Kapitel 4

Komme aus dem Halb-Bewusstsein heraus

Worte der Mutter

Zu entdecken, wer man wirklich ist, herauszufinden, warum man auf der Erde ist, was für einen Grund das physische Dasein, diese Anwesenheit auf der Erde, diese Gestaltung, diese Existenz hat … nun, die große Mehrheit der Menschen lebt, ohne sich das auch nur einmal zu fragen! Nur eine kleine Elite von Menschen stellt sich interessiert die Frage, und noch viel weniger Menschen machen sich an die Arbeit, die Antwort zu bekommen. Denn das ist nicht etwas, das man so leicht findet, außer man hat die Gelegenheit, mit jemandem zusammen zu sein, der es weiß. Nimm einmal an, du hättest nie ein Buch von Sri Aurobindo in der Hand gehabt oder von irgendeinem Schriftsteller, Philosophen oder Weisen, der sein Leben diesen Nachforschungen gewidmet hat; wenn du in der gewöhnlichen Welt wärst, so wie es Millionen von Menschen sind, die noch nie, außer gelegentlich – heutzutage ja sogar ziemlich selten – von bestimmten Gottheiten und einer bestimmten Religionsform gehört haben, die mehr eine Gewohnheit als ein Glaube ist und die einem im Übrigen selten mitteilt, warum man auf der Erde ist… nun, dann käme es dir nicht einmal in den Sinn, daran zu denken. Man lebt so in den Tag hinein und erlebt, was jeder Tag so bringt. Wenn man jung ist, denkt man ans Spielen, ans Essen und etwas später ans Lernen, und danach denkt man an all die Lebensumstände. Aber sich diese Frage zu stellen, sich diesem Problem zu stellen und sich zu sagen: „Also, warum bin ich eigentlich hier?“ Wie viele tun das? Manchen Leuten kommt dieser Gedanke erst angesichts einer Katastrophe. Wenn sie jemand sterben sehen, den sie lieben, oder wenn sie in besonders schmerzliche und schwierige Situationen geraten, dann besinnen sie sich auf sich selbst, wenn sie intelligent genug sind, und sagen sich: „Also, was ist das eigentlich für eine Tragödie, in der ich lebe, wozu ist die gut und welchen Zweck soll sie haben?“

Und erst von diesem Augenblick an beginnt man zu suchen, um zu verstehen.

Und erst wenn man herausgefunden hat… dass man ein göttliches Selbst hat und infolgedessen versuchen muss, dieses göttliche Selbst kennenzulernen … Das kommt viel später, und doch, trotz allem, gibt es gleich vom Augenblick der Geburt in einem physischen Körper im Wesen, im Wesensgrund, diese seelische Gegenwart, die das ganze Wesen zu dieser Verwirklichung drängt. Aber wer weiß von ihm und wer kennt es, dieses seelische Wesen? Auch das kommt nur unter bestimmten Umständen hervor, und leider müssen es meistens schmerzliche Umstände sein, sonst lässt man sich treiben, ohne nachzudenken. Und tief im Inneren lebt dieses seelische Wesen, das immer wieder versucht, das Bewusstsein zu erwecken und die Einung wiederherzustellen. Doch man weiß nichts davon.

Als du zehn Jahre alt warst, wusstest du das? Nein, nicht wahr. Nun, und dennoch wollte es dein seelisches Wesen im Wesensgrund und suchte danach. Wahrscheinlich hat es dich hierher geführt [in den Ashram].

So vieles geschieht, und man fragt sich nicht einmal, warum. Man nimmt es hin … es ist eben so, weil es so ist…

Es gibt einen so großen Unterschied zwischen dem verschwommenen Gefühl, dem tastenden Eindruck von etwas, von einer Kraft, einer Regung, einem Impuls, einer Anziehung, von etwas, das einen im Leben treibt – es ist noch so vage, so ungewiss, so verhangen –, und einem klaren Sehen, einer genauen Wahrnehmung, dem vollständigen Verstehen der Bedeutung seines Lebens. Und erst in diesem Augenblick beginnt man die Dinge zu sehen, wie sie sind, nicht vorher. Erst in diesem Augenblick kann man seinen Schicksalsfaden verfolgen, nimmt man klar das Ziel und den Weg dazu wahr. Dies geschieht jedoch durch aufeinanderfolgende innere Erweckungen, gleichsam Türen, die sich plötzlich zu neuen Horizonten öffnen – wirklich, eine neue Geburt in ein wahreres, tieferes, dauerhafteres Bewusstsein hinein.

Bis dahin lebt man in einer Wolke, aufs Geratewohl, unter dem Gewicht des Schicksals, das einen manchmal erdrückt, bei dem man das Gefühl hat, man sei auf eine bestimmte Art angelegt und könne nichts dafür. Man kriecht unter der drückenden Last seines Lebens am Boden dahin, statt sich darüber zu erheben und alle Fäden, die roten Fäden wahrzunehmen, die Fäden, die die verschiedenen Dinge in einer einzigen Fortschrittsbewegung zu einer klar werdenden Verwirklichung hin vereinigen.

Man muss aus diesem Halbbewusstsein herausspringen, das man meistens als ganz natürlich ansieht – es ist deine Art, „normal“ zu sein, und du trittst nicht einmal genügend zurück, um sehen zu können und dich über diese Ungewissheit, über diesen Mangel an Genauigkeit zu wundern; im Gegenteil, wissen, was man sucht, und bewusst, freiwillig, unnachgiebig und methodisch zu suchen, ist der außergewöhnliche, fast „abnormale“ Zustand. Und doch fängt man erst so wirklich zu leben an.