Kapitel 5

Hingabe und wahre Individualität

Worte der Mutter

Es gibt zwei Yogawege, den von tapasya (Disziplin) und den der Hingabe. Der Weg der tapasya ist mühsam. Hier vertraut man nur sich selbst, und man schreitet durch die eigene Stärke voran. Du steigst und verwirklichst deinen Kräften gemäß. Die Gefahr des Absturzes begleitet dich auf Schritt und Tritt. Strauchelst du, so fällst du in einen Abgrund, aus dem man kaum wieder herauskommt. Der andere Weg, der Weg der Hingabe, ist sicher und verlässlich. Allerdings stoßen gerade hier die westlichen Menschen auf ihre Grenzen. Man hat sie gelehrt, alles zu fürchten und zu vermeiden, was ihre Unabhängigkeit bedroht. Sie haben das Gefühl ihrer Individualität schon mit der Muttermilch aufgenommen. Und Hingabe bedeutet, all das aufzugeben. Mit anderen Worten, du kannst – wie Ramakrishna sagt –, entweder dem Pfad des Affenjungen oder dem des Katzenjungen folgen. Das Äffchen klammert sich an seine Mutter, um getragen zu werden, und muss sich sehr gut festhalten, denn lockert es seinen Griff, so fällt es. Im Gegensatz dazu hält sich das Kätzchen nicht an seiner Mutter fest, sondern wird von ihr gehalten und hat weder Angst noch Verantwortung. Es braucht nichts anderes zu tun, als von der Mutter gehalten zu werden und „Mama“ zu rufen.

Wenn du in aller Aufrichtigkeit diesen Weg der Hingabe einschlägst, gibt es keine Gefahr oder ernstliche Schwierigkeit mehr. Alles hängt von der Aufrichtigkeit ab. Bist du nicht aufrichtig, so fange den Yoga erst gar nicht an. Würde es sich um menschliche Angelegenheiten handeln, könntest du dich selbst betrügen; aber in deiner Beziehung zum Göttlichen ist keinerlei Täuschung möglich. Du kannst den Pfad sicher gehen, wenn du aufrichtig bist und offen für das Innerste der Sache und wenn es dein einziges Ziel ist, das Göttliche zu verwirklichen und zu erreichen und vom Göttlichen bewegt zu werden.

Worte der Mutter

Hingabe kann man als das Aufgeben der Ich-Begrenzungen bezeichnen. Sich dem Göttlichen überantworten heißt, auf seine eigenen engen Grenzen verzichten und sich von Ihm einnehmen lassen, ein Zentrum Seines Spiels werden.

Das wirkliche Hindernis der Selbst-Hingabe ist die Verliebtheit des Einzelnen in seine eigenen Begrenzungen. Es ist eine natürliche Liebe, da in der eigentlichen Prägung des individuellen Wesens eine Neigung besteht, sich an bestimmte Grenzen zu halten… Doch im Göttlichen verlierst du nicht wirklich deine Individualität: Du gibst nur deinen Egoismus auf, um das wahre Individuum, die göttliche Persönlichkeit, zu werden, die nicht zeitbedingt ist wie diese Konstruktion des physischen Bewusstseins, das du gewöhnlich für dein „Selbst“ hältst. Ein einziger Kontakt mit dem göttlichen Bewusstsein genügt, um sogleich zu sehen, dass man sich in ihm nicht verliert. Im Gegenteil, du erwirbst eine wahrhaft individuelle Fortdauer, die hundert Tode des Körpers und alle Wechselfälle der vital-mentalen Evolution überleben kann.

Worte der Mutter

Ist Hingabe nicht dasselbe wie Opfer?

In unserem Yoga ist kein Raum für Opfer. Aber alles hängt davon ab, welche Bedeutung du dem Wort gibst. In seinem wahren Sinn bedeutet es ein geweihtes Geben, ein Heiligmachen für das Göttliche. Aber in der heute üblichen Bedeutung ist Opfer mit Verlust verbunden; es hat etwas Negatives an sich. Diese Art von Opfer ist keine Erfüllung; es ist Entbehrung, Selbstaufopferung. Es sind deine Möglichkeiten, die du opferst, die Möglichkeiten und Verwirklichungen deiner Persönlichkeit, vom materiellsten bis zum höchsten spirituellen Bereich. Opfer schmälert dein Wesen. Wenn du physisch dein Leben opferst, deinen Körper, dann gibst du all deine Möglichkeiten auf der materiellen Ebene auf; du gibst das Erreichte deines irdischen Daseins auf. In der gleichen Weise kannst du dein Leben moralisch opfern; du verzichtest auf die Weite und freie Erfüllung deiner inneren Existenz. In dieser Idee der Selbstaufopferung ist immer eine Art von Zwang, eine Enge, eine auferlegte Selbstverleugnung. Dies ist ein Ideal, das keinen Raum für das tiefere und weitere spontane Handeln der Seele hat. Mit Hingabe meinen wir nichts derartiges, sondern ein spontanes Sich-Selbst-Geben, eine Hingabe deines gesamten Wesens an das Göttliche, an ein größeres Bewusstsein, von dem du ein Teil bist. Hingabe mindert dich nicht, sondern weitet dich; Hingabe wird deine Persönlichkeit nicht schmälern oder schwächen oder zerstören, sondern stärken und erhöhen. Hingabe bedeutet ein freies, vollständiges Sich-Geben, mit all der Freude am Geben; da ist nichts von Opfer dabei. Wenn du auch nur im Geringsten das Gefühl hast, ein Opfer zu bringen, so ist es nicht mehr die wahre Hingabe. Denn das bedeutet, dass du dir etwas vorbehältst oder dich zwar zu geben versuchst, aber widerwillig, mit Schmerz und Anstrengung, und so die Freude des Gebens nicht empfindest, vielleicht nicht einmal das Gefühl, dass du dich gibst. Tust du irgendetwas mit Druck auf dein Wesen, so kannst du sicher sein, dass du es in der falschen Weise tust. Wahre Hingabe weitet dich; sie steigert deine Fähigkeiten; sie schenkt dir mehr, sowohl dem Wert wie der Menge nach, als du je von dir aus hättest erlangen können. Dieses neue und größere Maß an Qualität und Quantität unterscheidet sich von allem, was du zuvor erreichen konntest. Du betrittst eine andere Welt, eine Weite, die dir ohne deine Hingabe unerreichbar gewesen wäre. Es ist, als ob ein Tropfen Wasser ins Meer fällt. Würde er seine Gesondertheit bewahren, so bliebe er ein Tröpfchen Wasser und sonst nichts, ein kleiner Tropfen, erdrückt von der ganzen Unermesslichkeit ringsherum, weil er sich nicht hingegeben hat. Doch sich hingebend vereint er sich mit dem Meer und hat teil an der Natur und Macht und Weite des ganzes Meeres.

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