Kapitel 5
Die vitale Neigung zum Leiden
Worte der Mutter
Hier hast du gesagt: „Der Gebrauch des Nagelbetts durch den Sadhu und der Geißeln und des Büßerhemds durch den christlichen Einsiedler sind das Ergebnis eines mehr oder weniger verschleierten, nicht eingestandenen und nicht eingestehbaren Sadismus. Es ist das krankhafte Trachten oder das unterbewusste Bedürfnis nach gewaltsamen Empfindungen.“ (Die vierfache Selbstzucht und die vierfache Befreiung)
Aha! Du weißt, es gibt Asketen, die auf Nägeln schlafen. Hast du das noch nie gesehen? Ich habe Fotografien gesehen. Das gibt es: Sie legen sich auf ein Brett mit Nägeln. Erst vor kurzem habe ich so eine Fotografie gesehen. Nun, sie machen das, um…. Ich weiß nicht, ob sie es tun, um ihre Heiligkeit zu beweisen. Nicht wahr, wenn sie es öffentlich machen, hat man immer den Verdacht, dass es ein bisschen theatralisches Getue ist. Immerhin mag es bei manchen doch auch aufrichtig sein, sofern sie es nicht tun, um sich zur Schau zu stellen. Und wenn man diese nun fragt, warum sie es tun, sagen sie: um sich selbst zu beweisen, dass sie von ihrem Körper getrennt sind. Andere gehen noch weiter: Sie sagen, man müsse den Körper leiden lassen, um den Geist zu befreien. Nun, ich sage, dahinter steht eine vitale Neigung zum Leiden, und diese zwingt dem Körper das Leiden auf, weil das Vital einen sehr perversen Gefallen am Leiden findet. Ich habe Kinder gekannt, die hier oder dort Schmerzen hatten und die darauf drückten, so sehr sie konnten, damit es noch mehr schmerzte. Und das machte ihnen Spaß! Ich kannte auch Erwachsene. Moralisch ist das eine ganz bekannte Tatsache. Ich verbringe meine Zeit damit, den Leuten zu sagen: „Wenn ihr unglücklich seid, dann deshalb, weil ihr es wollt. Wenn ihr leidet, dann deshalb, weil ihr das Leiden liebt, sonst würdet ihr nicht leiden.“ So etwas nenne ich eine ungesunde Sache, denn es steht im Widerspruch zu Harmonie und Schönheit, es ist so etwas wie ein krankhaftes Bedürfnis nach starken Empfindungen.
Ich weiß nicht, ob du weißt, dass China das Land ist, wo man die furchtbarsten Foltern, unvorstellbare Dinge, erfunden hat. Als ich in Japan war, fragte ich einen Japaner, der die Chinesen sehr liebte (was recht selten ist) und von China immer sehr lobend sprach, warum das so sei? Er sagte mir: „Weil alle Völker des Fernen Ostens, die Japaner inbegriffen, ein sehr abgestumpftes Empfindungsvermögen haben. Sie empfinden sehr wenig; wenn die Schmerzempfindung nicht äußerst stark ist, fühlen sie nichts. Und deshalb mussten sie ihre Intelligenz dazu verwenden, um die größten und heftigsten Leiden zu erfinden.“
Nun, all diese Menschen, die unbewusst sind, sind um so tamasischer, je unbewusster sie sind. Je abgestumpfter ihr Empfindungsvermögen ist, desto stärkere Empfindungen haben sie nötig, um etwas zu fühlen. Und meistens macht das die Leute grausam, denn durch Grausamkeit werden die Empfindungen sehr stark. Diese Art von Nervenanspannung auf Grund eines Leides, das einem anderen zugefügt wurde, erzeugt eine Empfindung; und sie brauchen das, um ein Gefühl zu haben, sonst fühlen sie nichts. Und deshalb sind ganze Völker besonders grausam. Sie sind sehr unbewusst – vital unbewusst. Sie mögen mental oder sonstwie nicht unbewusst sein, aber sie sind vital und physisch unbewusst – vor allem physisch.
