Kapitel 6

Zukunftsmensch

Worte der Mutter

Als Erstes müssen wir darauf achten, dass wir bei unserem Versuch, uns den Zukunftsmenschen vorzustellen, nicht beginnen, einen existierenden Menschentypus zu perfektionieren oder zu übersteigern. Um diesem Fehler so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, sollten wir sehen, was uns die Evolution des Lebens lehrt.

Wir haben bereits gesehen, dass sich das Erscheinen einer neuen Lebensform auf der Erde immer mit der Manifestation eines neuen Prinzips, einer neuen Bewusstseinsebene, einer neuen Kraft oder Macht ankündigt. Aber während die neue Lebensform diese bislang nicht manifestierte Kraft oder dieses Bewusstsein erlangt, mag sie gleichzeitig eine oder viele der Vollkommenheiten verlieren, welche bezeichnend für die unmittelbare Vorgängerstufe waren. Was war, um nur von der letzten Stufe der Entwicklung der Natur zu sprechen, beispielsweise der größte Unterschied zwischen dem Menschen und seinem unmittelbaren Vorgänger, dem Affen? Im Affen sehen wir, wie Vitalität und physisches Vermögen die höchste Vollkommenheit erreichen, eine Vollkommenheit, die die neue Lebensform aufgeben musste. Für den Menschen gab es nicht mehr dies wundervolle Bäumeklettern, die Purzelbäume über Abgründe, die Sprünge von Gipfel zu Gipfel, aber im Austausch dafür erlangte er Intelligenz, die Kraft des Verstandes, des Kombinierens, des Konstruierens. Ja, mit dem Menschen ist das geistige Leben, das intellektuelle Leben auf der Erde aufgetaucht. Der Mensch ist im Wesentlichen ein mentales Wesen; und wenn seine Möglichkeiten damit nicht erschöpft sind, wenn er in sich andere Welten spürt, andere Fähigkeiten, andere Bewusstseinsebenen jenseits seines mentalen Lebens, so sind sie nur als Versprechungen für die Zukunft da, ebenso wie die mentalen Möglichkeiten im Affen latent vorhanden sind…

Im Augenblick beherrscht der Mensch sein Leben durch die Vernunft. Alle mentalen Aktivitäten sind ihm Allgemeingut, Beobachtung und Ableitung sind seine Mittel, Wissen zu erlangen. Durch vernünftige Schlussfolgerungen und mit ihrer Hilfe gelangt er zu seinen Entscheidungen und wählt seinen Lebensweg – oder meint zumindest, dass er das tut.

Die neue Menschenart wird durch Intuition geführt, das heißt durch unmittelbare Wahrnehmung des inneren göttlichen Gesetzes. Einige Menschenwesen kennen und erfahren bereits Intuition – ebenso wie zweifellos einige Gorillas im Dschungel einen Verstandesschimmer erhaschen.

Unter den Menschen verfügen diejenigen, die ihr inneres Selbst entwickelt haben, die ihre Energien auf die Entdeckung des wahren Gesetzes ihres Wesens konzentriert haben, mehr oder weniger über die Fähigkeit der Intuition. Wenn das Mental völlig still ist, klar wie ein gut polierter Spiegel, regungslos wie ein Teich an einem windstillen Tag, dann kann von oben – so wie das Licht der Sterne in das bewegungslose Wasser fällt – das Licht des Supramentals, der inneren Wahrheit, in dem befriedeten Mental leuchten und der Intuition zur Geburt verhelfen. Diejenigen, die es gewohnt sind, auf diese Stimme aus der Stille zu hören, machen sie mehr und mehr zum Auslöser ihrer Aktionen, und wo andere, die Durchschnittsmenschen, den verwickelten Wegen des Verstandes folgen, schreiten sie geradeaus, von der Intuition, diesem überlegenen Instinkt, wie an einer starken, sicheren Hand durch die Weiten des Lebens geführt.

Diese Eigenschaft, die jetzt noch außergewöhnlich, beinahe abnormal ist, wird für die neue Menschenart, für den Zukunftsmenschen, mit Sicherheit normal und natürlich sein. Aber wahrscheinlich wird die beständige Anwendung der Intuition im Gegensatz zur Verstandesaktivität stehen. Ebenso wie der Mensch nicht mehr die außerordentlichen physischen Fähigkeiten des Affen besitzt, wird auch der Zukunftsmensch die extreme mentale Fähigkeit des Menschen verlieren, diese Fähigkeit, sich und andere zu betrügen.

Deshalb wird für den Menschen die Straße zum Zukunftsmenschen offenstehen, wenn er kühn erklärt, dass alles, was er bisher entwickelt hat, einschließlich des Intellekts, auf den er mit so viel Recht und dennoch so vergeblich stolz ist, ihm jetzt nicht mehr genügt und dass von jetzt an die Freisetzung, die Entdeckung, das Erblühen dieser größeren Kraft im Innern sein großes Ziel ist. Dann werden seine Philosophie, seine Kunst, seine Wissenschaft, seine Ethik, sein soziales Dasein, seine vitalen Bestrebungen nicht länger selbstgenügsame Übungen des Geistes und des Lebens sein, ein Kreislauf, sondern Mittel, eine größere Wahrheit hinter dem Mental und Leben zu entdecken und die Kraft dieser Wahrheit in unser menschliches Dasein zu bringen. Und diese Entdeckung ist die Entdeckung unseres wirklichen Selbst und unserer wahren Natur, weil es das höchste Selbst ist.

Aber dieses Selbst, das wir noch nicht erlangt haben, das wir aber werden sollen, ist nicht der starke vitale Wille, den Nietzsche besang, sondern ein spirituelles Selbst und eine spirituelle Natur. Denn sobald wir vom Zukunftsmenschen sprechen, müssen wir darauf achten, dass jegliche Verwechslung mit der starken, aber so oberflächlichen und unvollständigen Konzeption des Übermenschen, wie sie Nietzsche geprägt hat, vermieden wird.

Seitdem Nietzsche das Wort Übermensch geprägt hat, ruft es bei jenem, der das Wort benutzt, um von der zukünftigen Menschenart zu sprechen, willkürlich oder unwillkürlich Nietzsches Vorstellung hervor. Sicherlich ist seine Idee, den Übermenschen aus dem gegenwärtigen, sehr unbefriedigenden Menschentum herauszuentwickeln, an sich schon eine absolut gute Idee. Sicherlich ist seine Formulierung unseres Ziels, „wir selbst zu werden“ – was bedeutet, dass der Mensch noch nicht sein ganzes wahres Selbst gefunden hat, seine wahre Natur, mit der er erfolgreich und spontan leben kann – nicht zu verbessern. Dennoch hat Nietzsche jenen Fehler gemacht, von dem wir sagten, dass wir ihn unbedingt vermeiden sollten: Sein Übermensch ist nur ein Mensch, der nur vermehrt und vergrößert ist, in dem die Kraft äußerst vorherrschend geworden ist und unter ihrem Gewicht alle anderen Attribute des Menschen zerquetscht. Das kann nicht unser Ideal sein. Wir sehen derzeit zu gut, wohin die ausschließliche Verehrung der Kraft führt – zu den Verbrechen der Starken und dem Untergang der Kontinente.

Nein, der Weg zum Zukunftsmenschen ist in der Entfaltung des ewig vollkommenen Geistes begründet. Alles würde sich ändern, alles würde einfach werden, könnte der Mensch seiner Spiritualisierung zustimmen. Die höhere Vollkommenheit des spirituellen Lebens wird kommen, wenn der spiritualisierte Mensch spontan der Wahrheit seiner eigenen Selbstverwirklichung gehorcht, wenn er „Er Selbst“ geworden ist, wenn er seine wahre Natur gefunden hat. Aber diese Spontaneität wird nicht so wie im Tier instinktiv und unterbewusst sein, sondern intuitiv und vollständig und allumfassend bewusst.

Deshalb werden jene Einzelnen am meisten für die Zukunft der Menschheit des neuen Zeitalters tun, die eine spirituelle Entwicklung als das Ziel und deshalb als die große Notwendigkeit für den Menschen ansehen, eine Evolution oder Veränderung des gegenwärtigen Menschentypus in einen spiritualisierten Menschen, ebenso wie der tierhafte Mensch weitgehend in eine hochgradig mentalisierte Menschheit weiterentwickelt wurde.

Sie werden sich gegenüber bestimmten Glaubenshaltungen und Religionsformen vergleichsweise indifferent verhalten und es den Menschen überlassen, sich den Glaubenshaltungen und äußeren Formen zuzuwenden, von denen sie sich natürlich angezogen fühlen. Sie werden als wesentlich lediglich die spirituelle Veränderung ansehen. Vor allem werden sie nicht den Fehler begehen zu meinen, dass dieser Wandel durch mechanische Mittel und äußere Institutionen bewerkstelligt werden kann. Sie werden wissen und niemals vergessen, dass er durch jeden Menschen innerlich ausgelebt werden muss, weil er sonst nie zu einer Realität wird.

So wie religiöse Glaubensformen und Kulte sekundär werden, so verlieren auch die ethischen Vorgaben oder Vorschriften, Verhaltensregeln oder Konventionen ihre Bedeutung.

Im menschlichen Leben, wie es ist, konzentriert sich das ganze moralische Problem auf den Konflikt zwischen dem vitalen Willen und seinen Impulsen und der mentalen Kraft mit ihren Vorschriften. Wird der vitale Wille der mentalen Kraft untergeordnet, wird das Leben des Individuums oder der Gesellschaft moralisch. Aber nur wenn sich beide, vitaler Wille und mentale Kraft, gleichermaßen etwas Größerem unterordnen, dem Supramental, geht man über das menschliche Leben hinaus, beginnt man das wahre spirituelle Leben, das Leben des Zukunftsmenschen, denn sein Lebensgesetz wird von innen kommen, es wird das göttliche Gesetz sein, das im Mittelpunkt jedes Lebewesens leuchtet und das Leben von da aus beherrscht, das göttliche Gesetz, vielfältig in seinen Ausdrucksweisen, aber eins im Ursprung. Und wegen seines Geeintseins ist dieses Gesetz das Gesetz erhabenster Ordnung und Harmonie.

Worte Sri Aurobindos

O Sohn der Unsterblichkeit, lebe nicht gemäß der Natur, sondern gemäß Gott; und zwinge sie, auch gemäß der Gottheit in dir zu leben.