Kapitel 4
Das seelische Wesen – Zentrum der Selbst-Einung
Die Arbeit, das menschliche Wesen zu einen, besteht darin:
1. sich seines seelischen Wesens bewusst zu werden und
2. alle eigenen Regungen, Impulse, Gedanken und Willensakte, sobald man sich ihrer bewusst wird, vor das seelische Wesen hinzustellen, damit es jede dieser Regungen, Impulse, Gedanken oder Willensakte akzeptiere oder zurückweise. Jene, die es akzeptiert, werden bewahrt und durchgeführt; jene, die es zurückweist, werden aus dem Bewusstsein vertrieben, um niemals mehr zurückzukehren.
DIE MUTTER (16:412)

Wenn wir wahrhaft vorankommen und die Fähigkeit erwerben wollen, die Wahrheit unseres Wesens zu erkennen, das heißt das, wofür wir wirklich geschaffen wurden, das, was wir unsere Berufung auf Erden nennen können, müssen wir, was immer der Wahrheit unseres Daseins widerspricht, was immer im Gegensatz zu ihr steht, von uns zurückweisen oder in uns ausmerzen. Auf diese Weise können nach und nach alle Teile, alle Elemente unseres Wesens, in ein homogenes Ganzes um unser seelisches Zentrum angeordnet werden. Dieses Werk der Einung erfordert viel Zeit, bevor man einen gewissen Grad der Vollendung erlangt hat. Daher müssen wir uns für seine Durchführung mit Geduld und Ausdauer wappnen, mit einer Entschlossenheit, unser Leben so lange zu verlängern, wie es für den Erfolg unserer Bemühung notwendig ist.
Während du diese Arbeit der Läuterung und Einung aufnimmst, hast du gleichzeitig große Sorge zu tragen, den äußeren und instrumentalen Teil deines Wesens zu vervollkommnen. Wenn sich die höhere Wahrheit manifestiert, muss sie in dir ein Mental vorfinden, das beweglich und reich genug ist, der Idee, die sich auszudrücken sucht, eine Gedankenform geben zu können, welche ihre Kraft und Klarheit bewahrt. Dieser Gedanke wiederum, wenn er sich in Worte zu kleiden sucht, muss in dir eine genügende Ausdruckskraft finden, damit die Worte den Gedanken enthüllen, und ihn nicht entstellen. Und die Formel, in welcher du die Wahrheit verkörperst, sollte sich in all deinen Gefühlen ausdrücken, all deinen Willensakten, all deinen Tätigkeiten, in allen Regungen deines Wesens. Schließlich sollten diese Regungen selbst durch fortwährende Bemühung ihre höchste Vollendung erreichen.
All dies kann mit Hilfe einer vierfachen Disziplin verwirklicht werden, deren allgemeine Richtlinie hier gegeben ist. Die vier Aspekte der Disziplin schließen sich gegenseitig nicht aus und können gleichzeitig verfolgt werden; das ist sogar vorzuziehen. Der Ausgangspunkt ist, was man die seelische Disziplin nennen kann. Wir nennen das psychologische Zentrum unseres Wesens „seelisch“, es ist der Sitz der höchsten Wahrheit unseres Daseins in uns, das, was diese Wahrheit kennt und sie auslöst. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, sich seiner Gegenwart in uns bewusst zu werden, sich auf diese Gegenwart zu konzentrieren, bis sie eine lebendige Tatsache für uns wird, und wir uns damit identifizieren können.
Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wurden viele Methoden vorgeschrieben, um diese Erkenntnis zu erreichen, und letztlich diese Identifizierung zu erlangen. Einige Methoden sind psychologisch, einige religiös, einige sogar mechanisch. Tatsächlich muss jeder diejenige finden, die am besten zu ihm passt; und wenn man eine glühende und stetige Aspiration besitzt, einen beharrlichen und dynamischen Willen, kann man gewiss auf die eine oder andere Weise – äußerlich durch Lesen und Studium, innerlich durch Konzentration, Meditation, Offenbarung und Erfahrung – die Hilfe erlangen, deren man bedarf, um das Ziel zu erreichen. Nur eine Sache ist absolut unerlässlich: der Wille, zu entdecken und zu verwirklichen. Diese Entdeckung und Verwirklichung sollte das Hauptanliegen unseres Wesens sein, die Perle von hohem Wert, die wir um jeden Preis erlangen müssen. Was immer du auch tust, welcher Art auch immer deine Beschäftigungen und Tätigkeiten seien, der Wille, die Wahrheit deines Wesens zu finden und sich damit zu einen, muss hinter allem, was du tust, allem, was du fühlst und allem, was du denkst, lebendig und gegenwärtig sein.
DIE MUTTER (12:3)

Du sagst, es sei notwendig „Homogenität“ in unserem Wesen zu errichten?
Weißt du nicht, was eine homogene Sache ist, aus vielen gleichartigen Teilen zusammengesetzt? Es bedeutet, dass das ganze Wesen unter dem gleichen Einfluss steht, das gleiche Bewusstsein, die gleiche Richtlinie, den gleichen Willen haben muss. Wir bestehen aus allerlei verschiedenartigen Teilen. Sie werden einer nach dem anderen aktiv. Je nach dem Teil, der aktiv ist, ist man eine ganz andere Person, wird beinahe eine andere Persönlichkeit. Zum Beispiel, man hat zuerst eine Aspiration, man hat gespürt, dass alles nur um des Göttlichen willen existiert, dann passiert etwas, jemand kommt, man hat etwas zu tun, und alles verflüchtigt sich. Man versucht die Erfahrung zurückzurufen, doch nicht einmal die Erinnerung an die Erfahrung ist geblieben. Man ist völlig unter einen anderen Einfluss geraten, man wundert sich, wie dies geschehen konnte. Es gibt Beispiele von doppelten, dreifachen, vierfachen Persönlichkeiten in uns, die nichts voneinander wissen … Das aber meine ich nicht; was ich meine, ist etwas, das euch allen begegnet ist: Ihr hattet eine Erfahrung, und eine Zeit lang habt ihr gefühlt und verstanden, dass diese Erfahrung die einzige Sache war, etwas, das einen absoluten Wert hatte – eine halbe Stunde später versucht ihr sie euch zurückzurufen, und sie ist verschwunden, wie Rauch, der sich auflöst. Die Erfahrung ist verschwunden. Und doch, eine halbe Stunde vorher war sie noch da, und so machtvoll … Es hat seinen Grund in der Tatsache, dass man aus allen möglichen verschiedenartigen Dingen besteht. Der Körper ist wie eine Tasche voller Kieselsteine und Perlen, alle durcheinander gemischt, und allein die Tasche hält sie zusammen. Wir haben kein homogenes, einheitliches Bewusstsein, sondern ein heterogenes.
Ihr könnt eine andere Person in verschiedenen Augenblicken des Lebens sein. Ich kenne Menschen, die Entscheidungen trafen, einen starken Willen hatten, die wussten, was sie wollten und bereit waren, es zu tun. Dann fand eine kleiner Umschwung im Wesen statt; ein anderer Wesensteil trat hervor und verdarb die ganze Arbeit in zehn Minuten. Alles, was in zwei Monaten erreicht worden war, war zunichte gemacht. Wenn dann der erste Teil zurückkehrt, ist er bestürzt und sagt: „Was! …“ Dann muss die ganze Arbeit wieder von vorne beginnen, langsam. Daraus folgt, dass es sehr wichtig ist, sich des seelischen Wesens bewusst zu werden; man braucht eine Art Warnsignal oder Spiegel, in dem sich alle Dinge spiegeln und sich so zeigen, wie sie wirklich sind. Und dann, je nachdem, stellt man sie an den einen oder anderen Platz; man beginnt zu erklären, zu ordnen. Das dauert. Der gleiche Teil kehrt drei oder vier Mal zurück, und jeder Teil, der emporkommt, sagt: „Stell mich auf den ersten Platz; was die anderen tun, ist nicht wichtig, ganz und gar nicht wichtig, ich bin es, der entscheidet, denn ich bin am wichtigsten.“ Wenn ihr euch betrachtet, werdet ihr finden, dass nicht einer unter euch ist, der diese Erfahrung nicht hatte – dessen bin ich mir sicher. Ihr wollt bewusst werden, ihr seid voll guten Willens, ihr habt verstanden, eure Aspiration ist lichthaft, alles ist brillant, erleuchtet; doch plötzlich geschieht etwas, ein nutzloses Gespräch, eine unglückselige Stelle, die ihr lest, und das wirft alles über den Haufen. Dann glaubt man, dass es eine Illusion war, in der man lebte, dass alle Dinge nur unter einem bestimmten Gesichtswinkel gesehen wurden.
Das ist das Leben. Man stolpert und fällt bei der ersten Gelegenheit. Man sagt sich: „Ach, man kann nicht immer so ernsthaft sein“, und wenn der andere Teil zurückkehrt, bereut man es bitterlich: „Ich war ein Narr, ich habe meine Zeit vergeudet, jetzt muss ich wieder von vorne anfangen …“ Manchmal ist es ein Wesensteil, der schlecht gelaunt und voller Aufruhr und Sorgen ist, und dann ein anderer, der fortschrittlich ist, voller Hingabe. All das, eins nach dem anderen.
Es gibt nur einen Ausweg: dieses Warnsignal muss immer da sein, ein Spiegel in den eigenen Gefühlen, Impulsen und Wahrnehmungen. Man sieht sie in diesem Spiegel. Manche sind nicht sehr schön und angenehm zu betrachten; es gibt andere, die sind schön und angenehm, und müssen bewahrt werden. Dies tut man, wenn nötig, hundert Mal am Tag. Und es ist sehr interessant. Man zieht so etwas wie einen großen Kreis um den seelischen Spiegel und ordnet alle Elemente darum herum. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, erscheint eine Art grauer Schatten auf dem Spiegel: dieses Element muss verschoben, ausgerichtet werden. Man muss ihm zureden, es muss begreifen lernen, man muss aus dieser Finsternis herauskommen. Wenn ihr das tut, wird es euch nie langweilig werden. Wenn die Menschen nicht freundlich sind, wenn man eine Erkältung im Kopf hat, wenn man seine Aufgabe nicht weiß, und so weiter, beginnt man in diesen Spiegel zu schauen. Es ist sehr interessant, man sieht das Geschwür. „Ich dachte, ich sei aufrichtig!“ – ganz und gar nicht.
Nicht eine einzige Sache geschieht im Leben, die nicht interessant ist. Dieser Spiegel ist sehr, sehr gut gemacht. Tu das zwei Jahre lang, drei, vier Jahre, manchmal muss man es zwanzig Jahre lang tun. Dann, am Ende von einigen Jahren, schaut zurück, betrachtet das, was ihr vor drei Jahren wart: „Wie sehr ich mich verändert habe! … War ich so?“ … Es ist sehr interessant. „Ich konnte auf diese Weise sprechen? Ich konnte so reden, so denken? Ich war doch wirklich dumm! Wie ich mich verändert habe!“ Es ist sehr interessant, nicht wahr!
DIE MUTTER (5:8)
