Kapitel 6
Das Unerkennbare in vedantischer und agnostischer Sicht
Ich glaube nicht, dass man jemanden überzeugen kann, der den genau gegenteiligen Standpunkt des spirituellen vertritt, der die Dinge mit den Augen eines viktorianischen Agnostikers betrachtet. Sein Zweifel bezüglich des Wertes der Yogaerfahrung – außer einem subjektiven und rein individuellen Wert – beruht darauf, dass diese nicht auf wissenschaftliche Wahrheit abziele und nicht in Anspruch nehmen könne, die höchste Wahrheit zu erreichen, da die Erfahrungen von der Individualität des Erfahrenden gefärbt seien. Man könnte natürlich fragen, ob die Wissenschaft selbst bei irgendeiner höchsten Wahrheit angelangt sei; im Gegenteil, es scheint vielmehr, dass die höchste Wahrheit, selbst auf der physischen Ebene, sich in dem Maße zurückziehe, in dem die Wissenschaft fortschreitet. Die Wissenschaft geht von der Annahme aus, die höchste Wahrheit habe physisch und objektiv zu sein und das objektive Höchste (oder sogar noch etwas weniger als das) würde alle subjektiven Phänomene erklären. Der Yoga geht vom gegenteiligen Standpunkt aus, nämlich dass die höchste Wahrheit spirituell und subjektiv sei und dass wir in diesem höchsten Licht die objektiven Erscheinungen zu betrachten haben. Es sind zwei einander entgegengesetzte Pole und die Kluft ist so weit wie sie nur irgend sein kann.
Yoga kann insofern als wissenschaftlich bezeichnet werden, als er vom subjektiven Experiment ausgeht und alles, was er findet, auf der Erfahrung gründet; mentale Intuitionen werden nur als erster Schritt anerkannt und nicht als Verwirklichung betrachtet – sie müssen bestätigt werden, indem man sie auf eine Erfahrung überträgt und durch diese rechtfertigt. Was den Wert der Erfahrung als solche anbelangt, so wird dieser vom physischen Mental bezweifelt, da es sich um etwas Subjektives und nicht um etwas Objektives handelt. Doch hat diese Unterscheidung wirklich große Bedeutung? Ist nicht alles Wissen, alle Erfahrung in ihrem Grunde gleich subjektiv? Die objektiven äußeren und physischen Dinge werden vom Menschen in genau der gleichen Weise gesehen, da sein Mental und seine Sinne entsprechend aufgebaut sind; wären Mental und Sinne anders aufgebaut, dann würde die Erklärung der physischen Welt völlig anders ausfallen – die Wissenschaft selbst betont dies nachdrücklich. Doch der Standpunkt deines Freundes ist, dass Yogaerfahrung etwas Individuelles sei, gefärbt von der Individualität dessen, der sie hat. Dies trifft in gewissem Umfang für die genaue Form oder die Darstellung der Erfahrung in bestimmten Bereichen zu, doch selbst hier besteht ein Unterschied nur oberflächlich. Es ist eine Tatsache, dass yogische Erfahrung überall in gleichen Bahnen verläuft. Natürlich gibt es nicht nur eine, sondern viele dieser Bahnen; denn schließlich haben wir es mit einem vielseitigen Unendlichen zu tun, zu dem es viele Wege der Annäherung gibt und geben muss; doch die großen Richtlinien sind überall die gleichen und die Intuitionen, die Erfahrungen und Phänomene sind dieselben in weit auseinanderliegenden Zeiten und Ländern und in Glaubenssystemen, die völlig unabhängig voneinander praktiziert wurden. Die Erfahrungen des mittelalterlichen europäischen Bhakta oder Mystikers sind in ihrem Gehalt genau die gleichen – sie mögen sich unterscheiden, was die Namen, Formen, die religiöse Färbung anbelangt – wie jene des mittelalterlichen indischen Bhakta oder Mystikers; und dennoch standen diese Menschen nicht miteinander in Verbindung oder kannten ihre jeweiligen Erfahrungen und Ergebnisse wie heutzutage die modernen Wissenschaftler von New York bis Yokohama.
Dies scheint doch zu beweisen, dass etwas Gleiches, Universales und vermutlich Wahres in ihnen enthalten ist, wie sehr sich auch die Nuancen der Übertragung aufgrund der Verschiedenheit einer mentalen Sprache unterscheiden mögen.
Was nun die höchste Wahrheit anbelangt, so würden vermutlich der viktorianische Agnostiker und der – nennen wir ihn – indische Vedantin darin übereinstimmen, dass sie zwar verhüllt, jedoch vorhanden sei. Beide bezeichnen sie als das Unerkennbare; der einzige Unterschied besteht darin, dass der Vedantin sagt, sie sei durch das Mental nicht erkennbar und durch die Rede nicht ausdrückbar, aber dennoch durch etwas Tieferes oder Höheres als mentale Wahrnehmung erreichbar; und sogar das Mental vermag die tausend Aspekte, die sie der äußeren und inneren mentalen Erfahrung darbietet, widerzuspiegeln und die Rede vermag sie auszudrücken. Der viktorianische Agnostiker würde vermutlich dieser Formulierung nicht zustimmen; er würde für das zweifelhafte Vorhandensein und, wenn überhaupt vorhanden, für die absolute Unerkennbarkeit dieses Unerkennbaren stimmen.
10. Oktober 1932