Kapitel 5
Das Geheimnis, zu dem uns der Schmerz führt
Worte der Mutter
Schmerz und Leid sind die Mahnungen der Natur an die Seele, dass der Genuss ihres Vergnügens nur eine schwache Andeutung der wirklichen Wonne des Daseins ist. Jeder Schmerz und jede Qual unseres Wesens birgt das Geheimnis einer Flamme der Verzückung, mit der verglichen unsere größten Vergnügungen bloß trübes Geflacker sind. Dies Geheimnis ist es, was für die Seele die Anziehung großer Prüfungen, Leiden und grimmiger Lebenserfahrungen ausmacht, die das nervliche Mental in uns verabscheut und meidet. – Sri Aurobindo (CWSA Vol. 13, p. 205)
Selbstverständlich fragen wir uns, was dieses Geheimnis ist, zu dem Schmerz uns hinführt. Aus einem oberflächlichen und unvollständigen Verständnis heraus könnte man glauben, dass die Seele den Schmerz sucht. Es ist keinesfalls so. Die Wesensart der Seele ist ja gerade die göttliche Wonne, die beständig, unveränderlich, unbedingt und ekstatisch ist; aber es ist wahr, wenn man Leiden mit Mut, Ausdauer und einem unerschütterlichen Glauben an die göttliche Gnade auf sich nimmt, wenn man sich, anstatt dem Leiden, wenn es zu einem kommt, auszuweichen, mit diesem Willen, mit diesem sehnsuchtsvollen Bestreben, hindurchzugehen und die leuchtende Wahrheit zu finden vermag, die unwandelbare Freude im Herzen einer jeden Sache, dann ist die Pforte des Schmerzes oft direkter, unmittelbarer als die Befriedigung oder die Zufriedenheit.
Ich spreche nicht vom Vergnügen, denn das kehrt dieser tiefen göttlichen Wonne dauernd und nahezu vollständig den Rücken zu.
Das Vergnügen ist eine trügerische und abartige Maskierung, die uns von unserem Ziel abbringt, und wir sollten es auf keinen Fall suchen, wenn wir sehnlichst die Wahrheit finden wollen. Das Vergnügen nebelt uns ein; es täuscht uns, führt uns vom rechten Wege ab. Der Schmerz führt uns zu einer tieferen Wahrheit zurück, indem er uns zur Konzentration zwingt, um das uns Erdrückende aushalten und dem entgegentreten zu können. Im Schmerz entdecken wir am leichtesten die wahre Kraft wieder, wenn wir stark sind. Im Schmerz finden wir am leichtesten wieder wahrhaftes Vertrauen, das Vertrauen in etwas, das sich über und jenseits allen Schmerzes befindet.
Wenn man sich vergnügt und vergisst, wenn man die Dinge nimmt, wie sie kommen, wenn man der Ernsthaftigkeit auszuweichen sucht und es vermeiden will, dem Leben ins Auge zu blicken, mit einem Wort: Wenn man zu vergessen versucht, zu vergessen, dass es ein Problem zu lösen gibt, dass es etwas zu entdecken gibt, dass wir einen Grund haben, warum wir da sind und leben, dass wir nicht hier sind, um uns nur mal so die Zeit zu vertreiben und wieder wegzugehen, ohne etwas gelernt oder geleistet zu haben, dann vertut man wirklich seine Zeit, man verspielt die Gelegenheit, die uns gegeben ist – diese, ich kann nicht sagen einzige, aber wunderbare Gelegenheit eines Daseins, das dass Feld des Fortschritts, der Augenblick in der Ewigkeit ist, wo du das Geheimnis des Lebens entdecken kannst; denn diese physische, materielle Existenz ist eine wunderbare Gelegenheit, eine Möglichkeit, dir gegeben, damit du herausfindest, wozu das Leben da ist, um dir diese tiefe Wahrheit einen Schritt näher zubringen, um dich dieses Geheimnis entdecken zu lassen, das dich mit der ewigen Verzückung des göttlichen Lebens in Berührung bringt.
(Schweigen)
Ich habe dir schon sehr oft gesagt, dass das Suchen von Leid und Schmerz eine krankhafte Einstellung ist, die man meiden muss, aber vor ihnen zu fliehen durch Vergessen, durch eine oberflächliche, leichtfertige Reaktion, durch Zerstreuung, ist Feigheit. Wenn der Schmerz kommt, dann deshalb, um uns etwas zu lehren. Je schneller wir es lernen, desto mehr verringert sich die Notwendigkeit des Schmerzes, und wenn wir das Geheimnis kennen, wird es nicht mehr nötig sein zu leiden, denn dieses Geheimnis enthüllt den Grund, die Ursache, den Ursprung des Leidens und das Mittel, darüber hinauszugehen.
Das Geheimnis heißt: aus dem Ego herauskommen, sein Gefängnis verlassen, uns mit dem Göttlichen vereinen, in Ihm aufgehen, nichts und niemandem erlauben, uns von Ihm zu trennen. Hat man dieses Geheimnis also einmal entdeckt und es in seinem Wesen verwirklicht, dann hat der Schmerz seinen Daseinszweck verloren und das Leiden verschwindet. Das ist ein allmächtiges Heilmittel, nicht nur in den tieferen Teilen des Wesens, in der Seele, im spirituellen Bewusstsein, sondern auch im Leben und im Körper.

Worte der Mutter
Gott kann nicht aufhören, sich zur Natur niederzuneigen, noch der Mensch, zur Gottheit emporzustreben. Das ist die ewige Beziehung zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen. Scheinen sie sich voneinander abzukehren, so nur, um sich inniger zu begegnen.
Im Menschen wird sich die Welt-Natur ihrer selbst wieder bewusst, damit sie den größeren Sprung zu ihrem Genießer hin tun könne. Dieser Genießer ist es, den sie unwissentlich besitzt, den Leben und Empfindung besitzen und zugleich leugnen, den sie leugnen und zugleich suchen. Die Welt-Natur kennt Gott nur darum nicht, weil sie sich selbst nicht kennt; sobald sie das tut, wird sie die unvermischte Wonne des Seins kennen.
In der Einheit zu besitzen ist das Geheimnis, und nicht in ihr sich zu verlieren. Gott und Mensch, Welt und Jenseits werden eins, wenn sie einander kennen. Ihre Trennung ist die Ursache der Unwissenheit, wie Unwissenheit die Ursache des Leidens ist. – Sri Aurobindo (Thoughts and Glimpses, CWSA Vol 13, p. 202)
Gemäß dem, was Sri Aurobindo hier sagt, ist die Wirklichkeit des Universums das, was man Gott oder Gottheit nennt, aber im Grunde genommen ist sie tiefe Freude, Wonne. Die Welt wurde in der Freude und für die Freude erschaffen. Aber diese Freude kann nur im vollkommenen Einssein der Schöpfung mit ihrem Schöpfer bestehen, und Sri Aurobindo beschreibt dieses Einssein als den Besitzer – das heißt den Schöpfer –, als den Besitzer, der von seiner Schöpfung besessen ist, als eine Art von wechselseitigem Besitz, der das Essentielle des Einsseins ausmacht und die Quelle aller Freude ist.
Aufgrund der Trennung – weil der Besitzer nicht mehr besitzt und der Besitz auch seinen Besitzer nicht mehr besitzt –, wurde die essentielle Wonne in Unwissenheit verwandelt, und diese Unwissenheit ist die Ursache des ganzen Leidens. „Unwissenheit“ nicht etwa in dem Sinn, wie man sie normalerweise versteht, denn die nennt Sri Aurobindo Nichtwissen: Diese Unwissenheit ist eine Folge der anderen. Die eigentliche Unwissenheit ist die Unkenntnis über das Einssein, die Einheit und die Identität. Und diese ist die Ursache allen Leidens.
Seit der Trennung, als die Schöpfung den direkten Kontakt zum Schöpfer verlor, herrschte die Unwissenheit und alles Leiden war die Folge davon.
Alle, die die innere Erfahrung gehabt haben, hatten das Erlebnis, dass von dem Augenblick an, in dem man die Einung mit dem göttlichen Ursprung wiederherstellt, alles Leiden verschwindet. Aber es hat eine sich lang dahinziehende Bewegung gegeben, von der wir letzte Woche gesprochen haben, bei der nicht etwa die essentielle göttliche Freude an den Ursprung der Schöpfung gesetzt wurde, sondern das Begehren. Diese Freude der Schöpfung, der Selbst-Offenbarung, des Selbst-Ausdrucks, wurde von einer ganzen Reihe von Suchern und Weisen nicht als Freude, sondern als Begierde betrachtet; die ganze buddhistische Richtung zeugt davon. Und anstatt die Lösung in einem Einssein zu sehen, das einem die essentielle Freude an der Manifestation und am Werden zurückgibt, sind sie der Meinung, dass das Ziel und zugleich der Weg in der völligen Zurückweisung jeglichen Begehrens zu sein und in der Rückkehr zum Nichtmehrsein liege.
Diese Vorstellung läuft auf ein grundlegendes Missverständnis hinaus. Die empfohlenen Methoden zur Selbst-Befreiung sind Methoden zur Entwicklung, die sehr nützlich sein können; aber diese Vorstellung einer Welt, die essentiell schlecht ist, weil sie das Resultat der Begierde ist und der man sich um jeden Preis und so schnell wie möglich entziehen muss, ist die größte und bedenklichste Entstellung des ganzen spirituellen Lebens in der Geschichte der Menschheit gewesen.
Sie konnte vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt nützlich sein, denn in der Geschichte der Welt ist alles nützlich, aber diese Nützlichkeit ist vorbei, sie ist überholt, und es ist Zeit, dass man diese Vorstellung hinter sich lässt und zu einer grundlegenderen und höheren Wahrheit zurückkehrt, dass man wieder zurückkehrt zur Freude am Sein, zur Freude an der Einheit und der Manifestation des Göttlichen.
Diese Neuorientierung – ich möchte sagen, neu in ihrer irdischen Verwirklichung – muss alle vorausgegangenen spirituellen Richtungen ersetzen und den Weg zu der neuen Verwirklichung öffnen, die eine supramentale Verwirklichung sein wird. Und deshalb sagte ich letzte Woche, dass nur die Wonne, die wahre göttliche Freude, den Sieg erringen könne.
Natürlich darf es keine Unklarheit darüber geben, was diese Wonne ist, und deshalb hat uns Sri Aurobindo gleich zu Anfang gewarnt, dass man in die Glückseligkeit nur kommen könne, wenn man über das Genießen hinausgegangen sei. Die Glückseligkeit ist genau der Zustand, der aus der Offenbarung dieser Wonne hervorgeht. Aber sie ist ganz das Gegenteil von allem, was man normalerweise Freude und Vergnügen nennt, und man muss diese vollkommen aufgegeben haben, um das andere bekommen zu können.
