Kapitel 5
Die Vorstellung eines letzten Ziels ist illusorisch
Worte Sri Aurobindos
Ein Auszug aus Sri Aurobindos Analyse der Isha Upanishad.
Brahman ist das Ziel; denn Es ist sowohl der Anfang wie das Ende, die Ursache und das Ergebnis aller Bewegung.
Doch ist die Vorstellung eines letzten Ziels in der Bewegung der Natur selbst illusorisch. Denn Brahman ist das Absolute und Unendliche. Die Götter1, die sich mühen, es einzuholen, finden stets bei jedem erreichten Ziel, dass Brahman immer noch vor ihnen ist und zu einer weiteren Verwirklichung voranschreitet. Nichts innerhalb der Erscheinungen des Universums kann für das relative Bewusstsein vollständig Das sein; alles ist nur eine symbolische Darstellung des Unerkennbaren.
Alle Dinge sind in Brahman bereits verwirklicht. Das Laufen der Anderen2 im Ablauf der Natur ist nur ein Ausarbeiten (Prakriti) von etwas, das Brahman bereits eigen ist, in den Bedingungen von Kausalität, Zeit und Raum.
Sogar in Seinem universalen Sein geht Brahman über die Bewegung hinaus. Im Überschreiten der Zeit enthält Es in Sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig und muss nicht erst bis ans Ende der vorstellbaren Zeit laufen. Im Überschreiten des Raumes enthält Es in Sich alle Gestaltungen zugleich und muss nicht bis ans Ende des vorstellbaren Raumes laufen. Im Überschreiten der Kausalität enthält Es frei in Sich selbst alles vorstellbare Geschehen und alle Möglichkeiten, ohne durch die scheinbare Kette der Kausalität gebunden zu sein, durch die sie im Universum miteinander verknüpft sind. Alles ist von Ihm als dem Herrn bereits verwirklicht, bevor es von den getrennten Persönlichkeiten in der Bewegung vollbracht werden kann…
Was ist demnach Seine Absicht in der Bewegung?
Die Bewegung ist ein Rhythmus, eine Harmonie, die Das, als das Universale Leben, durch Formen Seiner selbst in den Bedingungen bewussten Seins ausarbeitet. Sie ist eine Formel, die das Unerkennbare symbolisch zum Ausdruck bringt – so angeordnet, dass jede Ebene des Bewusstseins wirklich etwas jenseits ihrer selbst repräsentiert, Tiefe der Tiefe, Inhalt des Inhalts. Sie ist ein Spiel3 des göttlichen Bewusstseins, das zu seiner eigenen Befriedigung besteht und Dem, das bereits vollständig ist, nichts hinzufügt. Sie ist eine Tatsache bewussten Seins, gerechtfertigt durch sein eigenes Dasein, ohne einen Zweck außerhalb ihrer selbst. Die Vorstellung eines Zwecks, eines Ziels entsteht dadurch, dass die Welt ihre eigene wahre Natur den individuellen Seelen, die ihre Formen bewohnen, fortschreitend selbst-entfaltet; denn das Sein offenbart Sich selbst schrittweise innerhalb seiner eigenen Werdensweisen; die wirkliche Einheit geht aus der Vielfalt hervor und verändert die Bedeutung der letzteren für unser Bewusstsein völlig.
Diese Selbst-Entfaltung wird von Bedingungen regiert, die durch das Gesamtgefüge des Bewusstseins in seinem kosmischen Handeln festgelegt sind.
Denn Bewusstsein ist nicht einfach oder homogen, es ist siebenfach. Das heißt, es gliedert sich in sieben Formen oder Abstufungen bewusster Aktivität, die vom reinen Sein bis zum physischen Sein herabreichen. Ihr wechselseitiges Spiel erschafft die Welten, bestimmt alle Tätigkeiten, konstituiert alle Werdensweisen.
Brahman ist immer das, was dieses Spiel oder dieses Wirken in Sich enthält, Brahman, das Sich in Raum und Zeit ausdehnt, ist das Universum.

1 Die Götter sind Brahman, das sich selbst in kosmischen Persönlichkeiten darstellt, Ausdrucksformen der einen Gottheit, die in ihrem unpersönlichen Handeln als das vielfältige Spiel der Prinzipien der Natur erscheinen.
2 Die „Anderen“ sind sarvani bhutani eines späteren Verses, alle Werdensweisen – Brahman, das sich selbst im getrennten Bewusstsein der Vielen darstellt.
3 Dies ist das Vaishnava-Bild der Lila, das gewöhnlich für das Spiel der Persönlichen Gottheit in der Welt verwendet wird, doch gleichermaßen auf das aktive, unpersönliche Brahman anwendbar ist.