Kapitel 7

Empfindsamkeit

Worte Sri Aurobindos

Es ist nicht notwendig, sich von der eigenen Empfindsamkeit zu heilen, sondern man muss die Macht erwerben, sich zu einem höheren Bewusstsein zu erheben, und dabei solche Ernüchterungen als eine Art Sprungbrett anzusehen. Ein Weg besteht darin, von anderen Menschen nicht einmal eine anständige Behandlung zu erwarten, ganz gleichgültig, wer die anderen sind. Und außerdem ist es gut, wenn man die wahre Natur einiger Menschen kennenlernt, der gegenüber ein großherziges Wesen oft blind ist; denn das trägt zum Wachsen des eigenen Bewusstseins bei. Der Schlag, unter dem du zusammenzuckst, erscheint dir deshalb so hart, weil es ein Schlag ist, den die Welt deiner mentalen Konstruktion erlitten hat. Solch eine Welt wird oft zu einem Teil unseres Wesens. Die Folge davon ist, dass ein Schlag, der ihm zugefügt wird, nahezu physischen Schmerz verursacht. Das wird weitgehend dadurch wieder ausgeglichen, dass es dich mehr und mehr in der wirklichen Welt leben lässt, die von der Welt deiner Einbildung verschieden ist, von der du wünscht, dass es die wirkliche Welt sei. Aber die wirkliche Welt ist, wie du weißt, keineswegs eine wünschenswerte Welt, und daher muss das Göttliche Bewusstsein auf sie einwirken und sie umwandeln. Doch hierfür ist die Kenntnis der Wirklichkeit, so widerwärtig sie auch ist, beinahe das erste Erfordernis. Diese Kenntnis wird uns oft genug durch Schläge und Wunden beigebracht. Aufrichtige, idealistische Menschen, empfindsame Menschen, verfeinerte Naturen leiden unter solchen Ernüchterungen mehr als andere, die etwas dickfelliger sind; das aber ist kein Grund, warum feine Gefühle verurteilt und die scharfe Schneide verfeinerter Empfindlichkeit stumpf gemacht werden sollten. Was man zu lernen hat, ist, sich von solchen Erfahrungen zu distanzieren und die Verirrungen anderer von einer größeren Höhe aus zu betrachten, von wo aus man solche Dinge in der richtigen Perspektive sehen kann – der unpersönlichen. Dann werden unsere Schwierigkeiten tatsächlich und buchstäblich zu Möglichkeiten. Denn Erkenntnis, wenn sie bis an die Wurzeln unseres Kummers reicht, birgt in sich gleichsam eine wunderbare Heilkraft. Sobald du das Mark des Kummers berührst, sobald du, tiefer und tiefer tauchend, das erreichst, was dich wirklich schmerzt, verschwindet der Schmerz wie durch ein Wunder.

Worte Sri Aurobindos

Gleichmut bedeutet noch etwas anderes – eine gleichmütige Ansicht von den Menschen und ihrer Natur zu haben sowie von den Taten und Kräften, die sie bewegen; es gelingt einem eher, die Wahrheit über sie zu erkennen, wenn man aus der Betrachtungsweise und dem Urteil des Mentals alle persönlichen Gefühle und sogar alle mentalen Vorurteile entfernt. Persönliche Gefühle verzerren immer und lassen einem in den Taten der Menschen nicht nur diese Taten selbst sehen, sondern auch Dinge dahinter, die meist gar nicht vorhanden sind. Missverständnisse und Fehlurteile, die man hätte vermeiden können, sind das Ergebnis, und Geschehnisse von geringfügiger Bedeutung zeitigen große Auswirkungen. Ich habe beobachtet, dass mehr als die Hälfte solcher widrigen Ereignisse im Leben darin ihre Ursache haben. Im gewöhnlichen Leben jedoch sind das persönliche Gefühl und die Empfindlichkeit feste Teile der menschlichen Natur und mögen dort als eine Art Selbstverteidigung ihren Zweck erfüllen – obwohl vermutlich auch dort eine kraftvolle, weite und gleichmütige Haltung den Menschen und Dingen gegenüber eine wesentlich bessere Art der Verteidigung wäre.

Worte Sri Aurobindos

Deine Überraschung über X‘ s Benehmen zeigt, dass du noch nicht erkannt hast, von welcher Art im Durchschnitt die menschliche Natur ist. Hast du niemals von der Antwort Vidyasagars gehört, der, als man ihm berichtete, dass ein bestimmter Mensch ihn beschimpfen würde, sagte: „Warum beschimpft er mich? Ich habe ihm niemals etwas Gutes getan (upakara).“ Das ungeläuterte Vital ist für eine Wohltat nicht dankbar, es stößt sich daran, eine Verpflichtung auferlegt zu bekommen. Solange die Wohltat andauert, ist es überschwänglich und sagt süße Dinge, aber sobald es nichts weiter mehr erwarten kann, ändert es seinen Sinn und beißt die Hand, die ihm Gutes tat. Manchmal tut es das sogar schon vorher, wenn es glaubt, dass dem Wohltäter der Ursprung der üblen Nachrede, der Kritik oder Schmähung nicht bekannt sei. In all deinen Beziehungen ist nichts Ungewöhnliches, nichts, das, wie du glaubst, nur dir eigentümlich sei. Die meisten haben diese Art von Erfahrung, und nur wenige können ihr völlig entrinnen. Natürlich, Menschen mit einem entwickelten seelischen Element sind von Natur aus dankbar und benehmen sich nicht auf diese Weise.

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