Kapitel 5
Entdecke die Gottheit im Innern
Worte Sri Aurobindos
…Freiheit und Herrschaft des Menschen über seine Natur sind kaum etwas Wirkliches und können auch nicht vollständig sein, ehe er nicht des Göttlichen in seinem Innern bewusst wird und sein eigenes wahres Selbst und seinen Geist in Besitz nimmt, die etwas anderes sind als sein Ego, atmavan. Das ist es, woran die Natur sich abmüht, um es in Mental, Leben und Körper zum Ausdruck zu bringen. Das ist es, was ihr dieses oder jenes Gesetz von Wesen und Wirken auferlegt, svabhava. Das ist es, was das äußere Schicksal und die Entwicklung der Seele in unserem Innern zuwege bringt. Darum kann der Mensch nur dann zu einem bewussten Instrument und zu einer erleuchteten Macht der Gottheit werden, wenn er im Besitz seines wirklichen Selbsts und Geistes ist.

Worte der Mutter
Für den, der entschlossen ist, die Entdeckung der Gottheit im Innern zu unternehmen, können ein paar einfache Ratschläge nützlich sein. Hier sind einige der wichtigsten:
Der wohl entscheidende Ansatzpunkt ist die Erkenntnis, dass unser Denken unfähig ist, spirituelle Dinge zu beurteilen. Alle, die darüber schrieben, haben das betont, aber nur sehr wenige haben diesem Rat Folge geleistet. Und doch ist es für unseren Fortschritt ganz und gar unerlässlich, von jeder Meinung und jeder mentalen Reaktion Abstand zu nehmen.
Verzichte auf alles Streben nach persönlicher Bequemlichkeit, nach Befriedigung, Genuss oder Glück. Sei einzig ein loderndes Feuer des Werdens. Nimm alles, was dir begegnet, als eine Hilfe, um vorwärtszugehen und vollende ohne zu säumen den Fortschritt, der von dir gefordert wird.
Versuche, alles was du tust, mit Freude zu tun, doch die Freude darf nie der Beweggrund deines Handelns sein.
Werde nie aufgeregt, nervös oder unruhig. Bleibe allen Ereignissen gegenüber vollkommen gelassen, und doch sei stets wachsam, um den Fortschritt zu machen, den du machen sollst – unverzüglich, ohne Zeit zu verlieren.
Halte niemals die äußeren Umstände für das, was sie zu sein scheinen. Sie sind immer nur ungeschickte Versuche, etwas anderes auszudrücken – das Eigentliche, Wahre, das dahinter liegt und sich unserem oberflächlichen Erfassen entzieht.
Beklage dich niemals über die Handlungsweise eines anderen, es sei denn, du hast die Macht, in seiner Natur zu ändern, was ihn so handeln lässt, und wenn du diese Macht hast, vollziehe diese Änderung, anstatt dich zu beklagen.
Was du auch immer tun magst: Vergiss nie das Ziel, das du dir gesteckt hast. Auf dem Wege zu dieser großen Entdeckung gibt es keine kleinen oder großen Dinge. Alle sind gleich wichtig und können entweder zum Erfolg beitragen oder aber ihn verzögern. So konzentriere dich vor dem Essen einige Sekunden in dem Wunsch, dass die Nahrung, die du jetzt zu dir nimmst, deinem Körper den notwendigen Nährstoff gibt, um dir in deiner Bemühung auf dem Weg der großen Entdeckung als solide Grundlage zu dienen, und dass sie ihm die Energie verleiht, im Streben nie müde zu werden und nie nachzulassen.
Vor dem Einschlafen konzentriere dich einen Augenblick in dem Wunsch, der Schlaf möge deine ermüdeten Nerven erfrischen und deinem Gehirn Entspannung und Ruhe geben, damit du, wenn du ausgeschlafen hast, deine Wanderung auf dem Weg der großen Entdeckung mit neuer Energie wieder aufnehmen kannst.
Bevor du handelst, konzentriere dich im Willen, dass dein Handeln deinem Voranschreiten auf das große Ziel hin förderlich sei oder es wenigstens nicht hemme.
Bevor du sprichst, konzentriere dich, bevor du den Mund auftust, gerade lange genug, um deine Worte im Zaum zu halten und nur die auszusprechen, die unbedingt notwendig sind und die deinem Fortschritt in deiner inneren Entwicklung in keiner Weise schaden können.
Kurz: Vergiss niemals den Grund und das Ziel deines Lebens. Lass den Willen zu der großen Entdeckung beständig über dir schweben – über dem, was du tust und was du bist – wie einen unermesslichen Vogel des Lichts, der alle Bewegungen deines Wesens beherrscht.

Worte Sri Aurobindos
Die Kraft der Konzentration im Herzzentrum besteht darin, dieses Zentrum zu öffnen und durch die Macht der Aspiration, der Liebe, der Bhakti und Hingabe den Schleier zu entfernen, der die Seele bedeckt und verhüllt. Sie lässt die Seele oder das seelische Wesen hervortreten, damit sie Mental, Leben und Körper lenke und sie alle – vollständig – dem Göttlichen zuwende, sie öffne und alles beseitige, was diesem Öffnen und dieser Wende entgegensteht.
Das nennt man in diesem Yoga die seelische Umwandlung. Die Macht der Konzentration über dem Kopf besteht darin, den Frieden zu bringen sowie das Schweigen, die Befreiung vom Körpergefühl und der Identifizierung mit Mental und Leben. Sie öffnet den Weg für den Aufstieg des niederen Bewusstseins (mental, vital und physisch), damit es dem höheren Bewusstsein begegnen kann, und sie öffnet den Weg für die Herabkunft des höheren Bewusstseins (der spirituellen Natur) in Mental, Leben und Körper. Das nennt man in diesem Yoga die spirituelle Umwandlung. Wenn man mit dieser Bewegung beginnt, muss die Macht von oben in ihrem Herabkommen alle Zentren öffnen (einschließlich des niedersten Zentrums) und das seelische Wesen hervortreten lassen. Denn solange dies nicht geschehen ist, widersetzt sich das niedere Bewusstsein voraussichtlich mit viel Schwierigkeiten und Kampf dem Göttlichen Wirken von oben, es vermischt sich damit oder weist es sogar zurück. Ist das seelische Wesen jedoch einmal aktiv, können dieser Kampf und diese Schwierigkeiten außerordentlich vermindert werden.
Die Macht der Konzentration zwischen den Augenbrauen besteht darin, das Zentrum dort zu öffnen und das innere Mental, die innere Schau sowie das innere oder yogische Bewusstsein mit seinen Erfahrungen und Mächten zu befreien. Von hier kann man sich auch nach oben öffnen und ebenso in den niederen Zentren wirken. Die Gefahr dieser Methode besteht jedoch darin, dass man möglicherweise in seinen mentalen spirituellen Gestaltungen eingeschlossen wird und keinen Ausweg aus ihnen findet, um die freie und integrale spirituelle Erfahrung und Erkenntnis sowie die integrale Wandlung des Wesens und der menschlichen Natur zu erlangen.

Worte Sri Aurobindos
Es schadet nicht, sich manchmal im Herzen und manchmal im Zentrum über dem Kopf zu konzentrieren. Doch Konzentration auf einen dieser Orte bedeutet nicht, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt zu richten. Du musst vielmehr das Bewusstsein an einem dieser Orte verankern und dich von dort nicht auf den Ort, sondern auf das Göttliche konzentrieren.

Worte Sri Aurobindos
Nun zur Konzentration. Meist ist das Bewusstsein überall, es ist zerstreut und bewegt sich in alle Richtungen auf der Suche nach diesen oder jenen Gegenständen und nach Objekten mannigfacher Art. Wenn irgendetwas Dauerhaftes geschehen soll, muss als Erstes dieses ganze verstreute Bewusstsein zurückgezogen und konzentriert werden. Es ist dann gleichsam dazu gezwungen, auf einen Ort oder eine Beschäftigung konzentriert zu sein, auf ein Thema oder Ziel – so als würdest du ein Gedicht schreiben oder ein Botaniker eine Blume untersuchen. Wenn es das Denken ist, auf das man sich konzentriert, liegt der Ort gewöhnlich irgendwo im Gehirn, und wenn es das Gefühl ist, liegt er im Herzen. Die yogische Konzentration ist einfach eine Ausdehnung und Intensivierung derselben Sache. Sie kann auf ein Objekt gerichtet sein, als würde man sich auf einen leuchtenden Punkt konzentrieren, trataka – dann muss man sich so konzentrieren, dass man nur diesen Punkt sieht, und darf keinen anderen Gedanken haben als diesen. Sie kann auf eine Idee, ein Wort oder auf einen Namen gerichtet sein, auf die Idee des Göttlichen, die Silbe OM, den Namen Krishna oder aber auf eine Kombination von Idee und Wort oder von Idee und Namen. Darüber hinaus konzentriert man sich im Yoga auch auf einen bestimmten Ort. Es gibt die bekannte Regel, sich zwischen den Augenbrauen zu konzentrieren, wo sich das Zentrum des inneren Mentals, der okkulten Schau und des Willens befindet, und von dort aus fest an das zu denken, was du zum Gegenstand deiner Konzentration machst, oder aber zu versuchen, sein Bildnis von dort zu sehen. Wenn dir dies gelingt, fühlst du nach einer Weile, dass dein gesamtes Bewusstsein auf diesen Ort konzentriert ist – natürlich nur für die betreffende Zeit. Nachdem man dies eine gewisse Zeit lang und oft wiederholt hat, wird es leicht und normal.
Ich hoffe, dies ist soweit klar. Nun, in diesem Yoga tust du das Gleiche – du konzentrierst dich nicht notwendigerweise auf diesen bestimmten Ort zwischen den Augenbrauen, sondern irgendwo im Kopf oder im Zentrum der Brust, wo die Physiologen das Kardial-Zentrum definiert haben. Statt dich auf ein Objekt zu konzentrieren, konzentrierst du dich im Kopf auf einen Willen, auf einen Ruf nach der Herabkunft des Friedens oder – wie es manche tun – auf ein Sich-Öffnen des unsichtbaren Lides und den Anstieg des Bewusstseins nach oben. Im Herzzentrum konzentriert man sich auf eine Aspiration, auf ein Sich-Öffnen, auf die Gegenwart des lebendigen Bildnisses des Göttlichen dort oder was immer auch das Ziel sein mag. Es kann auch das Wiederholen eines Namens sein, japa, doch auch dann muss man sich darauf konzentrieren, und der Name muss sich im Herzzentrum wiederholen.
Man kann fragen, was aus dem übrigen Bewusstsein wird, wenn diese örtliche Konzentration stattfindet. Nun, es gelangt entweder zum Schweigen wie in jeder Konzentration, oder aber, wenn dies nicht der Fall ist, können sich Gedanken oder andere Dinge umherbewegen, als wären sie außerhalb, während der konzentrierte Teil nicht an ihnen teilnimmt oder sie gar nicht bemerkt. So ist es bei einer einigermaßen erfolgreichen Konzentration.
Man darf sich anfangs, solange man nicht daran gewöhnt ist, durch zu lange Konzentration nicht ermüden, denn in einem erschöpften Mental verliert sie ihre Kraft und ihren Wert. Man kann „entspannen“ und meditieren, statt sich zu konzentrieren. Nur wenn die Konzentration zu etwas Normalem wird, kann man sie auf eine immer längere Zeit ausdehnen.

Worte Sri Aurobindos
Die Sadhana der inneren Konzentration besteht aus Folgendem:
1. Das Bewusstsein im Herzen zu festigen und sich dort auf die Idee, auf das Bildnis oder den Namen der Göttlichen Mutter zu konzentrieren, je nachdem, was dir am leichtesten erscheint.
2. Eine allmähliche, fortschreitende Beruhigung des Mentals durch diese Konzentration im Herzen.
3. Nach der Gegenwart der Mutter im Herzen und nach ihrer Überwachung des Mentals, Lebens und Handelns zu streben.
Um das Mental zu beruhigen und spirituelle Erfahrung zu erlangen ist es jedoch erforderlich, zuerst die Natur zu läutern und vorzubereiten. Dies dauert manchmal mehrere Jahre. Arbeit, die in der rechten Einstellung verrichtet wird, ist dafür das einfachste Mittel – das heißt eine Arbeit ohne Verlangen oder Egoismus, in der man alle Regungen des Begehrens, des Forderns oder des Egos zurückweist und sie der Göttlichen Mutter darbringt, an sie denkend und zu ihr betend, dass sie ihre Kraft manifestiere und die Arbeit übernimmt, damit man auch darin, und nicht nur in der inneren Stille, ihre Gegenwart und ihr Wirken fühlt.
