Kapitel 4

Antaratman – Seele und Chaitya Purusha – Seelisches Wesen

Worte Sri Aurobindos

Der Jivatman, der Seelen-Funke und das seelische Wesen sind drei verschiedene Formen der gleichen Wirklichkeit und dürfen nicht miteinander verwechselt werden, da dies die Klarheit der inneren Erfahrung trüben würde.

Der Jivatman oder der Geist, wie er gewöhnlich im Englischen genannt wird, besteht selbständig über dem manifestierten oder instrumentalen Wesen – er steht über Geburt und Tod und ist immer derselbe, das individuelle Selbst oder der Atman. Er ist das ewig wahre Wesen des Individuums.

Die Seele ist ein Funke des Göttlichen und befindet sich nicht über dem manifestierten Wesen, sondern kommt in die Schöpfung herab, um deren Evolution in der stofflichen Welt zu stützen. Zu Beginn ist sie eine ungeformte Macht des göttlichen Bewusstseins, die alle Möglichkeiten enthält, die bislang noch nicht geformt wurden, denen eine Form zu geben jedoch Aufgabe der Evolution ist. Dieser Funke besteht in allen lebenden Wesen der Erde, vom niedersten bis zum höchsten.

Das seelische Wesen wird in seiner Evolution von der Seele geformt. Es stützt Mental, Vital, Körper, es wächst durch deren Erfahrungen und trägt die Natur von Leben zu Leben. Es ist der seelische oder der caitya purusha. Zu Beginn ist es von Mental, Vital und Körper verhüllt, doch in dem Maße seines Wachsens wird es fähig hervorzutreten und Mental, Leben und Körper zu beherrschen. Von diesen ist es, um sich Ausdruck zu verleihen, im gewöhnlichen Menschen abhängig, es ist nicht fähig, sie zu ergreifen und frei zu gebrauchen. Das Leben des Wesens ist tierisch oder menschlich, doch nicht göttlich. Wenn jedoch das seelische Wesen durch die Sadhana das Übergewicht gewinnen und seine Instrumente frei gebrauchen kann, wird der Impuls zum Göttlichen vorherrschend und die Umwandlung von Mental, Vital und Körper – und nicht nur ihre Befreiung – möglich.

Das Selbst oder der Atman ist frei und steht über Geburt und Tod. Die Erfahrung des Jivatman und seines Einsseins mit dem höchsten oder universalen Selbst ruft das Gefühl der Befreiung hervor, und dies ist es, was für die höchste spirituelle Erlösung notwendig ist. Doch für die Umwandlung des Daseins und der menschlichen Natur ist das Erwachen des seelischen Wesens und seine Herrschaft über die Natur unerlässlich.

Das seelische Wesen erkennt sein Einssein mit dem wahren Wesen, dem Jivatman, doch es wandelt sich nicht in diesen um.

Worte Sri Aurobindos

Der antaratman ist die Seele, jener Teil des Göttlichen, der die innerste Grundlage der sich entwickelnden Individualität ist. Sie stützt Mental, Leben und Körper, die instrumentalen Teile der menschlichen Natur, mit deren Hilfe sie versucht, aus dem stofflich Unbewussten dem göttlichen Licht und der göttlichen Unsterblichkeit, ihrem eigentlichen Wesen, entgegenzuwachsen. Die Begrenzung ihrer Instrumente zwingt sie zur Annahme der niederen Regungen und zu einem Kompromiss zwischen Seele und Natur, der jene Bewegung verzögert; sie bezieht jedoch gleichzeitig die Mittel ihres Fortschritts aus diesem Austausch. Das seelische Wesen ist die Seelen-Form oder Seelen-Personalität, die sich mit Hilfe der Evolution entwickelt und von Leben zu Leben wandert, bis alles für die höhere Evolution jenseits der Unwissenheit bereit ist.

Worte Sri Aurobindos

Unser seelischer Wesensteil stammt direkt vom Göttlichen und steht in Kontakt mit dem Göttlichen. Seinem Ursprung nach ist er ein Zentrum voller göttlicher Möglichkeiten, das diese niedere dreifache Manifestation von Mental, Leben und Körper trägt. Es gibt dieses göttliche Element in allen lebenden Wesen, doch ist es hinter dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgen, ist zunächst nicht entwickelt, und selbst wenn es entwickelt ist, tritt es nicht immer hervor. Es verleiht sich in dem Maße Ausdruck, wie es die Unvollkommenheit seiner Instrumente erlaubt, und ist an deren Mittel und Begrenzungen gebunden. Es wächst an Bewusstsein durch die auf Gott gerichtete Erfahrung und gewinnt jedes Mal Kraft, wenn eine höhere Regung in uns ist. Schließlich wird durch die Anhäufung dieser tieferen und höheren Regungen eine seelische Individualität entwickelt – das, was wir meist das seelische Wesen nennen. Das seelische Wesen ist immer die wahre, doch oft verborgene Ursache dafür, dass sich ein Mensch dem spirituellen Leben zuwendet, und ist für diesen Schritt seine größte Hilfe. Aus diesem Grund müssen wir es im Yoga aus dem Hintergrund hervortreten lassen.

Das Wort Seele und seelisch wird in der englischen Sprache sehr unbestimmt und mit ganz unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Sehr häufig wird in der gewöhnlichen Umgangssprache kein deutlicher Unterschied zwischen Mental und Seele gemacht, und ein noch ernster zu nehmendes Durcheinander entsteht dadurch, dass mit dem Wort Seele das vitale Begierdenwesen – die falsche Seele oder Begierdenseele – bezeichnet wird und nicht die wahre Seele, das seelische Wesen. Das seelische Wesen ist vom Mental oder Vital völlig verschieden. Es steht hinter ihnen, dort wo diese sich im Herzen treffen. Dies ist sein zentraler Ort, doch eher hinter dem Herzen als im Herzen. Denn was die Menschen gewöhnlich das Herz nennen, ist der Sitz des Gefühls, und menschliche Gefühle sind mental-vitale Impulse und im Allgemeinen nicht von seelischer Natur. Diese meist verborgene Macht im Hintergrund ist von Mental und Lebenskraft verschieden, sie ist die wahre Seele, das seelische Wesen in uns. Die Macht der Seele besteht darin, auf Mental, Vital und Körper einzuwirken, sie vermag das Denken, die Wahrnehmung, das Gefühl (welches dann ein seelisches Gefühl wird) sowie die Empfindung und Tat und alles Übrige in uns zu läutern und sie auf diese Weise darauf vorzubereiten, zu göttlichen Regungen zu werden.

Das seelische Wesen würde in der indischen Sprache als der Purusha im Herzen bezeichnet werden, als chaitya purusha, doch mit Herz ist das innere oder geheime Herz gemeint, hydaye guhayam, und nicht das äußere, vital-emotionale Zentrum.

Worte Sri Aurobindos

Die Seele einer Pflanze oder eines Tieres kann man nicht insgesamt als schlummernd bezeichnen – ihre Ausdrucksmittel sind lediglich weniger entwickelt als die eines menschlichen Wesens. Es gibt viel Seelisches in der Pflanze, viel Seelisches im Tier. Die Pflanze aber hat in ihrer Form nur das Vital-Physische entwickelt, daher kann sie sich nicht ausdrücken. Das Tier hat ein vitales Mental und kann sich zwar ausdrücken, doch ist sein Bewusstsein begrenzt, seine Erfahrungen sind begrenzt, und daher verfügt die Seelen-Essenz über ein weniger entwickeltes Bewusstsein, eine weniger entwickelte Erfahrung als diejenige, die im Menschen vorhanden oder zumindest möglich ist. Und dennoch haben Tiere eine Seele und können bereitwillig auf das Seelische im Menschen ansprechen.

Worte Sri Aurobindos

Die Seele ist etwas, das in die Geburt herabkommt und den Tod durchläuft – obwohl sie selbst nicht stirbt, da sie unsterblich ist – und von einem Zustand zum anderen, von der Erdebene zu anderen Ebenen und wieder zurück zum Erdendasein wandert. Sie schreitet von Leben zu Leben durch eine Evolution fort, die sie zum menschlichen Zustand emporführt und entfaltet in all dem ein Wesen ihrer selbst, das wir das seelische Wesen nennen, welches die Evolution stützt. Sie entwickelt ein physisches, vitales und mentales menschliches Bewusstsein als ihre Instrumente der Welterfahrung und eines verhüllten, unvollständigen, doch wachsenden Selbstausdrucks. All dies tut sie hinter dem Schleier und offenbart von ihrem göttlichen Selbst nur soviel, wie es die Unzulänglichkeit des instrumentalen Wesens zulässt. Es kommt jedoch eine Zeit, in der sie sich darauf vorbereiten kann, hinter dem Schleier hervorzutreten, die Führung zu übernehmen und die gesamte instrumentale Natur einer göttlichen Erfüllung zuzuwenden. Dies ist der Beginn des wahren spirituellen Lebens.

Worte Sri Aurobindos

Die Seele, das seelische Wesen, steht in unmittelbarer Berührung mit der göttlichen Wahrheit, ist im Menschen aber durch das Mental, das vitale Wesen und die physische Natur verhüllt (manas, prana, anna der Taittiriya Upanishad). Man mag den Yoga ausüben und Erleuchtungen im Mental und Verstand erlangen, man mag Macht erringen und in allen Arten von vitalen Erfahrungen schwelgen, man mag sogar erstaunliche physische Siddhis erlangen. Wenn sich aber die wahre Seelen-Macht im Hintergrund nicht offenbart, wenn die seelische Natur nicht in den Vordergrund tritt, ist nichts Wahres geschehen. In diesem Yoga ist es das seelische Wesen, welches die übrige Natur dem wahren supramentalen Licht und schließlich dem höchsten Ananda öffnet.

Worte Sri Aurobindos

Aufgabe der Seele ist es, auf jeder Ebene zu wirken und jeder dazu zu verhelfen, zur wahren Wahrheit und zur göttlichen Wirklichkeit zu erwachen.

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