Kapitel 5
Parabrahman, Mukti und menschliche Denksysteme
Parabrahman ist das Absolute, und weil Es das Absolute ist, kann Es nicht auf Begriffe der Erkenntnis reduziert werden. Du kannst zu einer gewissen Kenntnis über das Unendliche gelangen, aber nicht über das Absolute.
Alle seienden oder nicht seienden Dinge sind im Selbst-Bewusstsein (Chid-Atman) erschaffene Symbole des Absoluten. An Seinen Symbolen ist es möglich, das Absolute zu erkennen, soweit die Symbole Es offenbaren oder andeuten, aber selbst die Erkenntnis der Gesamtsumme aller Symbole ergibt nicht die wahre Erkenntnis des Absoluten. Du kannst zu Parabrahman werden; du kannst Parabrahman nicht erkennen. Parabrahman zu werden bedeutet, durch das Selbst-Bewusstsein hindurch in Parabrahman zurückzukehren. Das bist du nämlich bereits, nur hast du dich im Selbst-Bewusstsein vorwärts in Seine Bedingungen oder Symbole projiziert, in Purusha und Prakriti, durch welche du das Weltall aufrechterhältst. Um Parabrahman bar aller Bedingungen und Symbole zu werden, musst du deshalb aufhören im Weltall zu existieren.
Indem du zum Seiner Symbole entledigten Parabrahman wirst, wirst du weder etwas, was du nicht schon bist, noch stellt das Weltall seinen Betrieb ein. Es bedeutet lediglich, dass Gott aus dem Meer des manifest gewordenen Bewusstseins eine Strömung oder Bewegung Seiner Selbst zurückholt in Das, woraus alles Bewusstsein hervorging.
Nicht alle, die aus dem Bewusstsein des Universums ausscheiden, gehen zwangsläufig in Parabrahman ein. Einige treten in die undifferenzierte Natur (Avyakrita Prakriti) ein, einige verlieren sich in Gott, einige geraten in einen dunklen Zustand, in dem sie des Universums nicht gewahr sind (Asat, Shunya), einige in einen ebensolchen leuchtenden Zustand (Reiner Undifferenzierter Atman, Reines Sat oder Seinsgrundlage des Universums), einige in einen zeitweiligen Zustand des Tiefschlafs (Sushupti) in den unpersönlichen Prinzipien Ananda, Chit oder Sat. Jede dieser Möglichkeiten ist eine Form der Befreiung, und das Ego erhält von Gott durch Seine Maya oder Prakriti den Anstoß zu derjenigen, zu welcher der höchste Purusha es zu lenken beabsichtigt. Diejenigen, die Er zu befreien und doch in der Welt zu halten wünscht, macht Er zu Jivanmuktas, oder Er sendet sie erneut aus als Seine Vibhutis; diese willigen ihrerseits darein ein, für die göttlichen Zwecke einen zeitweiligen Schleier von Avidya anzulegen, der sie nicht im mindesten bindet, und den sie ganz leicht zerreißen oder wieder ablegen können. Sich danach zu sehnen, Parabrahman zu werden, ist deshalb eine Art leuchtender Illusion, ein sattwisches Spiel der Maya; denn in Wirklichkeit ist niemand gebunden und niemand frei und niemand hat es nötig, befreit zu werden. Alles ist Gottes Lila, alles ist das Manifestationsspiel Parabrahmans. Gott benutzt diese sattwische Maya in bestimmten Egos, um sie emporzuziehen in Übereinstimmung mit Seinem speziellen Vorhaben, und für diese Egos ist es der einzig richtige und gangbare Weg.
Doch das Ziel unseres Yoga ist Jivanmukti im Universum. Nicht weil wir es nötig hätten, befreit zu werden, oder aus irgendeinem anderen Bedürfnis, sondern einzig weil es Gottes Wille in uns ist, haben wir frei in der Welt und nicht aus der Welt befreit zu leben.
Um vollkommene Erkenntnis und Selbsterfüllung zu erlangen, muss der Jivanmukta an der Schwelle des Parabrahman stehen, darf sie aber nicht überschreiten.
Der Bericht, den er von dort zurückbringt, besagt: Jenes ist und wir sind Jenes, was aber Jenes ist oder nicht ist, kann weder durch Worte beschrieben noch vom Mental ausgemacht werden.
Parabrahman ist das Absolute und lässt sich daher durch keinerlei Namen oder klar umrissene Vorstellung beschreiben. Es ist weder Sein noch Nichtsein, sondern etwas, von dem Sein und Nichtsein erste Symbole sind. Es ist weder Atman noch Unatman noch Maya, weder Persönlichkeit noch Unpersönlichkeit, weder essentielle Eigenschaft noch Freiheit von Eigenschaften, weder Bewusstsein noch ein Nichtvorhandensein von Bewusstsein, weder Seligkeit noch eine Abwesenheit von Seligkeit, weder Purusha noch Prakriti, weder Gott noch Mensch noch Tier, weder Befreiung noch Gefangenschaft, sondern es ist etwas, wovon dies alles ursprüngliche oder abgeleitete, allgemeine oder besondere Symbole sind. Wenn wir sagen, Parabrahman sei nicht dieses und nicht jenes, meinen wir jedoch, dass Es in Seiner Wesenhaftigkeit nicht auf dieses oder jenes Symbol oder jedwede Summe von Symbolen beschränkt werden kann; in gewissem Sinne ist Parabrahman dies alles und all dieses ist Parabrahman. Es gibt sonst nichts, was all dies sein könnte.
Parabrahman ist das Absolute und ist daher der Logik nicht unterworfen, denn Logik gilt nur für das Bestimmte. Wir reden ungereimtes Zeug, wenn wir behaupten, das Absolute könne das Bestimmte nicht manifestieren und deshalb sei die Welt eine Lüge oder existiere nicht. Die Natur des Absoluten ist es ja gerade, dass wir nicht wissen, was es ist oder nicht ist, was es vermag oder nicht vermag. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass es irgend etwas nicht vermag, oder dass seine Absolutheit durch irgendeine Art von Unvermögen eingeschränkt ist. Wir erfahren spirituell, dass wir zu etwas Absolutem gelangen, wenn wir über alles andere hinausgehen. Wir erfahren spirituell, dass das Weltall die Natur einer gleichsam aus dem Absoluten hervorgehenden Manifestation hat. Doch alle diese Worte und Ausdrucksweisen sind rein intellektuelle Versuche, das Unausdrückbare auszudrücken. Wir müssen das von uns Erfahrene so gut wir können zum Ausdruck bringen, brauchen aber nicht darüber zu diskutieren, was andere erfahren oder ausgesagt haben. Vielmehr müssen wir das von ihnen Erfahrene und Dargelegte gelten lassen und in unser eigenes System miteinbeziehen. Wir liegen nur mit jenen im Streit, die der Einsicht anderer keinen Glauben schenken, den Wert ihrer Aussagen in Abrede stellen oder ihnen das Wort verwehren, nicht aber mit jenen, die sich damit begnügen, ihre eigenen Einsichten darzulegen. Ein philosophisches oder religiöses System ist nur eine Formulierung derjenigen Ordnung des kosmischen Seins, die Gott uns als unseren Seinsstatus offenbart hat. Sie dient unserem Mental als Grundlage für unser Handeln in Prakriti. Aber unsere Sicht der Dinge muss nicht genauso angeordnet sein wie die der anderen; ebensowenig entspricht die unserer Mentalität angemessene Gedankenform zwangsläufig einer anders gearteten Mentalität. Unsere intellektuelle Haltung sollte deshalb durch Bestimmtheit ohne Dogmatismus in unserem eigenen System sowie Toleranz ohne Schwäche gegenüber allen anderen Systemen gekennzeichnet sein.
Du wirst Kritikern begegnen, die dein System mit der Begründung in Frage stellen, dass es mit diesem oder jenem Shastra, mit dieser oder jener großen Autorität – sei es ein Philosoph, ein Heiliger oder ein Avatar – nicht in Übereinstimmung sei. Bedenke dann, dass Verwirklichung und Erfahrung allein von Wichtigkeit sind. Shankaras Argumente, Vivekanandas intellektuelle Ansichten über das Dasein und selbst Ramakrishnas Aussagen, die auf seinen unzähligen und vielfältigen Verwirklichungen beruhen, sind nur insofern für dich von Wert, als du von Gott dazu geführt wirst, sie gelten zu lassen und in deiner eigenen Erfahrung zu erneuern. Die Meinungen von Denkern, Heiligen und Avataren sollten als Hinweise verstanden, nicht aber als Fesseln akzeptiert werden. Worauf es für dich ankommt ist, was du erfahren hast oder was Gott – entweder in Seiner allumfassenden Persönlichkeit oder unpersönlich oder wiederum auf persönliche Weise durch einen Lehrer, Guru oder Wegbereiter – dir auf dem Pfad des Yoga zu zeigen beabsichtigt.
