Kapitel 3

Was muss getan werden?

Die Schöpfung folgt ihren Evolutionszyklen und man sagt, dass am Ende jedes Zyklus ein Pralaya stattfindet – eine Auslöschung des bestehenden Bewusstseinsgrades oder der Spezien, die dieses Bewusstsein verkörpern. Dann ist die ganze Vergangenheit getilgt, von der Oberfläche der Schöpfung weggespült, und die nächste neue Phase beginnt.

Wir alle kennen die Geschichte eines dieser Zyklen, vielmehr haben wir ihn erlebt. Ich meine den gegenwärtigen Zyklus, der, obschon vergangen und gewissermaßen tot, noch immer gegenwärtig ist. Wir wissen, dass Materie sich aus dem Äther entwickelte, aus toter Materie ging Leben hervor und aus Leben evolvierte das Mental. Dies ist uns bekannt, – obschon wir nicht genau wissen, wie Leben lebloser Materie entspringen oder das Mental in mentalloses Leben gelangen konnte, das heißt in tierisches Leben. Es gibt so viele „Wie“ und noch viel mehr mögliche und unmögliche Antworten.

Wir können sagen, vielmehr Sri Aurobindo und die Mutter sagten uns, dass es zwei Prozesse gab. Einerseits war ein Same des nächsten Bewusstseinszustandes von Anfang an im jetzigen enthalten, er lag sozusagen schlafend. Andererseits kam von oben, aus der Umgebung oder von irgendwo her ein Blitz oder eine Kraft desselben neu entstehenden Bewusstseins in die Atmosphäre herab, unter deren Druck der schlafende Same erwachte und aufstieg, um sein anderes Selbst oben zu treffen. Beide schufen eine neue Entwicklungslinie.

So entsprang aus der Materie das Leben, aus dem Belebten das Mental, – und der Mensch war geboren. Ja, der Mensch ist bis jetzt der höchste Gipfel der irdischen Evolution. In ihm scheint das Mental oder das mentale Bewusstsein seine größtmögliche Höhe erreicht zu haben. Aber der Mensch ist noch nicht vollständig ein mentales Wesen, er ist eher ein mentales Tier. Das Mental ist noch nicht der Meister seines Adhara, Gefäßes. Der wahre Meister, der die mentalen Fähigkeiten beherrscht und handhabt, ist das Lebensprinzip, das Tier in ihm, sein vitales Wesen, welches wiederum ein Sklave seiner undurchsichtigen, rohen Materie ist. Daher ist der Mensch trotz all seiner mentalen Brillanz eine gefährliche Kreatur, – gefährlich, weil sein Vital ihn zur Zerstörung seines eigenen Selbst und seiner gesamten Umgebung verleitet. Der Mensch ist ein seltsames Experiment der Natur.

So verläuft bis jetzt das Wachstum oder der Fortschritt in der Evolution von größerer zu geringerer Dunkelheit, von größerer zu geringerer Ignoranz, von größerem zu geringerem Leid, obschon etwas anderes, dessen eigentliche Essenz Freude, Bewusstsein und reines Sein ist, den Prozess die ganze Zeit aus dem Hintergrund unterstützt und genährt hat. Es gab Blitze herrlicher Erleuchtung, Aufwallungen – obgleich vorübergehend – von strahlender Freude und Harmonie, große Überflutungen von überwältigender Kraft und Kreativität. Aber alles in allem war es als Schöpfung oder Existenzform weit von makelloser Vollkommenheit entfernt. Selbst der Mensch wird sich nie träumen lassen, dass er der höchste Gipfel des Entwicklungsweges sei. Soweit nun, was kommt als Nächstes?

Der nächste Schritt sollte logischerweise über das Mental hinausgehen. Es sollte eine Schöpfung sein, die auf etwas Besserem und Größerem basiert. Sri Aurobindo hat uns angekündigt, dass es ein neuer auf Wahrheit basierender Evolutionszyklus sein wird – ein Wachsen in Wahrheit, ein Fortschreiten zu immer größerer Wahrheit, von Licht zu größerem Licht und von Freude zu größerer Freude.

Zunächst musste das neue Wahrheits-Bewusstsein – Sri Aurobindo nannte es Supramental – in die Erdatmosphäre gebracht werden, damit es die tief in der Schöpfung verborgen liegende innerste Wahrheit erwecken konnte. Und um dieses Werk zu vollbringen, kamen Sri Aurobindo und die Mutter in menschlicher Form auf die Erde. Sie repräsentierten so nicht nur die Menschheit mit allen ihren menschlichen Bewusstseinselementen, sondern ebenso die ganze in ihr angelegte Erd-Natur. Sie hielten sich für die Erde und Menschheit bereit, das zu empfangen, was herabkommen sollte. Sie riefen es herab, etablierten es in dieser Atmosphäre und zogen sich zurück, denn das Werk, für das sie die materielle Form angenommen hatten, war getan.

Ja, die Mission war erfüllt. Nun wird das neue Bewusstsein sich ausbreiten und seinen Platz finden. Es ist das Wahrheits-Bewusstsein. Schon allein durch seine Gegenwart stört es zwangsläufig den Rhythmus von Unwissenheit und Falschheit. Es zerbricht und vernichtet die der Wahrheit entgegenstehenden Formationen, zerstört alles, was ihr trotzt und unvereinbar mit ihr ist. Dies ist das unvermeidliche Resultat.

Mutter und Sri Aurobindo taten in ihrem unendlichen Mitgefühl, dessen nur das Göttliche fähig ist, noch mehr: Sie kannten die letzte unvermeidliche Wirkung der Wahrheit auf die Unwahrheit. Darum streckten sie ihre liebenden Arme aus, um die unwissenden Kinder vor diesem Schicksal der Vernichtung zu retten. Sie wollten für sie direkt unter den Flügeln der Wahrheit einen sicheren Ort erschaffen, in der Hoffnung, dass sie den Schutz annehmen würden. Und um mit diesem göttlichen Einsatz den Menschen zu dienen und ihnen zu helfen, begleiteten einige wenige Seelen sie.

Mutter und Sri Aurobindo boten ihre physische Form und Gegenwart als Leiter an, um hoch zu klettern – nein, um hoch getragen zu werden. Sie gestalteten die Dinge so, dass menschliche Wesen zu übermenschlichen spirituellen Wesen heranwachsen und ihr unwissendes menschliches Bewusstsein abschütteln konnten, so wie der Schmetterling seinen Kokon abstreift. Aber leider scheiterte der Mensch. Vielleicht war ihm die neue Bestimmung zu fremd, das Licht für seine so lange an Dunkelheit gewöhnten Augen zu überwältigend. Vielleicht gab es tiefere schicksalhafte Bedürfnisse und geheime Gründe. Aber der Mensch scheiterte, verweigerte die Hilfe und rebellierte. Wie die Asuras der alten Überlieferungen wollte der Mensch das neue Bewusstsein für seine menschlichen Ziele nutzen; sein menschliches Selbst weigerte sich, der Göttlichen Wahrheit zu gehorchen. So schlug der Mensch das Angebot aus.

Die Zeit war vorbei. Sri Aurobindo und Mutter verließen ihre Körper; aber sie ließen die Erde nicht allein. Ihre Gegenwart ist immer noch hier und unterstützt und nährt uns alle. Aber sie unterstützt uns, damit wir noch an der Wahrheit festhalten, ihr noch dienen können. Ihre Liebe und Gegenwart umgeben und helfen uns immer noch. Und alles, was sie tun, tun sie für unser wirkliches Wohlergehen, für die Rettung unserer Seelen. Mutters Arme tragen, wie sie es immer getan haben, diejenigen voran, die für die Seele leben.

Aber es gibt noch einen Unterschied.

Wir sprachen vom Pralaya, der Auslöschung. Wenn ihr euch umschaut, wird euch klar, dass sie begonnen hat. Das neue Bewusstsein wirkt, und wie vorhergesagt, hat sich die erste Phase seiner Wirkung als eine gründliche Vernichtung aller Hindernisse erwiesen. Die ganze Welt scheint in Aufruhr, alle etablierten Normen zerfallen. Regierungen entstehen und gehen unter, Falschheit und Korruption fressen die Grundlagen unseres Daseins auf. Der Mensch ist von teuflischen Motiven und Wünschen besessen und geleitet und treibt die ganze Erde in eine totale Vernichtung.

Was geschieht mit der Seele des Menschen? Was ist diese Seele? Sie ist ein Funke der Göttlichen Sonne; sie kommt nicht zu ihrem eigenen Vorteil herab, sondern um die Dunkelheit hier unten zu erleuchten und in das ursprüngliche Licht zu befreien. Seelen kommen herab, sie nehmen diese Unwissenheit und Unbewusstheit hier als Behausung oder Gewand an und reinigen und erleuchten sie so weit wie möglich. Dann ziehen sie sich für eine Weile zurück, um das Werk später weiterzuführen. Wenn das Pralaya sich ereignet, kehren sie zu ihrem eigenen Heim in Mutters Bewusstsein zurück. Es ist ein wunderbares Mysterium des Abenteuers der Liebe.

Auch heute ziehen sich Seelen zurück; sie sind nicht verloren. Sogar wenn die jetzige Erde zerstört ist, sind die Seelen sicher in Mutters Bewusstsein geborgen, und vielleicht befinden sich jene Teile des irdischen Bewusstseins bei ihnen, die umgewandelt und bewusst, rein und bereitet sind. Deshalb ist das Werk noch nicht beendet; man kann noch etwas retten.

Ist Pralaya oder Zerstörung einmal vorbei, – sie ist eine Notwendigkeit und muss geschehen, – dann müssen sozusagen die Trümmer weggeräumt werden. Diese beiden Werke gehören zusammen. Wenn alles aufgeräumt ist, wird die neue Schöpfung, der neue Zyklus beginnen. Während dieser vorbereitenden Phase wird im menschlichen Sinne dem Menschen und der Erde vieles verlorengehen. Auch der Ashram, der ein Inbegriff der Erde ist, kann nicht entkommen. Vielmehr kann hier der Prozess höchst heftig und akut verlaufen. Darum müssen wir das Unvermeidliche akzeptieren und auf das Kommende warten.

Sollen wir aber untätig in mutlosem Trübsinn warten? Nein, jene, die nach etwas Besserem streben, können trotzdem bei der Bewegung mitwirken und ihre Mithilfe und ihren Dienst für den Neubeginn anbieten. Der Mensch kann immer noch handeln. Denn jeder individuelle Mensch ist ein Konzentrationspunkt des gesamten Erdbewusstseins. Wenn er in seinem eigenen Bewusstsein einen Fortschritt macht, sich selbst ein bisschen mehr erhebt und in einen höheren Bewusstseinsgrad hineinwächst, ist es ein Gewinn. Aber er wird dabei viel größere Schwierigkeiten haben als vorher. Jetzt ist eine viel intensivere Tapasya dafür notwendig, denn solange Mutter in ihrem Körper war, hatte sie für uns die Dinge leicht gemacht. Aber es ist nicht mehr so.

Diejenigen, die wirklich ein spirituelles Bewusstsein und eine spirituelle Lebensweise anstreben und sich für größere Ziele vorbereiten wollen, müssen die Dinge ernsthaft betrachten. Für sie ist es eine Sadhana, eine wirkliche Aufgabe und bewusste Vorbereitung. Es ist besser für sie, all die großen Worte zu vergessen – die großen Worte wie Supramental, Obermental, Höheres Mental usw. Wir haben nicht mehr das Recht über sie zu diskutieren oder zu parlieren. Sie sind Träume, schöne Träume, aber außerhalb unserer Reichweite. Sie gehören zu Mutter und Sri Aurobindo. Sri Aurobindo hat selbst gesagt:

In Silberluft habe ich meine Träume gesammelt

Zwischen dem Gold und dem Blau

Und sie weich eingehüllt und dort gelassen,

Meine Juwelenträume von dir.

„Eines Gottes Arbeit“

Sri Aurobindo hat diese Träume mit der Mutter zusammen gewebt und sie haben sie achtsam und sicher in sich selbst verwahrt. Im Obermental sind sie aufbewahrt. Es ist ihre Arbeit, ihre Angelegenheit, wir haben nichts damit zu tun. Jene Träume hat Mutter in ihrer eigenen Brust gehütet und sie werden sich zu ihrer Zeit und in ihrem eigenen Rhythmus materialisieren.

Ja, wir brauchen uns nicht darum zu kümmern. Lasst uns lieber auf uns selbst schauen und ehrlich zugeben, dass wir in unserer Natur und unserem Bewusstsein, unserem Lebensstil Tiere, nein, unangenehme Rohlinge sind. Wir stehen auf der untersten Stufe der Bewusstseinsleiter und müssen mit unserer Arbeit von dort aus, von ganz unten aus beginnen. Es ist das allerstofflichste Bewusstsein. In der Abwesenheit von Mutters physischem Körper sind wir geradewegs in den Sumpf gefallen, in den Morast der groben physischen Existenz. Deshalb müssen wir die Arbeit der Reinigung von jener Stufe aus beginnen, vom mit dem Körper identifizierten Bewusstsein aus. Wir müssen versuchen, den Körper und das Vital zu reinigen. Das Mental? Oh, das Mental auch; die höheren Ebenen des Mentals, das Mental an sich, sind zu hoch für uns. Erst sehr viel später können wir daran denken.

Was die Art und Weise der Reinigung betrifft, sollten wir von Anfang an beginnen. Die allerersten Übungen sollen, wie im Raja-Yoga empfohlen, direkt beim Körper ansetzen, den physischen Teil von uns trainieren und erziehen, verwandeln und umformen. Wir müssen wie ein Kind lernen: „Kämpfe nicht“, „Sprich keine bösen Worte“, „Stehle nicht“, „Lüge nicht“ usw. In den alten Methoden spiritueller Disziplin bildeten diese Dinge den elementaren und grundlegenden Teil, – im Raja-Yoga werden sie Yama und Niyama (ahimsā, asteya etc.) genannt. Die Buddhisten begannen ihr spirituelles Training ebenfalls mit den gleichen Lektionen, sie nannten sie Panchashilas: gutes Verhalten (vinaya), usw. Das Sich-Zurückziehen (pratyāhāra), Meditation und Konzentration kamen viel später, wenn man große Fortschritte gemacht hatte. Samadhi konnte man erst danach erreichen. Wenn man in alten Tagen ein spirituelles Leben beginnen, sogar wenn man nur die Schriften studieren wollte, musste man aus diesem Grund zuerst die Berechtigung dazu erlangen. Man musste citta-shuddhi durchführen und die Reinigung seines Bewusstsein vervollständigen.

Als Mutter körperlich anwesend war, sagte sie immer: „Durch diese elementare Tapasya brauchst du nicht zu gehen, mit meiner Unterstützung kannst du einen Sprung machen und wachsen.“ Mutter bot sich uns als Sprungbrett an, damit wir hochspringen konnten. Aber wir haben keinen Nutzen daraus gezogen; wir haben einfach so weitergemacht. Mutter wurde nur von Schlägen getroffen, und wir kamen nirgendwo hin, wenigstens auf keine höhere Stufe.

Aber der Hass der Hölle und menschliche Bosheit

Sind mein Lohn, seit die Welt begann.

„Eines Gottes Arbeit“

Auch dieses Mal wurde sie nicht verschont. Wir sind kaum über uns hinausgewachsen, – unsere Stürze waren viel zahlreicher als unsere Fortschritte. Wir haben diese goldene Chance vertan. Deshalb müssen wir, die wir wirklich inneren Fortschritt und inneres Wachstum wollen, von Anfang an beginnen.

Natürlich gibt es viele, die auf der mentalen Ebene leben und bleiben wollen; sie sind noch nicht für mehr bereit oder geeignet. Für sie liegt die höchstmögliche Entwicklung in intellektueller Spekulation oder philosophischer Beschäftigung. Das ist ihr Ideal und Ziel und das Höchste, was sie erreichen können. Ihnen mag es helfen, mit mentalen Diskussionen beschäftigt zu sein. Auf diese Weise können sie mit Hilfe des Intellekts eine Art irdische mentale Atmosphäre, eine spirituelle Reflexion im Verstand erzeugen. Auch das ist gut. In der äußeren Welt, besonders in Europa und Amerika, wo das moderne Leben und Bewusstsein sich im Intellekt zentriert und das intellektuelle Licht das einzige Licht und der konkurrenzlose Herr des Lebens ist, nun, mögen sie diskutieren und spekulieren. Sie werden zumindest ein wenig mentales Wissen erlangen, ein bisschen ihren Intellekt reinigen und klären.

Aber für jene, die danach streben, nicht nur ihr Mental zu erziehen und zu schärfen, sondern auch ihr Bewusstsein zu erhöhen und zu transformieren, ist heute eine Tapasya notwendig, eine intensive Konzentration all ihrer Kraft und ihres Willens auf das eine Streben und die eine mühevolle Aufgabe. Für sie ist das Vordringlichste die Selbstreinigung – die Reinigung des Körpers und Vitals, die Umorientierung und Umorganisierung der ganzen niederen Bewusstseinsbasis mit ihren physischen und insbesondere ihren niederen vitalen Bereichen. Diejenigen, die Spiritualität im praktischen Leben erstreben, müssen bis auf den Grund gehen und diese Reinigung durchführen.

Und die Zukunft? Die Zukunft wovon? Die Zukunft der individuellen Seele liegt in Mutters Armen. Und die Zukunft der Schöpfung ist eine neue göttliche Morgendämmerung; sie ist fertig und absolut bereit, sich in der Materie zu manifestieren. Sie wartet, ihr Kommen ist unabwendbar, keine Macht kann sie aufhalten. Sie wartet im Subtil-Physischen auf die Klärung der irdischen Bühne. Der immerwährende Traum von der ewigen Morgendämmerung, von der die alten Weisen sangen, wird verwirklicht werden:

 

 

Oh, das Höchste Licht der Lichter ist gekommen.

Rig Veda 1.113.1

Aber wird es dann jemanden geben, der in dem Augenblick die Anrufung anstimmt? Lasst es uns hoffen. Nichts ist unmöglich.

12. Januar 1982

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