich ihres Wirkens eine menschliche oder mentale Intelligenz verwendet, doch wäre dieser Einwand bloß eine metaphysische Subtilität. Schauen wir hinaus aufs Leben und nicht nach innen auf abstrakte Ideen, können wir uns praktisch darauf verlassen, sofern wir diese Vorstellung zulassen, dass diese unintelligente Unterscheidungskraft genauso vorgeht, als wäre sie eine universale Intelligenz und als wären die Mittel und Ziele dieses mechanischen Willens die Mittel und Ziele einer Allmächtigen Weisheit. Wenn wir aber zu dieser Gewissheit gelangen, erfordert dann nicht schon die Vernunft, dass wir in der Natur oder hinter ihr eine universale Intelligenz und eine Allmächtige Weisheit postulieren? Wenn die Ergebnisse eben diejenigen sind, die von solchen Mächten hervorgerufen werden, müssen wir dann nicht solche Mächte als deren Ursache annehmen? Welches ist der wahrere Rationalismus – einzugestehen, dass die Produkte der Intelligenz von Intelligenz geschaffen werden, oder darauf zu beharren, dass sie von einer blinden Maschine erschaffen werden, die unbewusst Vollkommenes hervorbringt? Ist es rationaler zuzugeben, dass dem offenen Zutagetreten von Intelligenz im Menschen das spezielle Wirken einer verborgenen Intelligenz im Weltall zugrundeliegt, oder zu behaupten, dass Intelligenz das Ergebnis einer Kraft ist, der sogar das Prinzip der Intelligenz abgeht? Das Paradoxon durch die Feststellung zu rechtfertigen, dass alles in einer bestimmten Weise geschieht, weil es die Natur der Dinge ist, in einer bestimmten Weise zu geschehen, heißt den Verstand zum Narren zu halten. Es führt uns nämlich keinen einzigen Schritt über die bloße Tatsache hinaus, dass alles so geschieht und keiner weiß, warum.
Der eigentliche Grund für die moderne Abneigung gegenüber der Vorstellung, die Natur besäße Intelligenz und Weisheit oder bestünde sogar daraus, ist die ständige Assoziierung von Intelligenz und Weisheit mit einer mental selbstbewussten Persönlichkeit in unserem Denken. Intelligenz, so nehmen wir an, setzt eine intelligente Person voraus, ein Ego, das diese Intelligenz besitzt und benutzt. Eine Prüfung des menschlichen Bewusstseins zeigt, dass diese Ideen-Assoziation ein Irrtum ist. Die Intelligenz besitzt uns, nicht wir sie. Sie benutzt uns, nicht wir sie. Das mentale Ego im Menschen ist eine Schöpfung und ein Instrument der Intelligenz, und die Intelligenz selbst ist eine Naturkraft, die sich in elementarer oder fortgeschrittener Form in der gesamten Tierwelt kundtut. Dieser Einwand erübrigt sich also. Darüber hinaus hat die Wissenschaft selbst gezeigt, indem sie dem Ego seinen rechten Platz als ein Produkt des Mentals zuwies, dass Intelligenz kein Eigentum des Menschen, sondern eine Naturkraft und daher eine Eigenschaft der Natur ist, eine Manifestation der universalen Kraft.
Die Frage ist noch offen, ob es sich um eine grundlegende und allgegenwärtige Eigenschaft handelt oder nur um eine in einer auserwählten Minderheit ihrer Schöpfungen vollzogenen Entwicklung. Auch hier besteht die Schwierigkeit darin, dass wir Intelligenz mit einem organisierten mentalen Bewusstsein in Verbindung bringen. Betrachten und prüfen wir also die Tatsachen, die die Wissenschaft in unser Blickfeld gerückt hat. Wir werden uns auf eine von ihnen beschränken, nämlich die nordamerikanische Venusfliegenfalle, Dionaea Muscipula. Hier ist ein pflanzlicher Organismus, der Hunger bezeugt – sollte man sagen, einen unbewussten Hunger? – und tierische Nahrung benötigt, der fühlt, wann das Opfer in die Falle geht, der sich dann augenblicklich schließt und die Beute ergreift, verzehrt und verdaut und alsdann auf weitere Beute harrt. Dieses Verhalten ist genau das gleiche wie das der mentalen Intelligenz der Spinne. Es ist lediglich der vergleichsweisen Unbeweglichkeit der Pflanze angepasst und, soweit wir feststellen können, auf dieses lebenswichtige Bedürfnis und seine Befriedigung beschränkt. Warum sollten wir also der Spinne mentale Intelligenz zuschreiben, nicht aber der Pflanze? Selbst wenn sie elementar ist und nur zu bestimmten Zwecken organisiert wurde, scheint es doch dieselbe natürliche Kraft zu sein, die sowohl in der Spinne als auch in der Pflanze auf intelligente Weise ein Mittel zu einem Zweck erfindet und das Funktionieren ihrer Erfindung überwacht. Wenn in der Pflanze kein Mental ist, sind mentale Intelligenz und mechanische Intelligenz ihrem Wesen nach unweigerlich ein und dasselbe, und die Ranke, die ihren Halt umschlingt, die Pflanze, die ihre Beute fängt, sowie die Spinne, die ihr Opfer ergreift, sind alle Formen einer einzigen Kraft in Aktion, der wir zwar die Bezeichnung Intelligenz verweigern können, die aber dennoch offensichtlich das Gleiche ist wie Intelligenz. Der Unterschied ist der zwischen einer mental organisierten und einer nicht derart organisierten Intelligenz, die aber mit der ausgesprochenen Reinheit des Elementaren in gewisser Hinsicht sicherer arbeitet als ihre mentale Erscheinungsform. Im Lichte dieser Tatsachen wird die Vorstellung von der Natur als einer unendlichen, zielgerichteten und unterscheidenden Intelligenten Kraft, die weder organisiert noch persönlich ist, da sie aller Organisation und Persönlichkeit vorausgeht, zur höchsten Wahrscheinlichkeit. Die mechanische Theorie bleibt als bloße Möglichkeit. In der Abwesenheit von Gewissheiten verlangt aber die Vernunft von uns, dass wir dem Wahrscheinlichen den Vorrang gegenüber dem nur Möglichen einräumen und dass wir eine harmonische und natürliche Erklärung einer gewaltsamen und widersprüchlichen vorziehen.
Doch ist es so sicher, dass in dieser Intelligenz und ihrem Wirken das Mental eine Besonderheit und das Prinzip der Persönlichkeit – im Gegensatz zum mentalen Ego – gänzlich abwesend ist, außer als ein Ergebnis und ein bequemes Werkzeug des Mentals? Wir vermuten es, weil wir glauben, dass Bewusstsein nur dort existieren kann, wo die für die Tierwelt typischen Merkmale des Bewusstseins vorhanden sind. Auch dies mag eine bloße Annahme sein. Wir haben zu bedenken, dass wir von einem Baum oder einem Stein nichts weiter kennen als seine äußeren Anzeichen des Lebens oder der Ruhe, während unser inneres Wissen auf die Phänomene der menschlichen Psychologie beschränkt ist. Aber selbst auf diesem begrenzten Gebiet gibt es vieles, das uns tief nachdenken und lange innehalten lassen sollte, ehe wir uns zu vorschnellen Verneinungen hinreißen lassen. Da schläft ein Mensch traumlos, wie er meint, doch wissen wir, dass in ihm das Bewusstsein die ganze Zeit über aktiv ist, dass es immerzu träumt. Von seinem Körper und dessen Umgebung weiß er nichts, dennoch verrichtet dieser Körper von allein alle notwendigen Lebensfunktionen. Bei einem in Ohnmacht oder in Trance gefallenen Menschen tritt die gleiche Erscheinung eines geteilten Wesens auf: Sein Bewusstsein ist im Inneren mental aktiv, aber getrennt von seinem Körper, der mental einem Baum oder Stein gleicht, doch vital aktiv ist wie der Baum. Die Katalepsie stellt ein noch eigenartigeres Phänomen dar. Während der Körper gleichsam tot und reglos wie der Stein und nicht einmal vital aktiv ist wie der Baum, ist das Mental völlig seiner selbst, seiner Instrumente und seiner Umgebung gewahr. Es ist lediglich nicht länger im aktiven Besitz seiner Instrumente und deshalb nicht länger fähig, materiell auf seine Umgebung einzuwirken. Wie können wir angesichts dieser Beispiele behaupten, dass kein Leben im Stein ist und kein Mental im Stein oder im Baum? Die Prämisse, aufgrund welcher die Wissenschaft einem Baum mentales Bewusstsein oder einem Stein Leben abstreitet, nämlich dass dort, wo es keine äußeren Anzeichen des Lebens oder der bewussten Mentalität gibt, Leben und Mental nicht existieren, ist nachweislich falsch. Es wäre also möglich und ist angesichts der Einheit der Natur und der in ihren Schöpfungen gegenwärtigen Intelligenz sogar in gewissem Grade wahrscheinlich, dass der Baum und der Stein in ihrer Gesamtheit ebensolche geteilte Wesen sind: eine noch nicht vom bewussten Mental durchdrungene und in Besitz genommene Form und im Inneren eine bewusste Intelligenz, die in sich versunken träumt oder gleich einem Kataleptiker ihrer Umgebung zwar gewahr ist, doch unfähig, irgendein Zeichen des Lebens oder der Mentalität zu geben oder von sich aus auf ihre Umgebung einzuwirken, da sie noch nicht im Besitz ihrer Werkzeuge ist. (Im Kataleptiker ist ja die Intelligenz auch dieser Werkzeuge vorübergehend beraubt.)
Es besteht keine Notwendigkeit, bei dieser relativ hohen Wahrscheinlichkeit stehenzubleiben. Die jüngsten Forschungsergebnisse der Psychologie verleihen ihr nämlich einen so hohen Grad an Gewissheit, dass man schon vom eigentlichen Beweis sprechen kann. Wir wissen jetzt, dass es im Menschen ein vom Wachbewusstsein zu unterscheidendes Traum-Selbst oder Schlaf-Selbst gibt, das im bewusstlosen, betäubten, hypnotisierten oder schlafenden Menschen aktiv ist, das weiß, was das wache Mental nicht weiß, das versteht, was das wache Mental nicht versteht, das sich genau an das erinnert, was zur Kenntnis zu nehmen das wache Mental sich nicht die geringste Mühe machte. Wer ist dieser scheinbare Schläfer in dem, der wacht, dieser Wache im Schlafenden, im Vergleich zu dessen umfassender Aufmerksamkeit, dessen absolutem Gedächtnis, dessen vollkommener Beobachtungsgabe und Intelligenz unser waches Bewusstsein nur ein bruchstückhafter, vorüberfliegender Traum ist? Man beachte diesen äußerst wichtigen Umstand, dass nämlich dieses vollkommenere Bewusstsein in uns nicht das Ergebnis der Evolution sein kann. Nirgendwo in der evolvierten und wachen Welt gibt es solch ein Wesen, das sich automatisch die Klänge einer fremden Sprache merkt und sie wiederzugeben imstande ist – Klänge, die der geschulte Verstand als sinnloses Plappern überhört hat – und das spontan Probleme löst, vor welchen selbst der geschulte Verstand verwirrt und erschöpft kapituliert hat, das alles zur Kenntnis nimmt, alles versteht, sich an alles erinnert. Daher ist dieses innere Bewusstsein von der Evolution unabhängig, und folglich können wir annehmen, dass es der Evolution vorausging. Esa suptesu jagarti heißt es in der Katha Upanishad: „Das ist der Wachende in allen, die schlafen.“
Diese neue psychologische Forschung steckt noch in ihren Kinderschuhen und kann uns nicht sagen, wer oder was dieses verborgene Bewusstsein ist. Dahingegen versetzt uns das durch Yoga erlangte Wissen in die Lage, mit Bestimmtheit zu behaupten, dass es sich dabei um das vollkommene mentale Wesen in uns handelt, den „Führer unseres Lebens und unseres Körpers“, manomayah pranah-sarira-neta. Er ist es, der unsere Evolution lenkt, der aus dem Leben das Mental erweckt und dabei ist, mehr und mehr von diesem vitalisierten Körper – seinem Medium und Werkzeug – Besitz zu ergreifen, auf dass es werde, was es noch nicht ist, nämlich ein vollkommenes Werkzeug des Mentals. Auch im Stein und im Baum, auch in diesen Schläfern ist einer, der wacht. Allerdings hat er in diesen Formen noch nicht für die Zwecke des Mentals von seinen Werkzeugen Besitz ergriffen. Er kann sie nur für die Zwecke der Lebenskraft in ihrem Wachstum oder ihren aktuellen Funktionen benutzen.
Obwohl die moderne Psychologie sich noch der einzigen vernunftgemäßen und logischen Schlussfolgerung, die auf der Grundlage ihrer Daten möglich ist, verschließt, sehen wir doch, wie sie sich unausweichlich und unter dem bloßen Druck der Tatsachen genau auf die Wahrheiten hin bewegt, bei welchen vor Tausenden von Jahren die alten Rishis angelangt waren. Wie waren sie dazu gekommen? Nicht durch Spekulation, wie die Gelehrten sich zu Unrecht vorstellen, sondern durch Yoga. Das Haupthindernis, das der Wissenschaft bisher im Wege gestanden hat, ist ihre Unfähigkeit, in das Innere ihres Untersuchungsgegenstandes einzudringen. Hinzu kommt die ihr auferlegte Notwendigkeit, auf Folgerungen aus der objektiven Forschung aufzubauen. Alle ihre verzweifelten und rücksichtslosen Versuche, diese Unzulänglichkeit durch Vivisektion und andere grausame Experimente wettzumachen, können den Fehler nicht beheben. Yoga macht es uns möglich, ins Innere eines Gegenstandes einzudringen, indem er die künstlichen Barrieren der Körpererfahrung und des mentalen Ego-Sinnes im Beobachter auflöst. Er holt uns aus dem kleinen Lagerraum persönlicher Erfahrungen heraus und wirft uns in die großen universalen Strömungen. Er entfernt die Hülle unseres persönlichen Mentals und macht uns eins mit dem universalen Selbst und dem kosmischen Mental. Auf diese Weise waren die alten Rishis in der Lage zu sehen, was wir nun erneut undeutlich auszumachen beginnen, dass nämlich nicht nur die Natur selbst eine unendliche, zielgerichtete, unterscheidende und unpersönliche Kraft der Intelligenz oder des Bewusstseins ist, prajna prasrta purani2, sondern dass auch Gott als unendliche, universale Persönlichkeit – universal im Universum, individualisiert sowie universal in der einzelnen Form oder dem einzelnen Selbstbewusstsein – in und über der Natur wohnt, ihre gewaltigen und verwickelten Vorgänge beobachtet, sich daran erfreut und sie ihrem Ziel entgegenführt. Es gibt nicht nur Prakriti, es gibt auch den Purusha.
Soweit gelingt es uns also, eine Vorstellung von jener großen Kraft zu gewinnen, die unser Heraustreten aus unserer Natur und unser Eintreten in unsere Übernatur zuwege bringen wird. Es ist eine Macht des Bewussten Seins, die sich in Formen und Bewegungen kundtut und genauso, wie sie gelenkt wird, den uns vorbestimmten Fortschritt von einer Entwicklungsstufe zur nächsten sowie den Willen Gottes in der Welt verwirklicht.

1 Die Natur ist die Kraft des Bewusstseins im unendlichen Sein. Die Vorstellung von einer mechanischen Welt, in der Bewusstsein nur eine Ausnahmeerscheinung ist, ist eine aus unzureichenden Daten abgeleitete übereilte Folgerung.
2 Intelligentes Bewusstsein, welches zu Anbeginn hervortrat. (Shwetashwatara Upanishad)