Kapitel 4

Der Integrale Yoga

Worte Sri Aurobindos

Das Ziel des Yoga ist, in die Göttliche Gegenwart und in das Göttliche Bewusstsein einzutreten und davon erfüllt zu sein, das Göttliche allein um des Göttlichen willen zu lieben, in unserer Natur auf die Natur des Göttlichen abgestimmt und in unserem Willen, unseren Werken und unserem Leben das Instrument des Göttlichen zu sein. Es ist nicht sein Ziel, einen großen Yogi oder einen Übermenschen zu schaffen (obwohl dies möglich ist) oder sich an das Göttliche um der Macht des Egos, des Stolzes oder des Vergnügens willen zu klammern. Nicht Befreiung ist das Ziel, obwohl dadurch die Befreiung und alles Übrige kommen kann, doch darf all dies nicht unser Ziel sein. Das Göttliche allein ist unser Ziel.

Worte Sri Aurobindos

Ich habe niemals gesagt, dass mein Yoga in all seinen Elementen etwas völlig Neues ist. Ich habe ihn den Integralen Yoga genannt, weil er die Essenz und viele Vorgänge der alten Yogasysteme in sich aufnimmt – das Neue liegt in seinem Ziel, seinem Standpunkt und in der Vollständigkeit seiner Methode. In den frühen Stadien, mit denen ich mich hauptsächlich in Büchern wie „The Riddle of the World“ oder „Lights on Yoga“ oder in dem neuen, noch zu erscheinenden Buch „Bases of Yoga“ befasse, gibt es nichts, das ihn von alten Yogasystemen unterscheiden würde außer das Ziel, das seiner Weite zugrunde liegt, dem Geist seiner Bewegungen und der höchsten Bedeutung, die ihm innewohnt – und auch dem Schema seiner Psychologie und ihres Wirkens: Doch nachdem das in diesen Briefen weder schematisch oder systematisch entwickelt werden konnte, wurde es von jenen nicht erfasst, die nicht schon dadurch damit vertraut waren, dass sie sich mental oder durch ein gewisses Maß an Praxis damit auseinandergesetzt hatten. Die Einzelheiten oder die Methode der späteren Stadien des Yoga, die in wenig bekannte oder betretene Regionen führen, habe ich nicht veröffentlicht und beabsichtige dies gegenwärtig auch nicht zu tun.

Ich weiß sehr wohl, dass es scheinbar ähnliche Ideale und Erwartungen gab – die Vervollkommnung der Menschheit, gewisse tantrische Sadhanas, die Bemühung um vollkommene physische Siddhi bestimmter Yogaschulen usw. Ich habe diese Dinge erwähnt und dabei die Ansicht vertreten, dass die spirituelle Vergangenheit der Menschheit nicht nur eine Vorbereitung der Natur zur Erlangung des Göttlichen jenseits der Welt gewesen ist, sondern ebenfalls auf diesen nach vorwärts gerichteten Schritt, den die Evolution des Erdbewusstseins noch zu machen hat. Es interessiert mich aus diesem Grunde nicht im Geringsten – obwohl diese Ideale bis zu einem gewissen Grad den meinen gleichen, wenn sie auch nicht mit ihnen identisch sind –, ob dieser Yoga, sein Ziel und seine Methode als etwas Neues angesehen werden oder nicht. Das ist als solches unbedeutend. Das einzig Wichtige ist, dass er in sich als wahr von denjenigen erkannt wird, die ihn annehmen oder ausüben oder selber durch ihre Verwirklichung wahr machen. Es spielt keine Rolle, ob er als neu bezeichnet wird oder als Wiederbelebung und Wiederholung des Alten, das vergessen war. Ich betonte das Neue in ihm in einem Brief an einige Sadhaks, um ihnen zu erklären, dass eine Wiederholung des Ziels und der Idee alter Yogasysteme in meinen Augen nicht genügt, weshalb ich etwas zu Erreichendes aufzeigt habe, was bislang noch nicht erreicht und noch nicht klar erkannt wurde, obwohl es das natürliche, aber noch verborgene Resultat der vergangenen spirituellen Bemühungen ist.

Er ist, verglichen mit alten Yogasystemen, deshalb neu:

1. Weil er nicht auf eine Abkehr von der Welt und vom Leben um des Himmels und Nirvana willens abzielt, sondern auf einen Wandel des Lebens und Daseins, und zwar nicht als etwas Untergeordnetes und Zufälliges, sondern als ein deutliches und zentrales Ziel. Wenn es ein Herabkommen in anderen Yogasystemen gibt, dann ist es lediglich ein Zufall auf dem Weg oder das Ergebnis des Aufstieges – der Aufstieg ist in den traditionellen Yogasystemen die einzig wahre Sache. Hier, im Integralen Yoga, ist der Aufstieg der erste Schritt, er ist ein Mittel für die Herabkunft. Die Herabkunft eines neuen Bewusstseins, das durch den Aufstieg erreicht wird, ist der Stempel und das Siegel der Sadhana. Selbst Tantra und Vishnuismus enden in der Befreiung vom Leben. Hier ist das Ziel die göttliche Erfüllung im Leben.

2. Weil das Ziel, nach dem gesucht wird, nicht eine individuelle Verwirklichung zum Heile des Einzelnen ist, sondern etwas, das für das Erdbewusstsein hier gewonnen werden muss, eine kosmische, nicht allein eine überkosmische Verwirklichung. Das zu Gewinnende ist das Einbringen einer Bewusstseins-Macht (das Supramental), die bislang noch nicht in der Erd-Natur organisiert und direkt wirksam wurde, nicht einmal im spirituellen Leben, und daher noch organisiert und unmittelbar wirksam gemacht werden muss.

3. Weil eine Methode zur Erreichung dieser Absicht erarbeitet wurde, die so umfassend und ganzheitlich ist, wie dieses Ziel selbst, nämlich der totale und integrale Wandel des Bewusstseins und der menschlichen Natur, wobei alte Methoden aufgegriffen werden, aber nur als ein Teilaspekt und eine vorläufige Unterstützung zu anderen Methoden, die sich von diesen unterscheiden. Ich habe diese Methode (in ihrer Gesamtheit) oder etwas Ähnliches wie diese in den alten Yogasystemen weder verkündet noch verwirklicht gesehen. Wäre dem nicht so, hätte ich meine Zeit nicht damit vergeudet, in dreißigjähriger Suche und innerer Schöpfung einen Weg auszuhauen, wenn ich sicher zu meinem Ziel hätte heimeilen können, leicht galoppierend auf Wegen, die bereits gebahnt, ausgetreten, vollkommen kartographiert, asphaltiert, gesichert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sind. Unser Yoga ist keine Erneuerung der alten Wege, sondern ein spirituelles Abenteuer.

Worte Sri Aurobindos

Unser Yoga besteht aus einer doppelten Bewegung, dem Aufsteigen und dem Herabkommen. Man erhebt sich zu immer höheren Ebenen des Bewusstseins, doch zur selben Zeit bringt man ihre Macht nicht nur in Mental und Leben herab, sondern schließlich sogar in den Körper. Die höchste dieser Ebenen, diejenige, die unser Ziel ist, ist das Supramental. Erst wenn dieses herabgebracht werden kann, ist eine göttliche Umwandlung im Erdbewusstsein möglich.

Worte Sri Aurobindos

Durch Yoga können wir uns aus der Falschheit in die Wahrheit erheben, aus Schwäche in die Kraft, aus Schmerz und Kummer in die Seligkeit, aus Gebundenheit in die Freiheit, aus Tod in die Unsterblichkeit, aus Dunkelheit in das Licht, aus Verworrenheit in die Reinheit, aus Unvollkommenheit in die Vollkommenheit, aus Selbst-Zerteilung in die Einheit, aus Maya zu Gott. Jede andere Anwendung des Yoga geschieht spezieller und fragmentarischer Vorteile wegen, die zu verfolgen sich nicht immer lohnt. Nur das, was die Fülle Gottes zu besitzen zum Ziel hat, ist Purna Yoga. Der Sadhaka der Göttlichen Vollkommenheit ist der Purna Yogin.

Unser Ziel muss sein, vollkommen zu sein wie Gott in Seinem Wesen und Seiner Seligkeit vollkommen ist, rein zu sein wie Er rein ist, glückselig zu sein wie Er glückselig ist, und wenn wir selbst Siddhas, Vollkommene, im Purna Yoga sind, die ganze Menschheit zu derselben göttlichen Vollkommenheit zu führen. Es macht nichts, wenn wir unserem Ziel jetzt noch nicht gewachsen sind, sofern wir uns nur mit ganzem Herzen dem Versuch hingeben und dadurch, dass wir völlig darin und dafür leben, ein noch so kleines Stückchen auf dem Weg vorankommen. Selbst das wird dazu beitragen, die Menschen aus dem Kampf und dem Zwielicht, dem sie jetzt unterworfen sind, in die leuchtende Freude zu führen, die Gott für uns vorgesehen hat. Doch wie auch immer unser augenblicklicher Erfolg aussehen mag, unser festes Ziel muss sein, die ganze Reise zu vollenden und uns nicht zufrieden an irgendeinem Wegesabschnitt oder einem unzulänglichen Rastort niederzulassen.

Jeder Yoga, der uns völlig aus der Welt entfernt, ist eine zwar erhabene, aber enge Spezialisierung göttlicher Tapasya. Gott in Seiner Vollkommenheit umfängt alles. Auch wir sollten deshalb allumfangend werden.

Worte Sri Aurobindos

Das Ziel unseres Yoga ist Selbstvollendung, nicht Selbstannullierung.

Zwei Pfade bieten sich den Schritten des Yogin: Rückzug aus dem Universum und Vollendung im Universum. Das erste Ziel wird durch Askese erreicht, das zweite durch Tapasya. Das erste nimmt uns auf, wenn wir Gott im Dasein verlieren, das zweite wird erlangt, wenn wir das Dasein in Gott erfüllen. Lasst unseren Pfad den der Vollendung und nicht den der Preisgabe sein. Lasst den Sieg in der Schlacht und nicht die Flucht vor allen Konflikten unser Ziel sein.

Worte Sri Aurobindos

Das wirkliche Ziel eines Integralen Yoga und sein Konzept hindern uns, diese einfache und anstrengende, hochstrebende Methode anzunehmen. Die Hoffnung auf eine integrale Transformation verbietet uns, einen Abkürzungsweg einzuschlagen oder uns den Lauf zum Ziel dadurch leicht zu machen, dass wir alles abwerfen, was uns behindert. Denn wir haben uns daran gemacht, unser ganzes Wesen und die ganze Welt für Gott zu erobern. Wir sind entschlossen, ihm unser Werden wie unser Sein hinzugeben, und wir wollen nicht nur den reinen und nackten Geist einer entfernten und geheimen Gottheit in einem entlegenen Himmel als eine von allem entblößte Opfergabe darbringen oder alles, was wir sind, in einem Holocaust für ein regungsloses Absolutes vernichten. Das Göttliche, das wir verehren, ist nicht nur eine ferne außerkosmische Wirklichkeit, sondern eine halbverhüllte Manifestation, die uns hier im Universum gegenwärtig und nahe ist. Das Leben ist das Feld für eine noch nicht vollendete göttliche Offenbarung: Wir sollen hier im Leben, auf der Erde, im Körper – ihaiva, wie die Upanishaden betonen – die Gottheit enthüllen. Hier müssen wir ihre transzendente Größe, ihr Licht und ihre wunderbare Lieblichkeit unserem Bewusstsein zu etwas Wirklichem machen, es hier besitzen und, soweit das möglich ist, zum Ausdruck bringen. Wir müssen also in unserem Yoga das ganze Leben annehmen, um es bis zum Äußersten umzuwandeln. Es ist uns verboten, vor den Schwierigkeiten, die dieses Annehmen unserem sonstigen Ringen noch hinzufügen könnte, zurückzuweichen. Wenn dadurch auch der Pfad noch rauer, das Ringen noch komplexer und erschreckend hart wird, so ist das eine Kompensation dafür, dass wir später, an einem gewissen Punkte, einen ungeheuren Vorteil gewinnen. Denn sobald unser Mental richtig auf die zentrale Schau eingestellt und sobald unser Wille dahingehend umgewandelt ist, diesem einzigen Ziel nachzustreben, wird das Leben selbst zu unserem Helfer. Wir können nun unverwandt, wachsam und integral bewusst jede Einzelheit seiner Gestaltungen und jedes Ereignis seiner Abläufe als Nahrung für das Opferfeuer in unserem Inneren verwenden. Wir können, siegreich in unserem Kampf, die Erde selbst dazu nötigen, dass sie uns zu unserer Vollkommenheit hilft, und wir dürfen dann das, was wir verwirklichen, mit der Beute schmücken, die wir den Mächten, die uns Widerstand leisten, entrissen haben.

Wir benutzen Cookies

Wir verwenden auf unserer Website nur für den Betrieb notwendige sowie sogenannte Session Cookies, also ausdrücklich keine Werbe- oder Trackingcookies.

Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Website zur Verfügung stehen.