Kapitel 7

Des Schattens bewusst werden

Worte der Mutter

Beobachtest du dich aufmerksam, so siehst du, dass man in sich stets das Gegenteil der Tugend trägt, die man verwirklichen muss (ich verwende „Tugend“ in der weitesten und höchsten Bedeutung). Du hast ein besonderes Ziel, eine besondere Sendung, eine besondere Verwirklichung, jeder Einzelne etwas ihm Eigenes, und du trägst in dir alle Hindernisse, die nötig sind, damit die Verwirklichung vollkommen sei. Immer wirst du feststellen, dass in dir Schatten und Licht zusammengehören: Hast du eine Fähigkeit, so hast du auch ihre Verneinung. Und wenn du ein ganz schwarzes Loch entdeckst, einen finsteren Schatten, dann darfst du sicher sein, dass da ein großes Licht ist. An dir liegt es, das eine zu nutzen, um das andere zu verwirklichen.

Das ist eine Tatsache, von der wenig gesprochen wird, die aber von grundlegender Bedeutung ist. Und bist du aufmerksamer Beobachter, so siehst du, dass es sich stets bei allem so verhält. Das führt uns zu paradoxen, aber völlig wahren Aussagen, zum Beispiel: dass der schlimmste Dieb der ehrlichste Mensch sein kann (damit will ich dich natürlich nicht zum Stehlen ermutigen!), und der schlimmste Lügner kann einer sein, der zum Wahrhaftigsten wird. Verzweifelt also nicht, wenn du in dir die größte Schwäche findest, denn dies mag das Zeichen der größten göttlichen Stärke sein. Sage nicht: „So bin ich, und anders kann ich nicht sein.“ Das ist nicht wahr. Du bist „so“, gerade weil du das Gegenteil sein musst. Und all deine Schwierigkeiten sind eben dazu da, dass du lernst, sie in die Wahrheit umzuwandeln, die sie verbergen.

Sobald man das einmal begriffen hat, verlassen einen viele Sorgen; und man wird sehr, sehr froh. Erkennt man, dass finstere Löcher in einem sind, so sagt man sich: „Das beweist, dass ich sehr hoch steigen kann“, ist der Abgrund tief: „Ich kann sehr hoch steigen.“ Ebenso vom allheitlichen Gesichtspunkt aus; um es in der Hindu-Terminologie zu sagen, mit der du vertraut bist: Gerade die größten Asuras sind die größten Lichtwesen. Und an dem Tag, wo diese Asuras sich bekehren, werden sie die höchsten Wesen der Schöpfung sein. Dies soll dich aber nicht ermutigen „asurisch“ zu sein, aber so ist es – das mag dein Gehirn etwas weiten und dich von den Vorstellungen von Gut und Böse, die sich entgegenstehen, befreien helfen; denn solange du in jener Kategorie steckst, besteht keine Hoffnung.

Worte der Mutter

Man kann sehen, wenn man sich selbst sehr aufmerksam studiert … zum Beispiel, wenn du dich selbst beobachtest, stellst du fest, dass du an einem Tag sehr großzügig bist … großzügig in deinen Gefühlen, großzügig in deinem Empfinden, großzügig in deinem Denken und sogar in materiellen Dingen; das heißt, du verstehst die Fehler der anderen, ihre Absichten, Schwächen, sogar hässliche Regungen. Du siehst das alles und bist erfüllt von guten Gefühlen, von Großzügigkeit. Du sagst dir selbst: „Nun … jeder tut sein Bestes!“ – in dieser Art.

An einem anderen Tag – oder vielleicht schon in der nächsten Minute – wirst du in dir selbst eine Art Dürre, Starrheit bemerken, etwas das bitter ist, streng urteilt, das soweit geht, Groll zu haben, Hass, den Übeltäter bestraft haben möchte, etwas das beinahe Rachegefühle hat; gerade das genaue Gegenteil der früheren Haltung! Den einen Tag verletzt dich jemand und du sagst: „Das macht nichts! Er wusste es nicht.“ … oder: „Er konnte nicht anders.“ … oder: „Das ist seine Natur.“ … oder: „Er konnte es nicht verstehen!“ Am nächsten Tag – oder vielleicht eine Stunde später – sagst du: „Er muss bestraft werden! Dafür muss er zahlen! Ihm muss klar gemacht werden, dass er falsch gehandelt hat!“ – in einer Art Wut; und du möchtest Dinge nehmen, du möchtest sie für dich selbst behalten, du hast all die Gefühle von Eifersucht, Neid, Enge, gerade das genaue Gegenteil des anderen Gefühls.

Das ist die dunkle Seite. Und so, in dem Moment, in dem man sie sieht, wenn man sie betrachtet und nicht sagt: „Das bin ich“, wenn man sagt: „Nein, das ist mein Schatten, es ist das Wesen, das ich aus mir hinauswerfen muss“, legt man das Licht des anderen Teils darauf, versucht man sie einander gegenüber zu stellen; und mit dem Wissen und dem Licht des anderen versucht man es nicht so sehr zu überzeugen – denn das ist sehr schwierig –, sondern man zwingt es, ruhig zu bleiben … zuerst abseits zu stehen, dann wirft man es sehr weit weg, so dass es nicht mehr zurückkehren kann –, indem man ein großes Licht darauf legt. Es gibt Gelegenheiten, in denen eine Wandlung möglich ist, aber das ist sehr selten. Es gibt Gelegenheiten, in denen man auf dieses Wesen – oder diesen Schatten – ein so intensives Licht legen kann, dass es gewandelt wird, und es verwandelt sich in das, was die Wahrheit deines Wesens ist.

Aber das ist eine seltene Sache … Es kann getan werden, aber es ist selten. Gewöhnlich ist es das Beste zu sagen: „Nein, das bin ich nicht! Ich will es nicht! Ich habe mit dieser Regung nichts zu tun, es existiert für mich nicht, es ist etwas Gegensätzliches zu meiner Natur!“ Und so, indem man darauf besteht und es beiseite schiebt, trennt man sich schließlich davon.

Aber man muss zuerst klar und aufrichtig genug sein, um zu sehen, dass der Konflikt in einem selbst ist. Für gewöhnlich schenkt man diesen Dingen keine Aufmerksamkeit. Man wechselt von einem Extrem zum anderen. Ganz einfach ausgedrückt kannst du sagen: an einem Tag bin ich gut, am nächsten Tag bin ich schlecht. Und das erscheint ganz natürlich … Oder du bist manchmal sogar für eine Stunde gut und in der nächsten Stunde bist du böse; oder manchmal bist du während des ganzen Tages gut und wirst plötzlich böse, für eine Minute sehr boshaft, viel schlechter als man gut war! Nur merkt man es nicht. Gedanken gehen einem durch den Kopf, gewalttätige, schlechte, hasserfüllte Dinge, gerade so … Gewöhnlich schenkt man dem keine Aufmerksamkeit. Aber das ist es, was geschnappt werden muss! Sobald es sich zeigt, musst du es so schnappen, (die Mutter macht eine Bewegung), mit ganz festem Griff, und dann halte es, halte es zum Licht und sage: „Nein! Ich will dich nicht! Ich – will – dich – nicht! Ich habe nichts damit zu tun! Du verschwindest jetzt hier und kommst nicht mehr zurück!“

(Nach einem Schweigen) Und das ist etwas – eine Erfahrung, die man jeden Tag haben kann, oder beinahe … Wenn man jene Bewegungen großer Begeisterung, großer Aspiration hat, wenn man plötzlich des göttlichen Ziels bewusst wird, des Drangs zum Göttlichen, des Wunsches, am göttlichen Werk teilzunehmen, wenn man aus sich selbst mit großer Freude und großer Kraft herauskommt … und dann, einige Stunden später fühlt man sich wegen einer Winzigkeit elend; man gibt einem so geringfügigen, engen, alltäglichen Eigennutz nach, hat solch einen dummen Wunsch … und all das andere hat sich verflüchtigt, als ob es nicht existiert hätte. Man ist an Widersprüche völlig gewöhnt; man schenkt dem keine Aufmerksamkeit und das ist der Grund, warum all diese Dinge ganz gemütlich als Nachbarn nebeneinander bestehen. Man muss sie erst entdecken und sie davor bewahren, dass sie sich ins Bewusstsein mischen: entscheide zwischen ihnen, trenne den Schatten vom Licht. Später kann man den Schatten loswerden.

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