Kapitel 4

Die Erinnerung an vergangene Leben

Die abgeschiedene Seele bewahrt die Erinnerung ihrer vergangenen Erfahrungen nur in der Essenz, nicht aber in Form von Einzelheiten. Nur wenn die Seele eine vergangene Persönlichkeit oder vergangene Persönlichkeiten zurückbringt und als einen Teil in ihre gegenwärtige Manifestation miteinbezieht, ist es wahrscheinlich, dass man sich der Einzelheiten des vergangene Lebens erinnert. Andernfalls kann man allein durch yogadrsti [die yogische Schau] zu einer Erinnerung kommen.

SRI AUROBINDO (22:434)

Bei der Wiedergeburt ist es nicht das äußere Wesen, das von den Eltern, der Umgebung und den Umständen geformt wird – das Mental, das Vital und das Physische – das wiedergeboren wird: es ist allein das seelische Wesen, das von Körper zu Körper wandert. Logischerweise können daher weder das mentale noch das vitale Wesen vergangene Leben erinnern oder sich in dem Charakter oder den Lebensumständen von dieser oder jener Person wiedererkennen. Das seelische Wesen allein vermag sich zu erinnern; und indem wir uns unseres seelisches Wesens bewusst werden, können wir gleichzeitig genaue Eindrücke unserer vergangenen Leben haben.

DIE MUTTER (15:135)

Im gewöhnlichen Leben – und hiermit meine ich das Leben einer gewissen Elite von Menschen von hinreichend hoher Entwicklungsstufe – findet der Kontakt zwischen dem äußeren Wesen und der Seele nur mit Unterbrechungen statt; er ist das Ergebnis von gewissen Erfahrungen oder gewissen inneren Erfordernissen. Das seelische Wesen ist dann „im Vordergrund“ wie Sri Aurobindo sagt, das heißt, es kommt zur Oberfläche des Bewusstseins, es ist für sehr kurze Zeit in direktem Kontakt mit stofflichen Voraussetzungen, mit Formen und Worten und Klängen usw. Es zeichnet all dies auf wie eine Photographie oder ein Film, aber nur für eine Minute, für ein paar Augenblicke in einer Lebenszeit. Diese Augenblicke können sich öfter wiederholen, sie dauern aber nicht an; und daran erinnert sich das seelische Wesen; und wenn du wirklich echte seelische Erinnerungen hast, wahrhaft, spontan, nicht vom Mental oder Vital fabriziert, das heißt also rein seelisch und genau – dann ist es eine unterbrochene Erinnerung. Und es ist oft sehr schwierig, den Ort deiner vergangenen Leben zu ermitteln, zu sagen: „Ich war dies oder jenes.“ Allein dann, wenn die seelische Erfahrung in einem sehr wichtigen Augenblick deines Lebens stattgefunden hat, und eine ganze Reihe von Umständen (Kleider, gesprochene Worte, Sitten oder eine bestimmte Umgebung) dir gleichsam den Schlüssel zur Geschichte geben, erst dann kannst du sagen: „Oh, dieses Leben, ich habe es gelebt.“ Doch wenn jemand kommt und erzählt dir all seine vergangenen Leben, vom Affen angefangen, mit einer Menge Einzelheiten, kannst du sicher sein, dass er nichts als ein Schwindler ist.

DIE MUTTER (4:147)

Wie kommt es, dass man in Zeitungen recht oft die Geschichten von kleinen Kindern liest, die ihre vergangenen Leben erinnern, deren Einzelheiten nachgewiesen werden können? Und die Untersuchung solcher Ereignisse hat die Parapsychologen dahin geführt, die Existenz der Reinkarnation anzuerkennen. Sind sie nicht eigentlich auf einer völlig falschen Spur? Und wie kann Reinkarnation wissenschaftlich bewiesen werden?

Die Erinnerungen, auf die du dich beziehst, die in Zeitungen erwähnt werden, sind Erinnerungen des vitalen Wesens, das ausnahmsweise einen Körper verließ, um in einen anderen einzutreten. So etwas kann geschehen, es ist aber nicht häufig.

Die Erinnerung, auf die ich mich beziehe, ist die des seelischen Wesens, und man ist sich ihrer nur dann bewusst, wenn man einen bewussten Kontakt mit seinem seelischen Wesen hat.

Zwischen den beiden Dingen besteht kein Widerspruch.

DIE MUTTER (15:137)

In neunhundert und neunzig Fällen von tausend ist es nur die winzige seelische Formierung im Zentrum des Wesens, die nach dem Tode fortbesteht; alles übrige wird aufgelöst, zerfällt in Teile, hier und dort verstreut, die Individualität besteht nicht länger. Nun, wie oft im physischen Leben nimmt die Seele bewusst teil an dem, was das physische Wesen tut? … Ich spreche nicht von Leuten, die den Yoga ausüben und etwas diszipliniert sind; ich spreche von den durchschnittlichen Menschen, die eine seelische Befähigung haben in dem Sinne, dass ihre Seele bereits hinreichend entwickelt ist, um in das Leben einzugreifen und es zu leiten – manche verbringen Jahre um Jahre, ohne dass die Seele eingreift. Und sie kommen und erzählen dir, in welchem Lande sie geboren wurden, und wie ihr Vater und ihre Mutter aussahen und das Haus, in dem sie lebten, das Dach der Kirche und der Wald nahebei, sowie all die höchst zufälligen Ereignisse ihres Lebens! Es ist absolut idiotisch, denn all das ist weggewischt, diese Dinge existieren nicht länger; während die Erinnerung, die man noch haben mag, diejenige eines besonderes Augenblicks unter besonderen Lebensumständen ist, sozusagen Augenblicke von entscheidender Bedeutung, an denen die Seele, infolge eines inneren Rufes oder einer absoluten Notwendigkeit plötzlich teilnimmt – ganz plötzlich greift die Seele ein –, und das ist dann in der seelischen Erinnerung eingraviert. Wenn du die seelische Erinnerung hast, erinnerst du eine Reihe von Umständen in einem [bestimmten] Augenblick im Leben, besonders der inneren Emotion, oder des Bewusstseins, das in jenem Augenblick wirkte. Und das geht dann in das Bewusstsein über, zusammen mit einigen Assoziationen all dessen, was um dich herum war, vielleicht ein gesprochenes Wort, eine gehörte Redewendung; das Wichtigste aber ist der Seelenzustand, in dem du dich befandest: denn das bleibt tatsächlich sehr klar eingeprägt. Dies sind die Marksteine des seelischen Lebens, Dinge, die einen riefen Eindruck hinterlassen und an seiner Formung teilgenommen haben. Wenn du daher beständigen, fortwährenden, klaren Kontakt mir dem seelischen Wesen in dir hast, sind es diese Dinge, die du erinnerst. Es mag ziemlich wenige geben, doch sind sie wie Feuergarben im Leben, und man kann nicht sagen: „Ich war solch eine Person, ich rar solch eine Sache, ich wurde bei diesem Namen genannt und ich tat dies oder jenes.“ Oder es würde bedeuten, dass in jenem seltenen Augenblick eine Kombination vom Umständen bestand, die es einem ermöglichte, das Datum oder den Ort, das Land und das Alter bestimmen zu können. Auch das ist möglich.

Natürlich, die Seele hat einen immer größeren Anteil und dementsprechend wird die Anzahl der Erinnerungen größer. Und dann kann man sein Leben zurückverfolgen, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Man kann sagen, dass es in gewissen Augenblicken „so war“ oder dass „ich das war“. Gewisse Augenblicke, ja, sehr wichtige Augenblicke eines Lebens … Was notwendig ist, ist ein Wesen, das ganz mit der Seele identifiziert ist, das sein ganzes Dasein um sie angeordnet hat – alle kleinsten Teile, alle Elemente, alle Regungen des Wesens um das seelische Zentrum –, das aus sich ein einziges Wesen gemacht hat, allein dem Göttlichen zugewandt; dann, wenn der Körper abfällt, bleibt das erhalten. Es ist ein vollständig geformtes bewusstes Wesen, das in einem anderen Leben genau erinnern kann, was im vorherigen geschehen ist. Es vermag sogar bewusst von einem Leben zum anderen zu gehen, ohne etwas von seinem Bewusstsein einzubüßen. Wieviele Menschen auf Erden haben jenes Stadium erreicht? … Ich glaube, nicht viele. Und im Allgemeinen verspüren sie nicht die geringste Neigung, ihre Erlebnisse mitzuteilen.

DIE MUTTER (5:33)

Allein, wenn man mit seinem göttlichen Ursprung bewusst identifiziert ist, kann man wahrheitsgemäß von einer Erinnerung an vergangene Leben sprechen. Sri Aurobindo spricht von einer progressiven Manifestation des Spirits in den Formen, in denen er wohnt. Wenn man den Gipfel dieser Manifestation erreicht, hat man eine Vision, die hinabtaucht, entlang des zurückgelegten Weges, und man erinnert.

Doch ist dieses Erinnern keine mentale Sache. Jene, die behaupten, ein gewisser Baron des Mittelalters gewesen zu sein, oder eine bestimmte Person, die an diesem oder jenem Ort zu dieser oder jener Zeit lebte, sind phantasiereiche Menschen, einfach Opfer ihrer eigenen mentalen Vorstellungswelt. Was tatsächlich von vergangenen Leben bleibt, sind nicht schöne Bilder, in denen du als mächtiger Herr in einem Schloss oder als siegreicher General an der Spitze einer Armee erscheinst – das sind romantische Vorstellungen. Was bleibt, ist die Erinnerung jener Augenblicke, in denen das seelische Wesen aus den Tiefen deines Seins auftaucht und sich dir enthüllt – das heißt die Erinnerung jener Augenblicke, in denen du voll bewusst warst. Dieses Wachsen des Bewusstseins findet fortschreitend im Laufe der Evolution statt, und die Erinnerung an vergangene Leben ist im Allgemeinen auf die kritischen Augenblicke der Evolution beschränkt, auf die entscheidenden Wendungen, die den Fortschritt deines Bewusstseins bezeichneten.

Zu dem Zeitpunkt, an dem du solche Augenblicke deines Lebens erlebst, ist es dir gleichgültig zu erinnern, dass du Mr. X. warst, eine bestimmte Person, die an einem bestimmten Orte und in einer bestimmten Epoche lebte; es ist nicht die Erinnerung an deinen Status, die erhalten bleibt. Im Gegenteil, du verlierst alles Bewusstsein dieser kleinen äußeren Dinge, der Begleiterscheinungen und Vergänglichkeiten, damit du voll im Lodern der Enthüllung deiner Seele oder der göttlichen Fühlungnahme aufgehen kannst. Wenn du solche Augenblicke deiner vergangenen Leben zurückrufst, ist die Erinnerung so intensiv, dass sie noch sehr nah zu sein scheint, noch lebendig und viel lebendiger als die meisten gewöhnlichen Erinnerungen unseres gegenwärtigen Lebens. Manchmal, in Träumen, wenn du in Kontakt mit gewissen Ebenen des Bewusstseins kommst, kannst du Erinnerungen von solcher Intensität haben, solch pulsierender Färbung, gleichsam intensiver als die Farben und Dinge der physischen Welt. Denn dies sind Augenblicke des wahren Bewusstseins, und alles erscheint in außergewöhnlicher Brillanz, alles vibriert, alles ist durchtränkt von einer Beschaffenheit, die dem gewöhnlichen Auge entgeht.

Diese Minuten des Kontaktes mit der Seele sind oft jene, die eine entscheidende Wende unseres Lebens bezeichnen, einen Schritt nach vorn, einen Fortschritt im Bewusstsein, und sie gehen oft mit einer Krise einher, einer äußeren intensiven Situation, wenn ein Ruf an das ganze Wesen ergeht, ein Ruf, so stark, dass das innere Bewusstsein die es überlagernden Schichten des Unbewussten durchdringt und voll leuchtend an der Oberfläche enthüllt wird. Dieser Ruf des Wesens, wenn er sehr stark ist, kann auch die Herabkunft einer göttlichen Emanation bringen, einer individuellen Existenz, eines göttlichen Aspektes, der sich mit deiner Individualität in einem bestimmten Augenblick verbindet mit dem Zweck, eine aufgetragene Arbeit zu verrichten, einen Kampf zu gewinnen, oder die eine oder andere Sache auszudrücken. Wenn die Arbeit getan ist, zieht sich die Emanation oft zurück. Dann kann es sein, dass man die Erinnerung der Umstände bewahrt, die jene Minuten der Enthüllung oder Inspiration begleiteten: man sieht wiederum die Landschaft, die Farbe des Kleides, das man trug, die Farbe der eigenen Haut, die Dinge, die einem zu jenem Zeitpunkt umgaben – all das ist unauslöschlich und mit ungewöhnlicher Intensität fixiert; denn die Dinge des gewöhnlichen Lebens enthüllen sich dann in ihrer wahren Eindringlichkeit und Farbe. Das Bewusstsein, das sich in dir offenbart, offenbart gleichzeitig das Bewusstsein in den Dingen. Manchmal vermagst du mit Hilfe dieser Einzelheiten das Zeitalter, in dem du lebtest, zu identifizieren, oder deine Tätigkeit oder das Land, in dem du wohntest; es ist aber auch sehr leicht, sich etwas einzubilden und die Einbildung für Wirklichkeit zu halten.

Dennoch darfst du nicht glauben, dass alle Erinnerungen an vergangene Leben Augenblicke einer großen Krise sind, einer wichtigen Mission oder einer Enthüllung. Manchmal sind es Augenblicke von sehr einfacher Art, transparent, die eine umfassende, eine vollendete Harmonie des Wesens ausdrücken. Und dies mag mit insgesamt unbedeutenden, äußeren Situationen einhergehen.

Abgesehen von den Dingen, die in jenem Augenblick in deiner unmittelbaren Nähe waren, abgesehen von dem Augenblick des Kontaktes mit deinem seelischen Wesen, bleibt nichts erhalten. Wenn einmal der besondere Augenblick vorüber ist, stürzt sich das seelische Wesen in einen inneren Schlaf, und das ganze äußere Leben verschmilzt mit einer grauen Monotonie, die keine Spuren hinterlässt. Es ist übrigens beinahe die gleiche Erscheinung, wie die, die sich im Laufe deines gegenwärtigen Lebens ereignet: abgesehen von jenen außergewöhnlichen Augenblicken, wenn du auf der Höhe deines Wesens bist, mental oder vital oder sogar physisch, scheint dein übriges Leben mit einer Art neutralen Farbe zu verschmelzen, nicht weiter interessant, wo es wenig ausmacht, ob du an diesem Ort oder einem anderen warst, ob du diese Sache tatest oder jene. Wenn du versuchst, dein Leben als Ganzes zu betrachten, um gleichsam seine Essenz zu gewinnen, werden die zwanzig oder dreißig oder vierzig Jahre, die hinter dir liegen – wie du sehen wirst – spontan zwei oder drei Bilder erstehen lassen, welche die wahren Augenblicke deines Lebens waren; das übrige ist ausgelöscht. Eine Art spontane Wahl wirkt in deinem Bewusstsein und eine riesige Eliminierung findet statt. Dies gibt dir einen kleinen Begriff von dem, was sich hinsichtlich der vergangenen Leben ereignet: die Wahl einiger weniger, auserlesener Augenblicke und eine ungeheure Eliminierung.

Es ist durchaus richtig, dass die frühesten Leben sehr rudimentär sind; ganz wenig ist davon erhalten, verstreute Erinnerungen, wenig und in großen Abständen. Doch je mehr man Bewusstseinsmäßig fortschreitet, desto mehr wird das seelische Wesen mit den äußeren Tätigkeiten bewusst verknüpft; die Erinnerungen wachsen an Zahl und werden zusammenhängend und genau. Und dennoch, auch hier ist die bleibende Erinnerung jene des Kontaktes mit der Seele, und manchmal das, was mit der seelischen Offenbarung assoziiert war – nicht der Status oder die wechselnde Umgebung. Und das erklärt auch, warum die sogenannten Erinnerungen an vergangene Tierleben die phantastischsten sind: der göttliche Funke in ihnen ist viel zu tief begraben, um bewusst an die Oberfläche zu gelangen, und mit dem äußeren Leben assoziiert zu werden. Man muss ein voll bewusstes Wesen werden, bewusst in all seinen Teilen, gänzlich geeint mit dem göttlichen Ursprung, bevor man wahrhaft sagen kann, dass man seine vergangenen Leben erinnert.

DIE MUTTER (15:361)

Es gibt Menschen, die über das vergangene Leben von anderen sprechen können.

Ja, ich weiß. Ich weiß von vielen Dingen, ich habe alles gehört, was man hören kann. Sie erzählen eine Geschichte nach der anderen … Sie schauen dich an und sagen: „Du warst das und das in jenem Leben, du tatest dies und jenes.“ Nun, ich garantiere, es ist nicht wahr. Denn ich weiß, wie man erkennen kann, wo man eine Person gesehen hat, und was sie war und wie es ist – es ist nicht nur eine kleine Geschichte, die du in ein Buch schreibst. Wenn du in eine Person hineinsiehst, wenn du die Wahrnehmung hast, besonders die der seelischen Welt, die dich befähigt, die Seele dort zu erkennen – dann plötzlich kannst du die Szenerie erkennen, ein Bildnis, eine Form, ein Wort; es besteht eine Art von Assoziation, aufgrund deren, selbst im gegenwärtigen Wesen dieser Person, gewisse Sympathien und Attraktionen verbleiben, die von vergangenen Leben stammen. Doch wie gesagt, das sind „Augenblicke“ des Lebens. Und daher weiß man, dass man zwar die einzelnen Augenblicke zu erkennen vermag, man kann aber nicht über eine ganzes Leben sprechen.

DIE MUTTER (5:35)

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