Kapitel 4

Das vollständige Ziel des Yoga

Durch Yoga können wir uns aus Unwahrheit in die Wahrheit erheben, aus Schwäche in die Kraft, aus Schmerz und Kummer in die Seligkeit, aus Knechtschaft in die Freiheit, aus Tod in die Unsterblichkeit, aus Dunkelheit in das Licht, aus Verworrenheit in die Reinheit, aus Unvollkommenheit in die Vollendung, aus Selbst-Zersplitterung in die Einheit, aus Maya zu Gott. Jede andere Anwendung des Yoga geschieht spezieller und fragmentarischer Vorteile wegen, die zu verfolgen sich nicht immer lohnt. Nur was die Fülle Gottes zu besitzen zum Ziel hat ist Purna Yoga; der Sadhaka der Göttlichen Vollkommenheit ist der Purna Yogin.

Unser Ziel muss es sein, vollkommen zu sein wie Gott in Seinem Sein und Seiner Seligkeit vollkommen ist, rein zu sein wie Er rein ist, glückselig zu sein wie Er glückselig ist, und wenn wir selbst siddha im Purna Yoga sind, die ganze Menschheit zu derselben göttlichen Vollkommenheit zu führen. Es macht nichts, wenn wir unserem Ziel jetzt noch nicht gewachsen sind, sofern wir uns nur mit ganzem Herzen dem Versuch hingeben und dadurch, dass wir völlig darin aufgehen, ein noch so kleines Stückchen auf dem Weg vorankommen. Selbst das wird dazu beitragen, die Menschen aus dem Kampf und dem Zwielicht, dem sie jetzt unterworfen sind, in die leuchtende Freude zu führen, die Gott für sie vorgesehen hat. Doch wie auch immer unser augenblicklicher Erfolg aussehen mag, unser festes Ziel muss es sein, die ganze Reise zu vollenden und uns nicht zufrieden an irgendeinem Wegesabschnitt oder einem unzulänglichen Rastort niederzulassen.

Jeder Yoga, der uns völlig aus der Welt entfernt, ist eine zwar erhabene, aber enge Spezialisierung göttlicher Tapasya. Gott in Seiner Vollkommenheit umfängt alles; auch wir sollten deshalb allumfassend werden.

Gott in Seinem äußersten Sein jenseits aller Manifestation und Erkenntnis ist das Absolute Parabrahman. In Beziehung zur Welt ist Er das, was alles kosmische Dasein transzendiert, ob es dieses nun betrachtet oder sich davon abkehrt. Er ist es, der das Weltall enthält und erhält; Er ist es, der zum Weltall wurde: Er ist das Weltall und alles, was darin enthalten ist.

Ebenso ist Er die Absolute und Höchste Persönlichkeit, als welche Er im Weltall und als das Weltall spielt. Im Weltall scheint Er dessen Seele und Herr zu sein; als das Weltall scheint Er die Bewegung oder das Wirken des Willens des Herrn zu sein und zu allen subjektiven und objektiven Ergebnissen der Bewegung zu werden. Alle Zustände Brahmans, der transzendente, der enthaltende, der kosmische und der individuelle, sind erfüllt und getragen von der göttlichen Persönlichkeit. Er ist zugleich das Seiende und der Zustand des Seins. Wir nennen den Zustand des Seins das Unpersönliche Brahman, das Seiende hingegen das Persönliche Brahman. Ein Unterschied zwischen den beiden besteht jedoch nur für unser Bewusstsein; denn jeder unpersönliche Zustand hängt von einer offenbaren oder verborgenen Persönlichkeit ab und kann die in ihm enthaltene und von ihm verschleierte Persönlichkeit enthüllen, und jede Persönlichkeit knüpft an sich eine unpersönliche Existenz und kann in diese eintauchen. Das ist deshalb möglich, weil Persönlichkeit und Unpersönlichkeit nur unterschiedliche Zustände des Selbstbewusstseins in ein und demselben Absoluten Sein sind.

Philosophien und Religionen streiten sich über den Vorrang der verschiedenen Aspekte Gottes, und verschiedene Yogis, Rishis und Heilige haben der einen oder anderen Philosophie oder Religion den Vorzug gegeben. Es ist weder unsere Sache, über irgendeinen oder irgendeine von diesen zu debattieren, noch auf irgendeinen Aspekt unter Ausschluss der Übrigen abzuzielen; vielmehr sollten wir alle realisieren und zu allen werden und Gott in all Seinen Aspekten sowie jenseits aller Aspekte umfangen.

Gott, der in vielerlei Formen in die Welt herabgestiegen ist, hat auf dieser Erde die mentale und körperliche Form zur Vollendung gebracht, die wir Mensch nennen.

Durch das Spiel der alles regierenden Seele mit ihrem eigenen formgebenden Willen oder Shakti hat Er in der Welt einen Rhythmus des Daseins geschaffen, dessen niedrigster Ausdruck die Materie und dessen höchster das reine Sein ist. Das Mental und das Leben gründen sich auf der Materie (Manas und Prana auf Annam) und machen zusammen mit ihr die untere Hälfte der Weltexistenz aus (aparardha). Reines Bewusstsein und reine Seligkeit gehen aus dem reinen Sein hervor (Chit und Ananda aus Sat) und machen zusammen mit diesem die obere Hälfte der Weltexistenz aus. Reine Idee (Vijnana) steht als das Bindeglied zwischen beiden. Diese sieben Prinzipien oder Grundformen des Daseins bilden die Grundlage der siebenfachen Welt der Puranas (Satyaloka, Tapas, Jana, Mahar, Swar, Bhuvar und Bhur).

Die untere Hemisphäre in dieser Einteilung des Bewusstseins setzt sich aus den drei vyahrtis der Veden zusammen, Bhur, Bhuvar, Swar. Dabei handelt es sich um Zustände des Bewusstseins, in denen die Prinzipien der oberen Hemisphäre unter andersartigen Umständen zum Ausdruck gebracht werden oder versuchen, sich auszudrücken. Rein in ihrer ursprünglichen Heimat, sind sie in diesem fremden Land widernatürlichen, unreinen und gestörten Verbindungen und Wirkungsweisen unterworfen. Das endgültige Ziel des Lebens besteht darin, sich alles Widernatürlichen, Unreinen und Störenden zu entledigen und jene Prinzipien unter diesen andersartigen Umständen in vollkommener Weise auszudrücken. Unser Leben auf dieser Erde ist ein göttliches Gedicht, das wir in irdische Sprache übersetzen, oder eine Melodie, die wir in Worte übertragen.

Das Sein in Sat ist eins in der Vielfalt, ein Eines, das seine Vielfalt betrachtet, ohne davon verwirrt zu werden oder sich darin zu verlieren, und ebenso ist es eine Vielfalt, die sich eins weiß, ohne die Fähigkeit zu vielfältigem Wirken im Universum zu verlieren. Unter den Bedingungen des Mentals, des Lebens und des Körpers wird ahamkara geboren. Die subjektive oder objektive Form des Bewusstseins wird fälschlich als ein selbständiges Wesen angesehen, der Körper als eine eigenständige Wirklichkeit, das Ich als eine unabhängige Persönlichkeit. Das Eine verliert sich in uns in seiner Vielfalt, und wenn es seine Einheit wiederfindet, dann fällt es ihm wegen der Natur des Mentals schwer, das Spiel der Vielfalt beizubehalten. So geschieht es, wenn uns die Welt ganz in ihren Bann zieht, dass wir Gott an Sich verfehlen, und wenn wir Gott schauen, entgeht Er uns in der Welt. Unsere Aufgabe ist es, das mentale Ego zu zerbrechen und aufzulösen und zu unserer göttlichen Einheit zurückzukehren, ohne unsere Fähigkeit zu individueller und vielfältiger Existenz im Universum zu verlieren.

Bewusstsein in Chit ist leuchtend, frei, grenzenlos und unmittelbar wirksam. Wessen es als Chit (Jnana-Shakti) gewahr ist, das erfüllt es unfehlbar als Tapas (Kriya-Shakti); denn Jnana-Shakti ist die statische und umfassende, Kriya-Shakti die dynamische und intensive Form eines einzigen aus sich selbst leuchtenden Bewussten Seins. Sie sind ein und dieselbe Macht der bewussten Kraft Gottes (der Chit-Shakti des Sat-Purusha). In der unteren Hemisphäre, d.h. unter den Bedingungen des Mentals, des Lebens und des Körpers, wird jedoch das Licht des Bewusstseins in ungleiche Strahlen zerlegt, seine Freiheit wird durch Egoismus und unangemessene Formen behindert, seine Wirksamkeit wird durch das unausgeglichene Spiel der Kräfte verhüllt. Daraus ergeben sich Zustände von Bewusstheit, Unbewusstheit und falscher Bewusstheit, von Wissen, Unwissen und falschem Wissen, von wirksamer Kraft, Trägheit und wirkungsloser Kraft. Unsere Aufgabe ist es, durch Verzicht auf unsere geteilte und ungleiche individuelle Macht des Handelns und Denkens zugunsten der einen, ungeteilten und universellen Chit-Shakti Kalis unsere egoistische Handlungsweise durch das Wirken der universalen Kali in unserem Körper zu ersetzen und somit Blindheit, Unwissenheit und die letztlich wirkungslose menschliche Stärke gegen Wissen und die vollwirksame göttliche Kraft einzutauschen.

Freude in Ananda ist rein, unvermischt, eins und doch äußerst vielfältig. Unter den Bedingungen des Mentals, des Lebens und des Körpers wird sie zerteilt, begrenzt, verwirrt und fehlgelenkt. Außerdem bewirken die Zusammenstöße ungleicher Kräfte und die ungleichmäßige Verteilung des Ananda, dass sie der Dualität positiver und negativer Gefühlsregungen wie Kummer und Frohsinn, Schmerz und Vergnügen unterworfen wird. Unsere Aufgabe ist es, diese Dualitäten durch die Beseitigung ihrer Ursachen aufzuheben und in das Meer der göttlichen Seligkeit einzutauchen, die eins ist, mannigfaltig und gleichmäßig verteilt (sama), die sich an allem erfreut und vor nichts schmerzhaft zurückschreckt.

Kurzum, wir haben die Dualitäten durch Einheit zu ersetzen, den Egoismus durch das göttliche Bewusstsein, die Unwissenheit durch die göttliche Weisheit, das Denken durch die göttliche Erkenntnis, Schwäche, Kampf und Anstrengung durch die sich selbst genügende göttliche Kraft, Schmerz und trügerisches Vergnügen durch die göttliche Seligkeit. Dies wird in der Sprache Christi die Herabkunft des Himmelreichs auf die Erde und in moderner Sprache die Verwirklichung Gottes in der Welt genannt.

Hier auf Erden ist der Mensch die für dieses Aufwärtsstreben und seine göttliche Erfüllung vorgesehene Lebensform. Alle anderen Lebensformen brauchen es entweder nicht oder sind dazu unfähig, es sei denn, sie nähmen die menschliche Natur an. Die Besitznahme der göttlichen Fülle ist deshalb das einzige wirkliche Ziel des Menschen. Sie muss im Einzelnen vollzogen werden, damit sie in der gesamten Menschheit vollzogen werden kann.

Der Mensch ist ein mentales Wesen in einem lebenden Körper; seine Grundlage ist die Materie, sein Zentrum und Werkzeug das Mental und sein Ausdrucksmedium das Leben. Das ist die Beschaffenheit des durchschnittlichen oder natürlichen Menschen.

In jedem Menschen liegen jedoch die vier höheren Prinzipien verborgen (avyakta). Mahas, reine Idealität in Vijnana, ist kein vyahrti, sondern der Ursprung aller vyahrtis. Es ist gleichsam die Bank, von der das mentale, vitale und körperliche Handeln abheben, um deren unendlichen Reichtum gegen das Kleingeld der niederen Existenz einzutauschen. Vijnana ist das Bindeglied zwischen dem göttlichen Status und dem menschlichen Tier. Es ist deshalb für den Menschen das Tor des Entrinnens in das übernatürliche oder göttliche Menschentum.

Die tieferstehende Menschheit gravitiert vom Mental abwärts zum Leben und zum Körper. Die durchschnittliche Menschheit weilt stets in einem vom Leben und vom Körper eingeschränkten und auf diese ausgerichteten Mental. Die höhere Menschheit tendiert aufwärts entweder zu einer idealisierten Mentalität oder zur reinen Idee, zur direkten Wahrheit der Erkenntnis und zur spontanen Wahrheit des Seins. Die höchste Menschheit schwingt sich zur göttlichen Seligkeit empor, woraufhin sie entweder von dieser Ebene weiter aufsteigt zu reinem Sat und Parabrahman oder dort verweilt, um ihre niederen Glieder mit Seligkeit zu erfüllen und um dieses menschliche Dasein in sich selbst und anderen zur Göttlichkeit zu erheben.

Der Mensch, der den Schleier zerriss und in der höheren oder göttlichen und gegenwärtig verborgenen Hemisphäre seines Bewusstseins lebt, ist der wahre Übermensch und das letzte Erzeugnis jener fortschreitenden Selbstoffenbarung Gottes in der Welt oder des Geistes aus der Materie, die wir heute das Evolutionsprinzip nennen.

Sich in das göttliche Sein, die göttliche Kraft, das göttliche Licht und die göttliche Seligkeit zu erheben und das ganze weltliche Dasein in diese Form umzugießen, dies ist das höchste Anliegen der Religion und das ganze eigentliche Ziel des Yoga. Es besteht darin, Gott im Weltall zu verwirklichen, doch kann dies nicht geschehen ohne Gott zunächst außerhalb des Weltalls zu verwirklichen.