Kapitel 8
Die Mutter und die Natur ihres Werkes
Es scheint, dass ich euch etwas über die Mutter erzählen soll, – ein bisschen aus ihrem Leben, ein bisschen über ihre Aktivitäten.
Nun, wie ihr alle wisst, hat die Mutter den ersten Teil ihres Lebens in Frankreich verbracht; sie wurde in Frankreich, in Paris geboren. Deshalb wurde sie natürlich oft darauf hingewiesen, dass sie Französin, Europäerin war. Dagegen hat sie aber immer protestiert und gesagt: „Ich bin keine Europäerin, ich bin keine Französin.“ Ihre Familie kam in der Tat aus Ägypten. Ihre Eltern, ihr Vater und ihre Mutter kamen gerade ein Jahr, bevor sie geboren wurde, nach Frankreich, nur ein Jahr vorher. Und in Ägypten, so scheint es, gehörte ihre Familie zu einer sehr alten ägyptischen Familie – vielleicht sogar zu einer königlichen Familie Ägyptens, den Pharaonen. Deshalb ist sie nicht europäischer oder französischer Abstammung, obschon sie erzogen wurde, als wäre es so. Genau genommen würde sie zum Mittleren Osten gehören, das heißt, dem Teil, der den Osten Europas und den Westen Asiens verbindet. Das bedeutet die Vereinigung von Europa und Asien, beide in Einklang gebracht, und es reflektiert den Charakter von Mutters Leben und dessen Bestimmung.
Wie ich sagte, verbrachte sie den ersten Teil ihres Lebens in Frankreich. Aber warum Frankreich? In dieser Wahl liegt ein Sinn. Wir kennen jetzt die Bedeutung, die fundamentale Bedeutung ihres Lebens, ihrer Mission und ihres Wirkens. Sie kam, um ein neues Licht zu bringen. Sie wollte eine neue Welt, nicht die alte Welt mit ihrer alten Kultur, sondern eine neue Welt, eine neue menschliche Spezies. Sie brachte das neue Licht mit sich, um den Menschen und die Welt neu zu schaffen und umzuformen. Was war das für eine Beziehung zwischen dem neuen Menschen und Frankreich? Um das neue Licht kommen und sich manifestieren zu lassen, muss man es zuerst in seinem Mental empfangen. Das bedeutet, dass man es als neues Licht sehen und erkennen und darum bitten muss. Und das Mental des Menschen ist dazu am besten geeignet. Ihr könnt euch an die Anfangszeile des Dhammapada erinnern, die den Inbegriff von Buddhas Lehre enthält: „Manopubbangama dhamma“: Das Mental ist die beste aller menschlichen Funktionen. Das Mental übertrifft alles, umfasst alles. Wenn nun das Licht herabkommt und einfließt, berührt es zuerst den Kopf, das heißt das Mental: Man sieht es und ist sich seiner bewusst. Frankreich repräsentiert heute am besten diesen mentalen Geist der Menschheit, das Erblühen ihrer Kultur und Zivilisation. Sie wurde dort geboren, damit der am weitesten entwickelte mentale Geist der Menschheit das Licht durch sie empfangen kann. Sie verbrachte ihr Leben dort in der Gesellschaft der Elite, den kultiviertesten Menschen ihrer Zeit, Wissenschaftlern, Künstlern, Dichtern, alle von höchstem und gebildetsten Format. Sie war dort, damit sie durch ihren Kontakt, ihre Gesellschaft das neue Licht in sie hineinbringen konnte. Mit diesem Ziel vor Augen trat sie einer Gesellschaft bei, eher einer Gruppe, die Le cosmique genannt wurde. „Kosmisch“ bedeutet: die ganze Welt. Mit anderen Worten: Was sie tat, was sie gab, war für die ganze Welt, für alle Menschen, für den Osten und den Westen, für jedermann. Es bedeutet auch: ein kosmisches oder weltumfassendes Bewusstsein. Sie schuf einen neuen Typus mentaler Welt, um durch die höchste mentale Entwicklung ein noch umfassenderes Mental zu erzielen – jenseits des individuellen egoistischen Mentals.
Wie ich gesagt hatte, dem Mental, dem Kopf fällt es am leichtesten, das neue Licht zu empfangen. Vielleicht erinnert ihr euch in diesem Zusammenhang an Sri Aurobindos Gedicht „Das Goldene Licht“: wie es von oben kommt und zuerst in den Kopf, das Gehirn einfließt. Es erleuchtet eure Gedanken, entwickelt euer Verstehen, weitet es, vertieft und schärft es. Aber Verstehen ist nicht genug, ihr müsst es lieben, nur dann ist es wirklich euer Eigen. So betritt das goldene Licht euer Herz. Dann setzt es sich weiter nach unten fort auf eine konkretere und aktivere Ausdrucksform hin; es dringt in den vitalen Bereich, wie wir ihn nennen, ein. Zuletzt strömt es in eure Füße. Das bedeutet, es ergreift eure körperlichen Glieder; es wird in eurem Körper konkret materiell und gegenwärtig, wie konsolidiert: Es gestaltet den schönen Körper. Die Mutter bringt auf diese Weise das Licht in den Kopf der Menschheit, in die höchste Ebene ihres Bewusstseins. Und dieses Werk der Initiation, dikshā, in das Göttliche Leben begann in Frankreich.
Von Frankreich aus ging sie für die nächste Stufe ihres Wirkens nach Japan. In Japan betrat sie den Fernen Osten. Sie verbrachte fünf Jahre, fünf lange Jahre in jenem Land. Japan ist das Land der Zen-Meditation, eines speziellen Weges, um in ein inneres Bewusstsein einzutreten, – kein rationales mentales Bewusstsein, sondern ein Blick nach innen in eine verborgene und sensitivere Region. Die Japaner zeigen als Nation tatsächlich eine sehr feinfühlige Vitalität, eine künstlerische Vitalität, die im Leben und in der Lebensart nach Ordnung und Harmonie strebt. Damit sich das goldene Licht in der physischen Welt manifestieren und wirken, sozusagen über einen Körper verfügen kann, ist eine Vitalität dieser Art notwendig, um es zu erlangen und zu halten. Die japanischen Ringer sind wohlbekannt für ihre vitale Stärke, ihre selbstbeherrschte Kraft. Gewöhnlich haben sie (fast alle von ihnen, ihr müsst es bemerkt haben, wenigstens auf den Bildern) einen dicken Bauch, und dieser ist nach ihrem Glauben der Speicher vitaler Kraft. Das bedeutet nicht, dass ich euch rate, einen dicken Wanst zu entwickeln, im Gegenteil. Aber sogar bei körperlichen Aktivitäten ist vitale Stärke nötiger als bloße physische Kraft.
Ja, die Japaner besitzen ein Vital, das stark, kontrolliert, geordnet und sensibel ist. Erinnert euch an ein oder zwei Gebete der Mutter in ihren „Gebeten und Meditationen“. Sie spricht von der Kirschblüte, die das Sinnbild des japanischen künstlerischen Empfindens ist, des Gefühls für Schönheit, für ein gereinigtes Sinnesempfinden: nicht ein raues, grobes und brutales (niederes) Vital, sondern ein feines, wohltuend inniges Gefühl und ein friedliches Glück. Das ist es, was die Kirschblüte symbolisiert. Die Mutter beschreibt auch eine ihrer Visionen, – es war ein schönes Bild, eine japanische Mutter und ihr Kind. Es war ein Bild des neuen Kindes, das in der Menschheit geboren wurde. Eine neue Welt ist so im Land der Kirschblüte eingeläutet worden, eine neue vitale Welt, für die ganze Welt.
Die Mutter ist schöpferisches Bewusstsein: Wo immer sie auch ist, wo immer sie herbeigerufen wird, setzt sie einen Schöpfungsprozess in Gang und erschafft eine neue Welt und, den Notwendigkeiten von Zeit und Ort entsprechend, eine neue Dimension von Sein und Bewusstsein. Es ist eine ganze Welt, die sie erschafft, und ihre Schöpfung dauert fort, denn sie ist eine weitere Errungenschaft in der menschlichen Evolution. Zu diesem Zweck braucht die ordentliche, starke und friedliche vitale Welt, von der wir gesprochen haben, einen fähigen Körper, um sie zu unterstützen und zu manifestieren. Das goldene Licht muss in die Füße herabkommen. Und dies war das Werk, das sie hier tat, und zu diesem Zweck hat sie den Ashram aufgebaut. Ihr alle wisst, dass sie besonderen Wert auf den Sportunterricht legte, um den Körper und die Sinne darauf vorzubereiten, das goldene Licht zu empfangen. Sie sagte immer, dass Körpererziehung uns die Basis für das neue Bewusstsein, das neue Licht gibt. Wir müssen einen starken Körper, einen schönen Körper haben, einen Körper, der ausdauernd ist: denn das neue Licht ist machtvoll, es ist nicht nur Licht, es ist Kraft. Man muss fähig sein, es zu ertragen und seine Forderungen zu erfüllen. Sie kam in der Tat hierher, um diesem Göttlichen Licht eine Gestalt, eine konkrete und physische Form, einen irdischen Körper zu geben.
Nun ist der schöne Körper nicht an sich ein Ziel und eine Erfüllung; um ihn zu erlangen, muss man ein schönes Vital haben. Nicht nur das: Für eine Erfüllung von Körper und Vital muss man ein schönes Mental haben. Die Körpererziehung, die die Mutter hier für uns arrangiert hat, soll uns auf den schönen Körper vorbereiten. Und die Schule, die sie errichtet hat, hat die Kultivierung des Mentals zum Ziel. Die Kultivierung des Mentals bedeutet aber nicht nur, ihn mit Informationen über vielerlei Dinge zu versorgen, das Bücherstudium. Es bedeutet auch die Reinigung und Klärung des Mentals, des mentalen Materials selbst, eine Hebung des Bewusstseins, damit es das Licht suchen und erkennen kann.
Ich habe gesagt, dass ihr das neue Licht zuerst durch den Kopf empfangen müsst, aber auch durch das Herz, und dann dynamisch durch eure vitale Energie. Ihr müsst nicht nur das Licht sehen und erkennen, sondern es auch hingebungsvoll lieben. Und hier kommt die zentrale Arbeit der Mutter, ihre besondere Gabe, ihre Gnade zu uns. Wenn ihr etwas liebt, liebt ihr, so sagt man, mit dem Herzen. Aber es gibt viele Arten von Liebe und ein Herz mitten im Herzen. Wirkliche Liebe, die Liebe, die göttlich ist, liegt in diesem inneren Herzen, welches eure Seele ist, das wahre Wesen oder die wahre Person in euch. Und die Seele, die sich zeigt, nach vorne kommt, wie wir sagen, ist die besondere Gnade der Mutter hier, ihr Geschenk an euch alle, an jeden von euch hier. Sie hat euch eure Seele gegeben. Ich habe oft gesagt, dass es hier unser aller besonderes Privileg ist, euer aller Privileg, dieses Wesen, dieses innere Wesen, diese vertraute Person in euch zu tragen, das Göttliche Kind, das ihr seid. Es ist dies, das eure göttliche Persönlichkeit aufbaut, es ist dies, das euch letzten Endes ein schönes Mental, ein schönes Vital und einen schönen Körper geben wird – alles, was ihr braucht, alles, was vollkommen und makellos in eurem Leben hier in dieser Welt ist.
Vielleicht erinnert ihr euch, viele von euch, an die berühmte Zeile in „Savitri“, ihr müsst sie aus Mutters eigenem Mund gehört haben:
Erbaut ist der goldene Turm, geboren ist das Flammen-Kind.
Sie hat diesen Turm neuen Lebens errichtet, und das Kind ist hier, das goldene Kind. Dieses goldene Kind ist jeder einzelne von euch. Ihr müsst es finden, es erkennen: Dies ist das Ziel eures Lebens, der Auftrag und die Erfüllung von allem, was ihr auf Erden tun und sein wollt. Einige von euch müssen die Gegenwart dieses Kindes in sich gespürt haben. Einige mögen es sogar als das Göttliche Kind in sich gesehen haben. Diese Dinge, – sie werden Erscheinungen genannt, – ereignen sich normalerweise in Träumen. Ich weiß wenigstens von einigen, die herkamen, die es gesehen und mir von ihrem wundersamen Erlebnis berichtet haben. Diese Möglichkeit besteht für alle, und wenn ihr es vielleicht seht, müsst ihr es erkennen, halten, es mit aller Liebe und Zuneigung festhalten. Die Mutter ist immer noch lebendig und aktiv unter uns, und ihre Gegenwart ist noch hier, sogar konkret, denn jeder von euch trägt das Göttliche Kind in sich.
Ich schließe mit einem Gebet, das ich vor einiger Zeit im Namen der kleinen Kinder unseres Playground an die Mutter gerichtet habe:
Süße Mutter, Deine Playground-Kinder sind Engel. Sie sind nicht himmlisch oder göttlich geworden, aber sie sind Engel, irdische Engel. Behalte sie immer in Deinem Blick, wiege sie in Deinem liebenden Bewusstsein.
Das war das Gebet, das ich euretwegen an die Mutter gerichtet habe, und ich bin sicher, Mutter hat „Ja“ geantwortet.
Veröffentlicht im November 1973
