Kapitel 4

Die aufsteigende Flamme

Worte der Mutter

Wenn die Sonne untergeht und alles still wird, setz dich einen Augenblick und kommuniziere mit der Natur: Du wirst fühlen, wie von der Erde, von unterhalb der Wurzeln der Bäume, die Aspiration einer intensiven Liebe und Sehnsucht nach oben aufsteigt und bis zu den höchsten Ästen und Zweigen hinaufströmt – eine Sehnsucht nach etwas, das Licht bringt und Glück schenkt, ein Sehnen nach dem Licht, das nun fort ist und dass sie zurückhaben möchten. Da ist ein Sehnen, so rein und intensiv, dass dein eigenes Wesen, wenn du die Regung in den Bäumen fühlen kannst, ebenfalls in einem inbrünstigen Gebet aufsteigen wird, einem Gebet um Frieden, Licht und Liebe, die hier nicht manifestiert sind.

Worte der Mutter

Aspiration ist wie ein Pfeil, so (Handbewegung). Du strebst also, du willst sehr ernsthaft verstehen, wissen, in die Wahrheit eindringen. Ja? Und mit dieser Aspiration machst du so (Handbewegung). Deine Aspiration steigt, steigt, steigt und steigt ganz gerade hoch, sehr kraftvoll, und dann schlägt sie gegen eine Art …, wie soll man sagen …, Deckel, der da ist, hart wie Eisen und äußerst dick, und sie kommt da nicht durch. Und dann sagst du: „Sieh, was nutzt es zu streben? Das bringt überhaupt nichts. Ich stoße an etwas Hartes und komme nicht durch!“ Doch du weißt von dem Wassertropfen, der auf den Felsen fällt und schließlich einen Abgrund macht: Er spaltet den Felsen von oben bis unten. Deine Aspiration ist ein Wassertropfen, der nicht fällt, sondern steigt. Durch das Aufsteigen schlägt und schlägt und schlägt er, und eines Tages ergibt das ein Loch, durch das Aufsteigen. Und wenn er das Loch macht, schießt er plötzlich aus dem Deckel heraus und dringt in die Unendlichkeit des Lichtes ein, und du sagst: „Oh, jetzt verstehe ich.“

So ist das.

Man muss also sehr beharrlich, sehr hartnäckig sein und eine Aspiration haben, die ganz gerade aufsteigt, das heißt die nicht hierhin und dorthin schweift und alles Mögliche sucht.

Worte der Mutter

Was soll man tun, wenn das Bewusstsein sich in seiner viel zu engen äußeren Form eingesperrt fühlt?

Vor allem nichts Gewaltsames, denn wenn du gewaltsam vorgehst, ermüdest du, verausgabst du dich und erreichst nichts. Du musst alle Kräfte der Aspiration sammeln. Bist du dir der inneren Flamme bewusst, musst du in diese Flamme alles geben, was das Stärkste in dir ist durch den Weg der Aspiration, durch einen Ruf, und dich so ruhig halten, wie du kannst, rufend, mit einem tiefen Vertrauen, dass die Antwort kommen wird. Nun, in diesem Zustand nimmst du deine Aspiration und gesammelte Kraft, deine innere Flamme und drückst behutsam gegen diese äußere Kruste, gewaltlos, aber beharrlich, solange du kannst und ohne dich zu erregen, zu beunruhigen oder ohne in Wallung zu geraten. Du musst vollkommen ruhig sein, rufen und drücken.

Das gelingt dir nicht beim ersten Mal. Du fängst so oft wieder an, wie es nötig ist, und auf einmal, eines Tages … bist du auf der anderen Seite! Da tauchst du auf in einem Meer von Licht.

Wenn du kämpfst, wenn du ruhelos bist und dich abmühst, erreichst du gar nichts. Und wirst du nervös, bekommst du bloß Kopfschmerzen, das ist alles.

Also, deine ganze Kraft der Aspiration zusammennehmen, in völliger Ruhe daraus etwas intensiv Gesammeltes machen, deiner inneren Flamme gewahr werden und alles hineinwerfen, was du kannst, damit sie immer höher und höher brennt, und dann mit deinem Bewusstsein rufen und – langsam – drücken. Es wird dir mit Sicherheit eines Tages gelingen.

Worte der Mutter

Strebe danach, wünsche es. Versuche immer selbstloser zu werden, aber nicht in dem Sinn, freundlicher zu anderen zu werden oder sich selbst zu vergessen, nicht das, sondern: immer weniger das Gefühl haben, eine Person zu sein, eine abgetrennte Wesenheit, etwas, das in sich selbst existiert, vom Rest isoliert.

Und dann vor allem – vor wirklich allem – diese innere Flamme, diese Aspiration, dies Bedürfnis nach Licht. Es ist eine Art – wie soll man es ausdrücken? – leuchtende Begeisterung, die dich erfasst. Es ist ein unwiderstehlicher Drang hinzuschmelzen, dich hinzugeben, nur noch im Göttlichen zu existieren.

In dem Augenblick hast du die Erfahrung der Aspiration.

Aber dieser Augenblick sollte völlig aufrichtig und so ganzheitlich wie möglich sein. Das alles sollte sich nicht nur im Kopf abspielen, nicht nur hier, sondern überall, in allen Körperzellen. Das gesamte Bewusstsein muss dies unwiderstehliche Bedürfnis haben… Das dauert eine gewisse Zeit, dann lässt es nach, vergeht. Diese Dinge behältst du nicht sehr lange. Aber dann, nach einer Weile, nach einem Tag oder nach einiger Zeit, kommt plötzlich die umgekehrte Erfahrung. Statt das Gefühl dieses Aufstiegs und all der anderen Dinge zu haben, gibt es das alles jetzt nicht mehr, und man hat das Gefühl von der Herabkunft, der Antwort. Und es gibt jetzt nur die Antwort. Es gibt nichts mehr außer dem göttlichen Denken, dem göttlichen Willen, der göttlichen Energie, dem göttlichen Handeln. Und auch dich gibt es nicht mehr.

Dies ist also die Antwort auf unsere Aspiration. Sie kann unmittelbar danach kommen – was allerdings selten geschieht. Hast du beides gleichzeitig, ist der Zustand vollkommen. Im Allgemeinen wechseln sie miteinander ab, nähern sich die Wechsel einander immer mehr, bis zu dem Augenblick, wo die Verschmelzung allumfassend ist. Und dann gibt es keinen Unterschied mehr. Ich habe einen mystischen Sufi sagen hören, der übrigens ein großer Musiker war, ein Inder, dass es für die Sufis einen höheren Zustand gebe als den der Anbetung und der Hingabe an das Göttliche, als den der Selbstunterwerfung, dass dies nicht die letzte Stufe sei: Die letzte Stufe des Fortschritts sei dann erreicht, wenn man keinen Unterschied mehr kennt, und dann gebe es diese Art Anbetung oder Hingabe oder Weihung nicht mehr. Es ist ein sehr einfacher Zustand, in dem man zwischen dem Göttlichen und sich keinerlei Unterschied mehr macht. Das kennen sie also. Es ist in ihren Büchern sogar beschrieben. Es ist ein bekannter Zustand, in dem alles ganz einfach wird. Man macht keine Unterschiede mehr. Es gibt nicht mehr diese ekstatische Hingebung an „Etwas“, das dich in jeder Hinsicht übersteigt, das du nicht verstehst und das das Ziel deiner Aspiration, deiner Weihung ist. Es gibt keinen Unterschied mehr. Wenn die Vereinigung vollkommen ist, gibt es keinen Unterschied mehr.

Ist dies das Ende des Fortschritts des Selbsts?

Es gibt nie ein Ende des Fortschritts – niemals ein Ende, man kann nie einen Punkt dort setzen.

Worte der Mutter

Liebe Mutter, man sagt, wenn man eine Sternschnuppe sieht und in dem Augenblick nach etwas sehnsuchtsvoll strebt, erfülle sich diese Aspiration im Laufe des Jahres. Ist das wahr?

Weißt du, was das bedeutet? – Diese Aspiration muss sich während der Zeit ausdrücken, in der die Sternschnuppe sichtbar ist, und das ist nicht lange, nicht wahr? Nun, wenn eine Aspiration fähig ist, sich in der Zeit auszudrücken, in der die Sternschnuppe sichtbar ist, bedeutet das, dass sie die ganze Zeit gegenwärtig ist, vorn im Bewusstsein – das trifft nicht auf gewöhnliche Dinge zu, es hat nichts damit zu tun, es handelt sich um eine spirituelle Aspiration. Tatsache ist aber, wenn du fähig bist, deine spirituelle Aspiration gerade in dem Augenblick auszusprechen, dann ist sie ganz vorn in deinem Bewusstsein, beherrscht sie dein Bewusstsein. Und was dein Bewusstsein beherrscht, kann sich zwangsläufig sehr rasch verwirklichen.

Ich hatte Gelegenheit, dieses Experiment zu machen. Genau das. In dem Augenblick, als die Sternschnuppe vorbeizog, in demselben Augenblick sprang es aus dem Bewusstsein hervor: „Die göttliche Einung verwirklichen, für meinen Körper.“ Genau in diesem Augenblick.

Und bevor das Jahr zu Ende ging, war es geschehen.

Doch es geschah nicht wegen der Sternschnuppe. Es geschah deshalb, weil das mein ganzes Bewusstsein beherrschte und ich nur daran dachte: Ich wollte nur dies, ich dachte nur daran, ich handelte nur deswegen. Und dann war das, wozu man im Allgemeinen ein ganzes Leben braucht – es heißt, das Minimum seien 35 Jahre! –, ehe noch zwölf Monate vergangen waren vollbracht.

Aber nur, weil ich an nichts anderes dachte.

Und weil ich nur daran dachte, konnte ich – gerade als die vorüberziehende Sternschnuppe aufleuchtete – nicht nur irgendeinen Eindruck formulieren, sondern in deutlichen Worten ausdrücken: „Die Einung mit dem Göttlichen verwirklichen“, dem inneren Göttlichen, dem Thema, von dem wir sprechen, genau das, wovon wir gerade sprechen.

Daher ist nicht die Sternschnuppe das Wichtige, sondern die Aspiration. Die Sternschnuppe ist nur so etwas wie ein äußeres Zeichen, nichts anderes. Aber es ist nicht notwendig, dass da eine Sternschnuppe ist, damit man schnell verwirklichen kann! Notwendig ist, dass der Wille des ganzen Wesens auf einen Punkt konzentriert ist.

Wir benutzen Cookies

Wir verwenden auf unserer Website nur für den Betrieb notwendige sowie sogenannte Session Cookies, also ausdrücklich keine Werbe- oder Trackingcookies.

Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Website zur Verfügung stehen.