Kapitel 4
Liebe auf den ersten Blick und die Ehe
Worte der Mutter
Liebe Mutter, warum fühlt man sich auf den ersten Blick von bestimmten Menschen angezogen und gegen andere empfindet man eine heftige Abneigung?
Meist beruht dies auf vitalen Ähnlichkeiten, auf nichts anderem. Manche vitale Schwingungen harmonieren miteinander und andere nicht. Dies ist es im Allgemeinen, nichts anderes. Es ist die vitale Chemie.
Man müsste in einem viel tieferen und hellsichtigeren Bewusstsein leben, damit dies etwas anderes sein kann. Es gibt eine innere Wahrnehmung, die auf einem seelischen Bewusstsein beruht, das einen spüren lässt, wer dieselbe Aspiration hat, dasselbe Ziel und wer ein Weggefährte sein kann; und diese Wahrnehmung macht einen auch hellsichtig für die, die einen ganz anderen Weg gehen oder die in sich Kräfte haben, die einem feindlich sind und einem in der Entwicklung schaden können. Aber um zu einer solchen Wahrnehmung zu gelangen, sollte man selbst ausschließlich mit seinem spirituellen Fortschritt und seiner vollständigen Verwirklichung befasst sein. Nun ist dies aber nicht oft der Fall. Und wenn man zu dieser inneren Hellsichtigkeit gelangt ist, zeigt sich dies meist auch nicht durch Anziehung oder Abneigung, sondern durch ein sehr „objektives“ Wissen, so könnte man sagen, und eine Art innerer Gewissheit, die einen ruhig und überlegt handeln lässt, nicht jedoch mit Anziehungen und Abneigungen.
Man kann also allgemein und fast unbedingt sagen, dass die, die sehr deutliche und impulsive Sympathien und Antipathien haben, in einem vitalen Bewusstsein leben. Es können sich Ähnlichkeiten mentaler Art damit vermischen; das heißt, es gibt Kopfmenschen, die gern Beziehungen mit gemeinsamen Aktivitäten pflegen, aber auch da sind es Leute, die auf einem viel höheren intellektuellen Niveau leben, und dies zeigt sich auch durch eine relative Lockerheit in den Beziehungen und durch etwas viel Ruhigeres und Gelösteres. Es macht einem Spaß, mit bestimmten Personen zu reden, und andere haben überhaupt keinen Reiz, man findet da nichts Vorteilhaftes. Es ist etwas distanzierter und ruhiger; dies gehört mehr zur Welt der Vernunft. Aber Antipathie und Sympathie gehören eindeutig der vitalen Welt an. Also, es gibt eine vitale Chemie wie es eine physische Chemie gibt: Es gibt Körper, die sich abstoßen, und es gibt Körper, die sich anziehen; es gibt Substanzen, die sich verbinden, es gibt andere, die explodieren, und das ist nun einmal so. Es gibt vitale Schwingungen, die zusammenpassen, und die so sehr zusammenpassen, dass diese Sympathien zu neunundneunzig Prozent für Liebe gehalten werden, wie die Menschen es nennen, und dass sie plötzlich spüren: „Oh der! Auf den habe ich gewartet. Oh die! Die habe ich gesucht!“ (lachend), und sie stürzen aufeinander zu, bis sie merken, dass es sehr oberflächlich war und dass es Dinge sind, die nicht dauern können. Darum ist der erste Rat, den man denen gibt, die Yoga machen wollen: „Erhebt euch über Sympathien und Antipathien.“ Das ist etwas, das keine tiefe Wirklichkeit hat und das einen zumindest manchmal in fast unüberwindliche Schwierigkeiten bringen kann. Man kann mit diesen Dingen sein Leben ruinieren. Und das beste ist, dies unbeachtet zu lassen, in sich selbst ein wenig zurückzutreten und sich zu fragen, aus welchem – nicht sehr geheimnisvollen – Grund man mit dem einen gern und mit dem anderen nicht gern zusammenkommt.
Aber ich meine, es gibt einen Augenblick, wenn man ausschließlich mit seiner Sadhana beschäftigt ist, in dem man fühlen kann (aber viel subtiler und zugleich viel ruhiger), dieser Kontakt ist für die Sadhana günstig und der andere Kontakt ist schädlich. Aber dies nimmt immer eine sozusagen viel „lockerere“ Form an, und es steht oft sogar im Widerspruch zu den sogenannten Anziehungen und Abneigungen des Vitalen; sehr oft hat dies nichts mit ihnen zu tun.
Es ist also das Beste, dies aus einer gewissen Entfernung zu betrachten und sich wegen der Belanglosigkeit dieser Dinge eine kleine Predigt zu halten.
Es gibt offensichtlich Naturen, die fast von Grund auf schlecht sind, Wesen, die von Geburt an böse sind und gern Böses tun, und es ist logisch, wenn man in einem natürlichen, nicht pervertierten Zustand lebt wie die Tiere (denn so gesehen sind sie dem Menschen weit überlegen; die Pervertierung beginnt mit der Menschheit), dann hält man sich fern, wie man sich von etwas durch und durch Schädlichem fernhält. Aber zum Glück sind diese Fälle nicht sehr häufig, und im Leben begegnet man meistens sehr gemischten Naturen, bei denen es sozusagen eine Art Gleichgewicht zwischen dem Guten und dem Schlechten gibt, und man kann damit rechnen, dass man zugleich gute und schlechte Beziehungen hat. Es gibt keinen Grund, eine tiefe Antipathie zu fühlen, denn, da man selbst gemischt ist (lachend), gleich zu gleich gesellt sich gern!
Also, wenn man sich im spirituellen Sinn entwickeln will, muss man im Grunde genommen als erstes seine Antipathien ... und seine Sympathien überwinden. Betrachte dies alles mit einem Lächeln.

Worte Sri Aurobindos
Frage an Sri Aurobindo: X wollte wissen, welche Haltung ein Mann, der das höchste spirituelle Leben anstrebt, gegenüber der Heirat annehmen soll. X meint, dass er den Sexualtrieb hat und nicht nur bei Unterdrückung Zuflucht nehmen will.
Es ist eine sehr feinfühlige Sache, darauf zu antworten. Vielleicht kann man folgende Punkte mitteilen:
1. Was man gewöhnlich unter sexueller Anziehung versteht, ist hauptsächlich eine Anziehung zwischen Mann und Frau auf der vitalen und physischen Ebene. Sie wird gewöhnlich mit Gefühlen und Empfindungen vermischt und beinahe immer für Liebe oder seelische Beziehung gehalten.
2. Für jene, die das Leben ganz aufgeben wollen – das heißt, für Sanyasins (Asketen) usw. – kommt Heirat im üblichen Sinn überhaupt nicht in Frage. Denn sie gehört zu den hauptsächlichsten Dingen, die einen Mann heftig mit dem Leben verknüpfen. Von Natur aus hat die Frau die stärkere Neigung, sich an das Leben zu klammern. Im Allgemeinen zieht sie den Mann herab und bindet ihn an das Leben. Dies liegt in der Absicht der Natur, um die Menschenart und das Leben weiter zu erhalten.
3. Das andere ist ein Zusammentreffen des seelischen Wesens von Mann und Frau – eine Vereinigung von Seele mit Seele. Dies ist natürlich schwer zu erreichen.
Der erste Punkt bezieht sich auf das gewöhnliche Leben auf der vitalen und physischen Ebene.
Im höheren Leben gibt es zwei Wesensformen, zwei Abstufungen, wie Mann und Frau sich begegnen. Eine ist die seelische Vereinigung, die andere die spirituelle Vereinigung.
Der Mann, der ein hohes Ideal anstrebt – der Dichter, der Künstler, hat ein entwickeltes seelisches Wesen. Im gewöhnlichen Mann ist es unentwickelt. Für einen seelisch entwickelten Mann ist es einigermaßen schwierig, die richtige Frau zu finden. Aber wenn solch eine Vereinigung stattfindet, ist sie für beide eine große Hilfe.
Aber seine Frage wird sein, wie er die richtige Frau zum Heiraten finden soll.
Dabei kann es keine festen und engen Regeln geben. Man muss alles durch eine innere Wahrnehmung herausfinden.
Selbst wenn die Vereinigung des Seelischen zwischen den beiden stattfindet, können immer noch der mentale, vitale oder physische Wesensteil des einen mit jenem des anderen zusammenstoßen, und es kann sein, dass der Gewinn, den man durch das seelische Wesen erhalten hat, durch diese Disharmonie verdorben wird. Wenn aber das seelische Wesen in beiden überwiegt, dann können sich diese Schwierigkeiten in beiden allmählich klären. Am allerschwierigsten ist es, die spirituelle Beziehung zwischen Mann und Frau zu erreichen. Wenn der Mann, der das höhere Leben anstrebt, der Sucher nach dem göttlichen Bewusstsein – der Purusha -, die richtige Frau findet, die Frau, die seine Shakti (Kraft) ist, dann wird sein spirituelles Leben, das Leben, das er manifestieren soll, bereichert und vollständig werden. Auch in diesem Fall ist die seelische Vereinigung der beiden da.
Im Fall jener, die als Anfang die richtige seelische Vereinigung erreicht haben, kann sich die spirituelle Beziehung allmählich bilden und manifestieren.
Bei der spirituellen Einswerdung muss die Frau, welche die Shakti ist, eine wirkliche Kraft sein – das heißt, eine kraftvolle Persönlichkeit, die die Hilfe des Purusha auf die richtige Weise empfangen kann. Jeder muss für den anderen eine echte Hilfe sein: Diese Art der Beziehung ist am schwierigsten zu erreichen. Die Schwierigkeiten tauchen bei dem Sadhaka auf; für den Siddha (die vervollkommnete Seele) gibt es keine Schwierigkeiten. Wenn seine Shakti da ist, weiß er, wo sie ist, und wird sie finden.
Ist die Shakti für den supramentalen Yoga nötig?
Für den Yoga ist die Shakti nicht notwendig: auch ohne sie können vollständiges Wissen, Bewusstsein, Kraft und Ananda erlangt werden. Aber wenn diese Seinsweisen in das Leben gebracht werden und dort verkörpert werden sollen, wird die Shakti notwendig. Ist sie nicht da, kann der Mann das Wissen, die Kraft, das Ananda und alles andere in sich nicht in das Leben bringen. In dem Fall kann er nur den Weg für das Werk vorbereiten, um es in einer zukünftigen Zeit zu vollenden.
Angenommen ein Mann, der nach dem spirituellen Leben strebt, heiratet. Was würde ihm geschehen?
Wenn solch ein Mann heiratet, können drei Dinge passieren:
1. Ist es eine gewöhnliche Heirat, kann es sein, dass er zusätzlich zu den Sorgen, Ängsten und Verpflichtungen, mit denen er beladen ist, auf eine niedere Bewusstseinsstufe herabgezogen wird. In diesem Fall könnte er die Aspiration nach dem höheren Leben verlieren und vollständig durch den Einfluss der Frau verändert werden.
2. Es könnte sein, dass er durch die Heirat spirituell vollständig ruiniert wird.
3. Oder es kann eine große Hilfe für ihn sein, wenn er die richtige Frau findet.
Du kannst X schreiben, dass Sri Aurobindo nicht an Heirat glaubt, wie sie in der gegenwärtigen Gesellschaft und als Institution existiert. Er empfiehlt niemandem, zu heiraten oder nicht zu heiraten; jeder muss sich selbst entscheiden.
Bei Leuten, die nach einer Art höheren Lebens suchen, und dabei wieder besonders bei jenen, die ein starkes vitales Wesen haben, ist es verbreitet, eine Neigung zu vitalen Freuden und vitalen Beziehungen zu Frauen zu haben. Sri Aurobindo hat dagegen nichts einzuwenden, wenn es als Erfahrung und Wahrnehmung dient. Nur müssen sie im Leben eines Yogi in die Regungen der Höheren Natur umgewandelt werden.

Zur Hochzeit
Worte der Mutter
...Natürlich ist die ganze Idee der Ehe amüsant, weil ich die Sache für kindisch halte.
Du weißt, dass es in Auroville keine Ehen geben wird. Wenn ein Mann und eine Frau einander lieben und zusammenleben wollen, können sie dies ohne jede Zeremonie tun. Wenn sie sich trennen wollen, können sie das auch frei tun. Warum sollten Menschen gezwungen werden, zusammenzubleiben, wenn sie aufgehört haben, einander zu lieben?
Viele Verbrechen würden verhindert, wenn die Menschen in dieser Hinsicht frei wären. Sie müssten nicht Dinge voreinander verbergen oder gar Verbrechen begehen, um sich zu trennen. Natürlich werden sie, wenn sie sich wirklich lieben, weiterhin ganz natürlich zusammenleben, ohne durch irgendein Gesetz dazu gezwungen zu sein. Deshalb ist diese Zeremonie und dieses Ritual der Ehe so kindisch.
In Auroville geborene Kinder werden keinen Familiennamen haben. Sie werden nur den Vornamen haben.
(Die Mutter schlug vor, den folgenden Brief von ihr über die Ehe mit der obigen Erklärung zu veröffentlichen).
Euer körperliches Leben und eure materiellen Interessen zu vereinen, euch zu verbinden, um gemeinsam den Schwierigkeiten und Erfolgen, den Niederlagen und Siegen des Daseins gegenüberzutreten – dies ist die eigentliche Grundlage der Heirat. Aber ihr wisst ja bereits, dass dies nicht genügt.
In den Empfindungen vereint zu sein, den gleichen Geschmack und die gleichen ästhetischen Neigungen zu haben, vor den gleichen Dingen zusammen zu schwingen, einer durch den anderen und einer für den anderen – das ist gut, das ist notwendig. Aber es ist nicht genug.
In den tiefen Gefühlen eins zu sein, in der gegenseitigen zärtlichen Zuneigung trotz aller Schläge des Daseins unverändert zu bleiben und Ermüdung, Anspannung und Enttäuschung zu ertragen, immer und in jeder Lage über eure Gemeinschaft glücklich, am allerglücklichsten zu sein, einer beim anderen in allen Umständen Ruhe, Frieden und Freude zu finden – das ist gut, das ist sehr gut, es ist unerlässlich. Aber es ist nicht genug.
Eure Mentalitäten zu vereinen, eure Gedanken aufeinander abzustimmen, so dass sie sich ergänzen, die Beschäftigungen und Entdeckungen eures Verstandes miteinander zu teilen, kurz, die Bereiche eurer mentalen Tätigkeit zu einem einzigen zu machen durch eine Erweiterung und Bereicherung, die beide gleichzeitig erwerben – das ist gut, das ist ganz und gar notwendig. Aber es ist nicht genug.
Jenseits von alledem, auf dem Grunde, im Mittelpunkt, auf dem Gipfel des Seins ist eine Höchste Wahrheit des Seins, ein Ewiges Licht, unabhängig von den Umständen der Geburt, des Landes, der Umwelt und der Erziehung: Ursprung, Ursache und Meister unserer spirituellen Entwicklung – Das ist es, was unserem Dasein die endgültige Richtung gibt, Das entscheidet unsere Bestimmung, im Bewusstsein dessen solltet Ihr euch vereinen, in der Aspiration und im Anstieg eins zu sein, im gleichen Schritt auf dem gleichen spirituellen Pfade vorwärtszugehen – dies ist das Geheimnis dauerhafter Vereinigung.
